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Auf den Friedhof ging sie erst am darauffolgenden Freitag, doch dafür wollte sie länger dort sitzen, um ihre beiden Toten für den Besuch zu entschädigen, den sie beim letzten Mal hatte abbrechen müssen, als der dramatische Exodus der Tschechen vom kleinen Platz kulminiert hatte. Sie setzte sich zuerst auf die kleine Bank am linken oberen Ende des Areals gegenüber dem einfachen Grabstein mit der vergoldeten Aufschrift MUDr. Otomar Schön und den Lebensdaten 1907–1992. Ihre Mutter Ludvíka hatte ihr Vater während des Krieges in Prag auf dem Vyšehrad bestattet, und bei seiner Rückkehr nach S. hatten seine Tochter und er beschlossen, sie nicht aus dem Grab ihrer Eltern zu entführen.

Für die Schöne Frau war die Mutter eine stumme Erinnerung, die nur durch Schwarzweißaufnahmen aufgefrischt wurde. Doch sie war ihr so ähnlich, dass sie an ihr Weiterleben in ihrem eigenen Körper glaubte. Wenngleich sie schon fast ein halbes Jahrhundert älter war, als es das Schicksal ihrer Mutter vergönnt hatte, spürte sie deren Jungsein in sich und war ihr auf ewig für diese wunderbare Gabe dankbar. Doch sie hatte lange Zeit nichts, worüber sie mit ihr hätte sprechen können, alles Gute und Böse hatte sie seit ihrem Tod nur mit dem Vater geteilt.

»Grüß dich, Papa«, sagte sie im Geiste wie all die Jahre seit seiner Beerdigung, wenn sie die Grabpflege beendete, »Valtr grüßt dich auch und ich entschuldige mich, dass ich dich eine Woche lang habe warten lassen, weißt du, letzten Freitag hat sich unser Leben von Grund auf verändert, ohne Vorwarnung sind die Suchomels weggezogen, und auch Herr Hedvábný hat uns verlassen, er hatte so viel Angst vor dem fremden Element, dass er zu seiner fürchterlichen Frau geflohen ist, vor der er sich jahrelang bei uns versteckt hat, ich wollte einen Ersatz finden, damit Valtr und ich nicht allein dort wohnen, doch man hat mir gesagt, dass kein Tscheche zu uns ziehen wolle und unser Haus deshalb seinen Wert verloren hat, ja, Papa, der nette Ort, den du mir hast umbauen lassen, damit ich einen ruhigen Lebensabend habe, ist ohne Krieg von Asien erobert worden, das uns wohl so liebt wie die Hornisse eine Wespe, Papa, was sollen wir nur tun??«

»Rosalein«, sagte der Vater zärtlich, »auf meinen Verstand konntest du dich verlassen, solange es um Dinge ging, die ich kannte, ich wusste, was zu tun war, wenn uns wie immer mal wieder die Deutschen überfallen hätten, mit den Türken habe ich schon lange nicht mehr gerechnet, und mit den Asiaten, wie ich zugebe, überhaupt nicht.«

»Danke, Papa«, darauf die Schöne Frau, »ich frage noch den Jaromír, und wenn auch er mir nicht raten kann, werde ich das irgendwie selbst klären, schlimmstenfalls überzeuge ich mich davon, dass Doktor Julek Mádr Valtrs Zukunft zuverlässig abgesichert hat, und lege mich dann hierher zu dir, ich hab, sage ich dir ehrlich, von allem langsam die Nase voll!«

Als sie in die rechte untere Ecke des Friedhofs kam, setzte sie sich auf die kleine Bank gegenüber dem Grabmal mit der versilberten Aufschrift MUDr. Jaromír Čech und mit den Lebensdaten 1928-1975.

»Grüß dich, Jaromír«, sprach sie, »es tut mir leid, dass ich vor einer Woche nicht hier war, aber Valtr und ich haben hässliche Dinge erlebt, die Suchomels sind vom Platz fortgezogen und von uns der Herr Hedvábný, er hat wegen all dieser neuen Barbarenvölker einen solchen Schreck bekommen, dass er lieber zu seiner Familie zurückgekehrt ist, vor der er jahrelang ausgerissen ist, was ich verstanden habe, als sie ihn holen kam, ich habe geglaubt, dass ich für die Wohnung, in der ich mit dir gewohnt habe und du auch gestorben bist und die Papa dann so schön wieder emporgebracht hat, einen dankbaren Mieter finde, doch Irrtum, Tschechen haben dort Angst, ich langsam auch, und das Haus verkauft sich angeblich nicht mal für einen Bruchteil des Preises, ich weiß nicht, was ich tun soll, und Papa auch nicht.«

»Rosi«, sagte ihr Mann, »ich hatte Angst, als du letzte Woche nicht gekommen bist, dass du mich für immer verstoßen hast, und nun bin ich glücklich, dass deine Güte weiter andauert, ich weiß nur allzu gut, wer daran schuld ist, dass du jetzt alles allein durchstehen musst; wenn mir nicht ein böser Dämon eingeflüstert hätte, dass ich in dieser ekelhaften Partei bleiben soll, in die die Übeltäter von jenem Abfallhaufen der Geschichte zurückgekehrt sind, auf den wir Unschuldige geschickt haben, würde ich mich bis heute in deiner Liebe sonnen und du hättest in mir eine Stütze, doch es hilft kein Was-wäre-wenn, die Toten wissen das am besten, aber weil du mich nicht verlässt, verlasse ich dich auch nicht, geh nach Hause, Rosi, und schreib kein Testament, sondern weil du so schön schreiben kannst, hänge am Haus ein gut lesbares Plakat auf, dass du eine preiswerte Wohnung vermietest, damit dich der, den ich für dich finde und dir schicke, nicht so lange suchen muss, lauf, meine Seele, lauf und habe mich dafür wieder gern, auch wenn ich nur ein Feigling war.«

»Ich danke dir, Jaromír«, sagte die Schöne Frau darauf, »ich weiß zwar nicht, wen die Schritte zu uns nach Kleinasien führen sollten, aber ich versuche es auf jeden Fall, das nächste Mal erzähle ich dir, was daraus geworden ist, und falls nichts, dann werde ich meinen angeborenen Herzfehler aktivieren und zu euch kommen, tschüss.«

Auf dem Weg kaufte sie sich zwei Zeichenblätter, falls eines nicht gelänge, doch gleich das erste wurde gut – Möblierte wohnung preiswert zu vermieten! Als sie es an das Tor des Vorgartens hängte, verspürte sie einen Schlag im Rücken. Sie drehte sich um und sah, wie ein von ihr abgeprallter Ball fortrollte. Die kleinen fußballernden Roma an der geschändeten Gottesmarter standen da wie versteinert, auch die türkischen Jugendlichen, die im Hofe Messer warfen und die Vietnamesen mit ihrem Gemüse und der Bosnier am Kebap. Sie wollte aufschreien und schreien und schreien, doch ihre Stimme hatte mehr Verstand als sie, sie begriff, dass sie hier lächerlich klingen würde, und so blieb sie lieber in der Kehle.

Kaum hatte sie die Haustür hinter sich zugeschlagen, landete Valtr auf ihrer Schulter, um bequem ins Obergeschoss hinaufzufahren. Sie streichelte sein gesträubtes Gefieder und klagte.

»Die zwei auf dem Friedhof haben gut reden, doch was bleibt uns Lebenden, mein kleiner Liebling?«

»Rrrrum!«, krächzte Valtr, aus ihrer bebenden Stimme ihren Seelenzustand ablesend.

Gehorsam goss sie sich ein Gläschen ein und trank in kleinen Schlucken. Da klingelte unten blechern die Klingel. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie es nicht wahrnahm.

»Wenn ich dich nicht hätte, wüsste ich, wie es weitergeht, ich habe keine Freude mehr am Leben, weißt du? Meine einzige Sorge wäre, ob ich mich zu Papa oder zu meinem Mann legen sollte. Ersteren habe ich mehr gebraucht, der andere braucht mehr mich. Was erwartet mich denn noch in dieser entfremdeten Gegend? Doch solange du hier bist, muss ich auf dich achtgeben, mein Liebster!«

»Schrrreck, Rrrrosa!«, krächzte ihr Liebling und tauchte seinen Schnabel in ihren Rum.

Sie trank ein zweites Glas und überhörte auch das zweite Läuten. Valtr begann wütend mit den Flügeln zu schlagen, bis sie, als sie sich wieder ein Glas eingoss, erschrak. Sehr gelungen ahmte er das Klingelgeräusch nach. Deshalb hörte sie es beim dritten Mal selbst.

»Wer kann das nur sein ...?«

»Herrr Karrrl, Herrr Karrrl!«, freute sich Valtr und wollte ihn zusammen mit ihr begrüßen.

»Dein Herr Karl erwartet dich sicher im Himmel. Jetzt bleibst du erst mal hübsch hier.«

Sie zeigte auf den Käfig. Er segelte beleidigt davon und war sehr verärgert.

»Krrruzitürrrken! Valtrrr Grrraf!«

Sie eilte die steile Treppe hinab, als es wieder lange klingelte. Durch das Guckloch in der Tür erblickte sie einen fremden Mann.

Der Fremde und die Schöne Frau

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