Читать книгу Almas Rom - Patrizia Parolini - Страница 24
ОглавлениеXIX
«Ich mag nicht mehr!», maulte Pietro und liess sich zu Boden fallen.
Irene, die seine Hand hielt, riss er mit, und sie hätte beinahe das Gleichgewicht verloren. «Aò, was soll das?»
Es war Abend, und sie kamen von der Piazza Santa Maria Maggiore zurück. Dort hatten die Devotionalienhändler ihre Madonnen- und Heiligenbildchen, die Kruzifixe und Rosenkränze, die sie Pilgern und Reisenden feilboten, zusammengepackt, und die Bildertrödler ihre Landschaftsaquarelle und Kupferstiche auf ihren Karren verstaut. Geblieben waren die Schuhputzer mit ihren Holzkästen und die ciociari hinter ihren lottrigen Röstöfen.
Alma mochte den rauchigen Duft der caldarroste, der in der Luft hing.
«Ich hab Hunger, und es ist noch so weit!», schimpfte Pietro, und auch Folco begann zu jammern: «Ich mag auch nicht mehr, trag mich! Bitte!»
«Aò! Spinnt ihr? Steh sofort auf, Pietro!», befahl Alma bestimmt. «Die wenigen Meter! Gerade noch seid ihr herumgerannt wie eine Fussballmannschaft! Forza – los, hopp!»
«Mannaggia, komm jetzt!», ahmte Irene Alma nach und zog Pietro am Arm hoch.
Dieser setzte eine wehleidige Miene auf und verfiel in einen marionettenhaften Gang.
Alma hob genervt die Augenbrauen. Sie steuerte auf das Schaufenster des Kleidergeschäfts gegenüber der Basilika zu, die Kleinen schauten sich nach den Kutschen um und traten mit den Schuhen gegen die Pferdeäpfel, die auf der Strasse zurückgeblieben waren. Der tabaccaio stand im Türrahmen seines Tabakladens, umringt von Zigaretten rauchenden Herren. Aus dem Coiffeursalon daneben kam eine Dame, umhüllt von einer Wolke würzigen Parfums. Arbeiter in durchgeschwitzten Hemden kletterten aus einem Strassengraben, wo sie Rohre verlegt hatten, einige Arbeiterinnen in abgetragenen Arbeitsröcken stiegen von einem hölzernen Gerüst, und Fabrikarbeiter mit Stoffbündeln über den Schultern überquerten schweren Schrittes die Piazza. Mit diesen staubbedeckten, hungrigen Heimkehrern machten die Schuhputzer und die ciociari einen nicht unbedeutenden Teil ihres Tagesgeschäfts.
Eine Tramway fuhr ächzend an ihnen vorbei, als Pietro plötzlich schrie: «Ein Automobil, ein Automobil! Schaut! Da kommt es!»
Auf einen Schlag war die Müdigkeit der Kleinen verflogen. Aufgeregt und mit leuchtenden Augen zeigten sie auf das schwarz glänzende Fahrzeug mit den Luftreifenrädern, den Laternenscheinwerfern und der Fahrerkabine mit dem Steuerrad. Es fuhr mit lärmigem Knattern die Via Giovanni Lanza hinauf, die von der Via Cavour zum Largo Brancaccio führte. Das Automobil hielt, der Fahrer stieg aus, öffnete die hintere Türe und half dem alten principe aus dem Fond. Der stützte sich mit der behandschuhten Hand auf einen Spazierstock, machte einen unsicheren Schritt auf das Trittbrett, einen weiteren auf den Boden.
Pietro und Folco starrten gebannt zu ihm. Giacomo klammerte sich an Almas Rock. Alma konnte sich noch an Missis Field erinnern, die Ehefrau des principe, die vor wenigen Jahren gestorben war. Sie hatte sie regelmässig in das Automobil steigen und wegfahren sehen. Man hatte erzählt, dass sie sich zum Corso und in die Via del Tritone fahren liess. Dort, beim angesagtesten Schneider der Stadt, habe sie ihre Garderobe anfertigen lassen, und nur in den teuersten Läden habe sie ihren extravaganten Schmuck eingekauft. Nicht nur der kurze Treppenaufgang zum säulenumrahmten Hauptportal des Palazzo Brancaccio war ihre Bühne gewesen. Regelmässig hatte sie in den angeblich prächtigen Sälen des Palazzo grandiose Empfänge gegeben. Dann waren die Damen und Herren der Aristokratie in Heerscharen in die Via Merulana geströmt. Missis Field kam aus Amerika, was sie jedem erzählte, der ihr begegnete, und ihr überschwängliches «Hellou» hatte selbst dann noch durch die Strasse geklungen, als ihre Kräfte mit dem Fortgang ihrer Krankheit sichtbar und rasch nachgelassen hatten.
Der principe verschwand in der Eingangshalle, die Bediensteten entluden das Fahrzeug.
«Wisst ihr, dass die Frau des Prinzen aus Amerika kam? Aus New York?» Alma hatte den Globus im salottino studiert und darauf die Geburtsstadt der principessa gefunden.
«Ah!», staunte Folco.
«Ja klar, weiss ich das! Aber wo ist Amerika?», wollte Pietro wissen.
«Das ist auf der anderen Seite des Ozeans», erklärte Giacomo.
«Ja, richtig, Giacomo. Und man kommt nur mit dem Schiff dorthin und ist mindestens drei Wochen unterwegs», fügte Alma bei.
«Mit einem grossen Schiff?», fragte Folco mit glänzenden Augen. «So gross wie dieses Haus?»
«Ja, mindestens!»
«Dorthin möchte ich gehen!», erklärte Pietro bestimmt.
«Aber die Leute sprechen Englisch dort, da wirst du nichts verstehen, gar nichts!»
«Dann lerne ich eben Englisch! Na also, wenn ich gross bin, fahre ich nach Nujork!», rief er laut und hob die Arme gegen den Himmel, um zu zeigen, wie gross er sein würde, wenn er nach Amerika reiste.
«Ich will auch mit dem Schiff fahren, ich bin dann der Kapitän!», ereiferte sich Folco.
«Toll!», fand Irene spöttisch, und Alma zerzauste dem jüngsten Bruder den dunkelblonden Haarschopf.
Giacomo meinte trocken, er würde bleiben, damit Mutter nicht allein wäre, wenn alle weggingen. Pietro rüttelte an den Stäben des schmiedeeisernen Tors zwischen dem Palazzo und dem monte, der Lehmaufschüttung entlang der Via Mecenate, hinter dem sich die ausgedehnte Gartenanlage erstreckte. Am Zaun rankte Jasmin. Die weissen Blüten verströmten einen aufdringlich süssen Duft. Fiori d’angelo – Engelsblumen. Auf dem monte wuchsen buschige Silberpappeln, dahinter schossen säulenförmige, schwarzgrüne Zypressen und hohe pini marittimi – Meerkiefern – mit ihren eiförmigen Nadelwolken in die Höhe. Von aussen konnte man vor lauter Grün nichts erkennen.
«Seid einmal still, und spitzt die Ohren!»
Die Kleinen drückten die Ohren zwischen die Eisenstäbe.
«Hört ihr das Plätschern des Wassers?»
«Jaa!»
«Da drinnen ist ein Springbrunnen.»
«Warum können wir nicht hineingehen?», fragte Folco.
«Ja, und auch ein Jagdhaus. Das weiss ich schon lang. Das habe ich vom Dach unseres Hauses aus gesehen!», brummte Pietro und rannte davon zum Eingang der Bar.
Strassenkehrer fegten den Gehsteig zwischen den jungen, von Holzpfählen gestützten Platanen. Auf dem Platz vor der Bar verkaufte sor Augusto die Abendzeitungen. Er war aufgebracht. Offenbar hatten es die frecheren der Quartierkinder wieder einmal zu bunt getrieben mit ihm. Keine dummen Bemerkungen heute, dachte Alma erleichtert und wollte schon an ihm vorbeigehen, als er ihr zurief. Sie winkte ab, doch er hielt ihr etwas hin.
«Für das Fräulein, vom Geliebten!», bemerkte er ungehalten, und sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss.
Alma schnappte sich den Zettel, wandte sich rasch ab und folgte den Kleinen in die Bar. Rauch und Erregung nahmen ihr den Atem. An den Holztischen hockten Männer mit Wein- und Schnapsgläsern vor sich. Die einen kauten Tabak, die anderen hielten eine Zigarette zwischen den Fingern. Einige lehnten am Tresen. An der Holzwand dahinter hing ein goldgerahmter Spiegel.
Hinter dem Tresen stand einer der Kellner mit einer weissen Serviette über dem Unterarm. Links von ihm war die Kasse mit den grossen Knöpfen und Tasten, rechts die Tür zum Laden. Energisch schob er die Kinder in Richtung Bäckerei. Eigentlich waren Bar und forno tabu für sie, doch das kümmerte sie wenig.
Alma fühlte das Papier in ihrer Hand. Was war das? Von Antonio ? Sie musste es wissen, bevor Mutter sie sah. Sie faltete den Zettel mit zittrigen Fingern auseinander. «Morgen. Siebzehn Uhr. Bei den Trajansthermen. Kommst du?», las sie. Darunter in Grossbuchstaben «Antonio». Ihr wurde heiss. Sie liess den Zettel in ihrer Rocktasche verschwinden. Wie sollte sie das bloss anstellen? Wenn nur sor Augusto sein Maul hielt!
Der Laden war voller Kunden. Lärm und ein strenger Geruch nach Schweiss, Rauch und Brot schwappten ihr entgegen.
Mutter dirigierte die Kleinen zum Laden hinaus. «Geht hinauf, Attilio hat ein neues Heft von Senza Famiglia.»
Giacomo und Pietro machten Luftsprünge und verschwanden sofort, sie liebten die Abenteuergeschichten von Malot.
Folco verzog das Gesicht. «Ich will aber Bilbolbul hören!»
«Dann frag Irene. Vielleicht liest sie dir aus dem Corriere dei Piccoli vor.»
«Mannaggia, nicht schon wieder das Negerlein!», wehrte Irene ab und äffte mit den Händen nach, wie Bilbolbul die Augen aus den Augenhöhlen heraus- und zurückspickten.
«Alma, kommst du?», rief Mutter.
Clemente zerrte einen schweren, braunen Sack voll Reis zur Theke, wo bereits der mit Pasta gefüllte Sack stand.
Alma seufzte, anstatt Getreide und Teigwaren abzufüllen, hätte sie jetzt viel lieber Rachele aufgesucht oder sich in ihr Zimmer verkrochen, um von dem jungen Mann mit dem Strohhut und den dunklen Augen zu träumen. Bis sie sich beruhigt hätte. Dann würde auch sie sich in das Buch vertiefen, das sie gerade am Lesen war, einen Liebesroman aus der Buchreihe für junge Fräulein. Und, kam ihr in den Sinn, sie hatte die neue Folge des Fortsetzungsromans auf Seite drei der Tageszeitung noch nicht gelesen.
Clemente schleppte einen Kanister Olivenöl herbei, stellte ihn ab und verschnaufte. Mutter bediente, Tiziano sass an der Kasse.
Alma schaute zur Kundin, die sich an die Ladentheke drängte. Sie schien ihr Meilen entfernt. Dann gab sie sich einen Ruck und fragte mit höflicher Miene, was sie wünsche.
Auf einmal entdeckte Alma Angela, die an der Tür stand und wild gestikulierte. Ihre schräg stehenden, dunklen Augen blickten unternehmungslustig, die schwarzen Haarlocken schaukelten in alle Richtungen. Almas Gesichtszüge hellten sich auf.
«Alma, komm schon!», rief sie aufgeregt.
«Ich kann jetzt nicht», bedeutete ihr Alma.
«Ich bin mit dem Fahrrad da!»
«Mit der bicicletta von signorina Balducci?» Alma schmunzelte.
Die signorina Balducci war eine gepflegte ältere Dame, die allein an der Via di Olmata, einer kurzen Gasse gegenüber von Santa Maria Maggiore, wohnte, im gleichen Wohnblock wie Angela. Man erzählte sich, dass sie früher einmal eine attraktive Frau gewesen und täglich auf dem Fahrrad mit wehenden Röcken und unter dem Kinn fest gebundenem Hut zur Arbeit auf der Zentralpost an der Piazza San Silvestro gefahren sei. Seit sie nicht mehr arbeitstätig war, hatte man sie manchmal mit Freundinnen in die Campagna ausfahren sehen. Aber eines Tages war sie gestürzt und hatte sich ein Bein gebrochen. Seither hinkte sie mit dem Gehstock durch die Strasse, und das Zweirad stand unbenutzt im schmutzigen Innenhof des Wohnhauses. Es war, als habe der Unfall auch ihre Seele geknickt, denn sie war alt und müde geworden. Angela bewunderte die einst so temperamentvolle Frau und hatte sich anerboten, für sie die Besorgungen in der Stadt zu machen. Dafür hatte signorina Balducci ihr erlaubt, das Fahrrad zu benutzen. Nun stand es vor dem forno an die Wand gelehnt. Grasgrün, mit tiefem Einstieg und sandfarbenem Schriftzug.
«Dai, komm schon. Setz dich auch wieder einmal drauf!»
Es war nicht das erste Mal, dass Angela mit dem Fahrrad von signorina Balducci aufkreuzte, um auch Alma fahren zu lassen.
«Heute nicht!»
«Alma, du solltest öfter üben! Sei nicht immer so übertrieben vorsichtig!» Angela stemmte ihre Fäuste in die Hüfte.
«Schau, der Laden ist voll, heute geht es wirklich nicht! Aber hör mal, tust du mir einen Gefallen?» Alma hatte einen Geistesblitz. «Kommst du morgen nochmals? Etwas vor siebzehn Uhr? Bitte!», bat sie eindringlich.
Angela sah die Röte in Almas Gesicht und packte sie an den Schultern. «Ja klar, wenn du mir sagst, wer der Auserwählte ist?»
«Das erzähle ich dir morgen. Ciao, ich muss jetzt! Komm und hol dein Brot!»
Aufgeregt kehrte Alma hinter die Ladentheke zurück, wickelte ein kleines Weissbrot in Angelas Einkaufsbündel und schob die Freundin hastig zur Kasse. Diese bezahlte achtunddreissig centesimi und blickte augenzwinkernd zur Freundin zurück.
Alma sah die sportliche Gestalt mit den wilden schwarzen Locken, die sich selbstbewusst auf das grasgrüne Fahrrad setzte und davonpedalte. Alma schaute weder nach links noch nach rechts, um sich nichts anmerken zu lassen, tat einen tiefen Atemzug und spürte, wie ihr Blut schnell pulsierte. Sie war zugleich glücklich und verwirrt.
In dieser Nacht konnte sie fast nicht schlafen.