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Ortschaften sind wie Menschen, sie werden geboren, wachsen, strotzen vor Kraft, verfallen und gehen unter. S. erlebte nun zum zweiten Mal in der langen Geschichte einer Königsstadt einen allgemeinen Aufschwung, den jedoch nicht jeder Bürger begrüßte. Vielen reichte vollkommen, was sie überlebt hatten: die Vertreibung der Tschechen und Juden durch die Deutschen, die Rückkehr der Tschechen, die Vertreibung der Deutschen durch die Tschechen und das Fortbleiben der Juden, die Ankunft der Russen und ihren Fortgang. Den Zuzug weiterer Sprachen und Rassen, die hier nicht verwurzelt waren, verstand man an der Jahrtausendwende zuerst als vorübergehende Erscheinung. Als die Zeit zeigte, dass damit schleichend eine neue Umsiedlung der Stämme eingesetzt hatte, war es für eine erfolgreiche Gegenwehr zu spät.

Die Schöne Frau ertrug die Nichtanpassungswilligen leicht, denn durch die Straße wehte zumeist Wind aus Süden, der die Klänge der fremden Kulturen zum Fluss F. trug, der sie nach Deutschland spülte. Die Ukrainer störten sie nicht, denn im Stadtbus, der an der Ecke des kleinen Platzes hielt, standen sie artig an den Plätzen für Alte und Kranke und sprachen zudem eine Sprache, die hier nicht ganz fremd war, doch in der sie den Ortsansässigen nicht widersprechen konnten. Die seltsamen Speisen des Bosniers in der ehemaligen Apotheke kostete sie nicht, er hingegen grüßte sie trotzdem freundlich in einem gebrochenen Tschechisch. Am meisten spürte die Schöne Frau den Übergang des Kolonialwarengeschäfts in die Hand der kleinen Menschen, die wie Vögel redeten und die sie außerdem nicht unterscheiden konnte.

In den kleinen Laden, in dem sie in den Jahren, in denen sie dort ihre Einkäufe getätigt hatte, fast mit schlafwandlerischer Sicherheit den Platz jeder Mohrrübe kannte, setzte sie nie mehr ihren Fuß. Mit der Zeit gewöhnte sie sich daran, montags und freitags auf den großen Markt von S. zu fahren, wo das Einkaufszentrum zwar ständig den Ketten-Namen wechselte, sie aber dort immer bekam, was sie wollte, besser und billiger als früher in ihrem Viertel. Außerdem, wenn sie etwas vergessen hatte oder nicht kochen wollte, blieb ihr auch noch das gegenüberliegende Gasthaus, dessen Eingang eine uralte Markise mit der Aufschrift U Malešíka zierte.

Der erste Malešík hatte sich hier im ehemaligen Ausflugsrestaurant hinter der Stadt niedergelassen, kurz vor den Eltern der Schönen Frau. Bei ihm hatten sie zusammen mit dem Architekten über den Plänen des künftigen Hauses gesessen, der hatte ihr Lutscher geschenkt, wenn dort im Garten unter den Kastanien das sonntägliche Mittagessen endete, bei dem die deutsch-tschechisch-jüdischen Honoratioren sich grüßten. Der zweite Malešík kam nach dem Krieg zusammen mit ihrem Vater gleich nach den Panzern der russischen Befreier, um die Aufschrift Gasthaus Priebe zu beseitigen und das versteckte Schild wieder aufzuhängen; dreiundzwanzig Jahre später drohte er dann zusammen mit ihrem Vater und ihrem Mann stumm ganz ähnlichen Panzern, die die Schuld daran trugen, dass sie eine Fehlgeburt erlitt. Der Enkel Malešík ersetzte das hässliche Schild Speisekooperative durch das ursprüngliche und bestrafte in seiner Enttäuschung über die Samtene Revolution die Kommunisten gleich selbst: Er schenkte an sie nichts aus. Die Stadt lachte. Als er dann auch die Roma nicht bedienen wollte, bezog er von ihnen Kloppe und von der Stadt einen Bußgeldbescheid.

Nachdem er auch in letzter Instanz verloren hatte, machte er zu. Das Schild über dem Eingang jedoch ließ er hängen, dieses wurde für die belesene Schöne Frau zu jener Glühbirne aus Čapeks Stück über die Roboter, die das Licht der Hoffnung aufrecht erhält. Diese Hoffnungen wurden auch von Nachrichten genährt, die per Mundpropaganda vom Gastwirt eingingen, wenn er sich entschließen würde, anderswo zu beginnen, werde er das Familienunternehmen in S. nur in tschechische Hände geben, damit sich seine Vorfahren nicht im Grabe umdrehten. An jenem Frühlingstag, als sie morgens das erste Mal aus dem Fenster schaute, sah die Schöne Frau zwei Männer ins Gasthaus hineingehen, dessen Tür verlockend weit offen stand und den Blick auf den Korridor freigab.

»Valtr«, rief sie aus, »der Malešík hat wieder aufgemacht, ich muss kein Mittagessen kochen, ich geh gleich runter und sage das dem Herrn Hedvábný, heute laden wir ihn ein, was meinst du? ...«

Doch die Männer kamen gleich wieder zurück und trugen Metallleitern, die sie an die Mauer und an beide Enden des Schildes lehnten.

»Aber das sind doch zwei von den Ukrainern«, wunderte sie sich, »sie steigen immer an der Kläranlage aus, weißt du, warum die heute hier sind? Ach, es ist ja Sonntag, da verdienen die sich was hinzu, der Malešík bringt das Lokal auf Vordermann und hat richtigerweise bei der Markise begonnen, die hätte schon längst mal gewaschen werden müssen, meinst du nicht auch, Valtr?«

Sie presste das Gesicht ans Fenster, das sie wegen ihres Lieblings nicht öffnen konnte, und erblickte auf dem Fußweg ihren Nachbarn, der das Haus daneben bewohnte, das nach den Deutschen nun der Stadt gehörte.

»Herr Suchomel freut sich auch schon, er hat immer geunkt, der Malešík würde gegen gutes Geld auch an McDonald’s verkaufen, aber das würde er uns niemals antun, nicht wahr, Valtr, er hat es sich überlegt und schenkt jetzt an alle aus, es reicht doch, wenn er das Bier etwas teurer macht, die meisten Leute aus unseren Häusern müssen jeden Heller dreimal umdrehen und gehen woanders hin, stimmt’s?«

Sie blickte sich um. Ihr Liebling schlief. Sie wollte ihn keinesfalls wecken, und so ging sie auf Zehenspitzen zur ins Erdgeschoss führenden Treppe, als sie von einem mächtigen, langen Grollen aufgehalten wurde. Der wolkenlose Märzhimmel konnte keinen solchen Donner hervorgebracht haben, und so lief sie schnell zum Fenster zurück. Auch durch das Glas war zu hören, dass sich die Ukrainer auf den Leitern laut etwas vorwarfen und einer dem anderen die Schuld gab. Das alte, aus der Verankerung gelöste Aushängeschild musste einem aus der Hand gerutscht sein, und beim Aufprall hatte es dieses langgezogene, dröhnende Geräusch von sich gegeben. Es hatte auch Valtr geweckt, der verschlafen blinzelte, somit konnte sie sich gleich weiter bei jemandem beschweren.

»Mein Gott, er hat verkauft, bloß an wen? Im Zentrum kaufen sich wieder Deutsche ein, ein Deutscher würde uns auch nicht stören, wir beide können doch Deutsch, oder ...?«

Die Männer legten ihren Streit bei, verstummten, kletterten die Leiter herab, hoben das heruntergefallene Schild auf, klemmten es sich unter den Arm und trugen es im Gleichschritt über den Gang ins Lokal hinein. Die Leitern ließen sie stehen. Wenig später kamen sie mit einem genauso großen Gegenstand wieder, der mit einem Betttuch verhängt war.

»Valtr, der neue Eigentümer hat eine genauso große Markise machen lassen, damit er die ursprünglichen Haken nutzen kann, dass er so spart, gefällt mir gar nicht, er wird doch wohl nicht die Preisklasse herabsetzen ...?«

Gespannt verfolgte sie, wie beide Männer diesmal fast übervorsichtig das schwere Schild mit einer Hand anhoben, weil sie sich mit der anderen an der Leiter festhalten mussten. Sie stiegen vorsichtig nach oben, zogen das unten stehende Bein zum höher stehenden nach, bevor sie einen weiteren Schritt riskierten. Ganz oben ruhten sie sich einen Moment aus und zogen wiederum gleichzeitig die Ringe der Aufhängung über die alten Haken. Dann kletterte der Jüngere herab, während der andere oben blieb.

»Kannst du mir erklären ...?«, hub die Schöne Frau an, doch sie verstummte.

Aus dem Lokal kamen mehrere Frauen mit Lappen und Besen in der Hand und mit um den Kopf gebundenen Tüchern. Ein strammer Kerl und zwei schwarzhaarige junge Männer trugen Tabletts voller Colaflaschen. Ein dritter auch einen Kassettenrecorder, der eine Melodie spielte, die Wolfsgeheul ähnelte. Der Mann auf der Leiter zog langsam das Tuch weg. Auf dem Schild prangten eine blaue Moschee mit Minaretten und die goldene Aufschrift Istanbul.

»Um Himmels willen, die Muselmanen!«, rief die Schöne Frau aus, »was machen wir nur, Valtr??«

Er antwortete mit keinem der fünfunddreißig deutschen und tschechischen Wörter, die er konnte, weil er sich mit dem Schnabel gerade das Gefieder unter dem linken Flügel putzte.

Der Fremde und die Schöne Frau

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