Читать книгу Der Fremde und die Schöne Frau - Pavel Kohout - Страница 7

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Als die Schöne Frau vom Professor in den Salon zurückkehrte, verstand Valtr, der beleidigt war wie immer, als sie es ihm verwehrte, an ihrer Schulter herunterzurutschen, dass ihr etwas passiert war. Er hüpfte aus seinem Bad, wo er immer eine Weile zu schmollen pflegte, hängte sich an das Türchen und klopfte mit dem Schnabel an die Käfigstangen, dass er nach draußen wolle. Nachdem sie ihm geöffnet hatte, setzte er sich ihr auf die linke Schulter und knabberte zärtlich an ihrem Ohrläppchen. Dass sie in zwei Tagen die letzten menschlichen Stützen verloren hatte, auf denen der kleine Platz bisher dem fremden Elemente getrotzt hatte, lähmte sie.

»Rrrrosa ...«, krächzte ihr Liebling, wie er es gewohnt war, wenn seine Liebe von dunklen Gedanken überfallen wurde, »Rrrrum, soforrrrt, Rrrrosa!«

Normalerweise lachte sie, holte die Karaffe, und mit dem dritten Fingerhut kehrte die gute Laune zurück, die zu ihr gehörte wie ihr nicht alterndes Gesicht. Nun aber schüttelte sie den Kopf. Und obwohl der Abend noch jung und ausreichend lau für einen Spaziergang am Fluss war, wo sie auf andere Gedanken kommen könnte, trug sie Valtr zurück in den Käfig und machte sich bettfein.

»Wir gehen schlafen, mein Valterchen, heute will ich nicht trinken, nicht essen, nicht lesen, auch an gar nichts denken, so bleibt nur zu hoffen, dass mir etwas Angenehmes im Traum begegnet.«

Man muss erklären, warum die Schöne Frau, die so viele Bücher zu Hause hatte, dass sie sich neue nur in der öffentlichen Bibliothek auslieh, weil sie sonst keinen Platz mehr gefunden hätten, weder ins Theater, noch ins Kino ging und nach dem Tod des Vaters ihren Fernseher den Suchomels geschenkt hatte, damit sie einen zweiten für ihre Töchter hatten. Die Helden der Romane, die sie immer und immer wieder las, weil sie jedes Mal aufs Neue ihr Herz erfreuten wie Tolstois Anna Karenina, Stendhals Le Rouge et le Noir oder Čapeks Geschichten aus der einen und der anderen Tasche, wollte sie, wie sie sagte, nicht mit falschen Gesichtern sehen. Sie meinte damit die Gesichter berühmter Schauspieler, die, da sie mal hier und mal da eine der geliebten Figuren verkörperten, ihnen so ganz unverschämt Antlitz und Seele raubten!

Sie hatte einfach zu lesen begonnen, und alle, die sie in der Handlung faszinierten, traten wie aus dem Nebel zu ihr heran, zuerst als Silhouetten, die jedoch immer klarere Umrisse annahmen, bis sie sie wie lebendig aus unmittelbarer Nähe sah. Dies erregte sie umso mehr, als sich die Erscheinungen bei jedem neuen Lesen neu wiederholten, so wie sie von einem nichtsahnenden Kind zu einem jungen Mädchen, von einem erwartungsvollen Mädchen zu einer Frau und dann in dieser zum Verständnis fast aller Dinge gereift war, die ein sterblicher Mensch im Laufe seines Lebens verstehen kann. Die Figuren bevölkerten ihr freiwilliges Alleinsein, erlebten an ihrer Stelle, wofür ihr die Courage fehlte. Und den Rest besorgten die Träume.

Die Schöne Frau hatte spätestens in der Pubertät gemerkt, was sie schon unklar als Kind geahnt hatte: dass sie zwei Leben lebte. Eines mit echten Menschen am Tage, das andere, wenn sie las und schlief. Der Schlaf ließ sie fast alles, worüber sie gerade nachdachte, wonach sie sich sehnte und wovor sie sich am meisten fürchtete, so im Detail durchleben, dass sie in dieser unechten Wirklichkeit noch wach wurde, manchmal in Erleichterung, dass die schweren Enttäuschungen, schrecklichen Verluste und niederträchtiger Verrat nur Albträume waren, manchmal in Traurigkeit darüber, dass sich das schwindelerregende Glück nur als Phantom erwies.

Einst war in den Träumen vor allem ihre tote und deshalb immer noch junge Mutter zu ihr gekommen, mit der sie zärtliche Nähe erlebte, um die sie ihre Freundinnen umso mehr beneidete, weil ihr Vater sie bei aller Liebe eher wie einen Jungen abgehärtet hatte, als dass er sie ein bisschen gehätschelt hätte. Um ihn aber für all die Fürsorge und Liebe nicht zu verletzen, hatte sie ihm nie verraten, welche Enttäuschung es für sie gewesen war, wenn sie zum Frühstück statt von ihrer Mutter plötzlich von ihm geweckt wurde.

Sie träumte sich auch ihren Prinzen Jaromír herbei. Als sich dieser bolschewistische Aufseher, wie ihr Vater und sie ihn verstanden, den sie sogar noch unter ihrem eigenen Dach aufnehmen mussten, nachdem die Behörde das Haus als zu groß erachtet hatte, als alles andere, nur nicht als roter Kommissar erwiesen hatte, hielt auch er bald Einzug in ihre Träume. Sie konnte sich tagsüber in Erinnerung rufen, Menschen seiner Überzeugung hatten verhindert, dass sie studieren konnte, wonach sie sich gesehnt hatte, zu reisen, wohin sie wollte, und zu lesen, was sie mochte, dass sie den fortschreitenden Verfall von S. und des gesamten Landes auf dem Gewissen hatten; der Schlaf schien ihn und all das, was er vertrat, über Nacht reinzuwaschen.

Bevor er eine Assistentin gefunden hatte, arbeitete sie bei ihm als Aushilfe und konnte dabei nicht übersehen haben, was für ein guter Arzt er war und wie zuvorkommend er sich unterschiedslos gegenüber allen Patientinnen verhielt, oftmals besser als der Vater, der aus der Vergangenheit doch an eine andere Klientel gewöhnt war, die sich vor der Untersuchung wusch. Doktor Čech machte nicht wie so viele Freunde ihres Vaters, die ihren noblen Hut gegen eine Arbeitermütze eingetauscht hatten, »auf Kommunist«, sondern er wollte bei all seiner Eleganz aufrichtig einer sein, und sie bedauerte es fast, als man ihm eine eigene Kraft zuteilte, somit geriet er ihr mehr oder minder aus dem Blickfeld. Er blieb jedoch in ihren Träumen.

Er blieb – das war ein schwacher Ausdruck. Die Schöne Frau träumte bis dato in Episoden, die an gezeichnete Grotesken erinnerten, die einzigen Filme, die sie gelten ließ. Ihre Träume waren fröhlich, traurig, verrückt, schauderhaft, verliebt, sogar erotisch, doch kurz, sie entsprachen der medizinischen Erkenntnis, dass ein Traum ein paar Sekunden dauert, und hineingeschrieben wurde nicht mehr als die normalen Erlebnisse des Tages. Dann kam jene Nacht, in der sie einen unendlichen Roman träumte, und ihn erlebte sie eben mit diesem schönen jungen Mann, der schon ein Jahr lang direkt unter ihr schlief.

Es geschah am Ende eines lauen Sommerabends, als er ihren Vater und sie zum Abendessen zu den Malešíks einlud und später allein mit ihr unter dem Kastanienbaum sitzen blieb. Die Gäste verschwanden, auch Doktor Schön ging schlafen, doch sie beide bekamen vom Wirt eine neue Flasche mit der üblichen Bitte, anschließend das Licht zu löschen, das Tor abzuschließen und den Schlüssel in den Briefkasten zu werfen. Damals versuchte er, für einen Marxisten überraschend, sie von ihrer Unsterblichkeit zu überzeugen.

»Vor dem Tod, Rosi, müssen Sie sich nicht fürchten, weil es ihn nicht gibt! Alles, was wir gerade leben, scheint uns nur so. Ihnen Ihr Leben, mir das meinige, wir beide also träumen auch von uns beiden. Wenn wir zu Ende geträumt haben, erwachen wir in unserem ewigen Leben, das uns, wenn wir es wollen, wieder einen neuen Traum anbietet.«

Bei der Rückkehr nach Hause küsste sie ihn unter der Treppe das erste Mal. Es war zwar nur ein Gutenachtkuss, doch er kam daraufhin in ihre kleine Dachkammer, entjungferte sie zärtlich, befruchtete sie, brachte selbst ihr hübsches Mädchen zur Welt und fragte, ob sie noch ein weiteres Kind haben wolle, und als sie freudig zustimmte, schenkte er ihr einen genauso hübschen Jungen und zum Schluss noch ein wunderschönes Pärchen, und all diese wunderbaren Kinder liebten und achteten sie beide, und ihr Jaromír liebte und achtete auch sie, und dann waren sie alt und immer noch genauso verliebt und durch diese Liebe wahrhaft unsterblich ...

Dieser Traum aller Träume, den sie über Jahre zu träumen glaubte, bewirkte, dass sie ihn bald darauf heiratete, ihm ein totes Kind gebar, ihn wegen des Verrats seiner Ideale verließ, er sich vor Sehnsucht zu Tode trank und sie aufhörte, an ihre Träume zu glauben.

Der Fremde und die Schöne Frau

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