Читать книгу Mamas Alzheimer und wir - Peggy Elfmann - Страница 18
Ein Stück normales Leben
ОглавлениеMeine Mama lenkte sich ab. Zu Weihnachten hatte ich ihr Leinwände und Acrylfarben geschenkt. Und was malte meine Mama? Tauben. Blaue Tauben. Bunte Tauben. Tauben, die ihre Flügel ausbreiteten und flogen. Diese Tauben hatten fulminante Flügel. Wünschte sich Mama, ihre Flügel ausbreiten und der Krankheit davonfliegen zu können?
Nein, sie lief ihr davon. In ihrer Kindheit und Jugend war Mama eine erfolgreiche Leichtathletin gewesen. Ihre Paradedisziplin waren die 400-Meter, und sie war im ganzen Bezirk die Beste darin gewesen. Zu einem Sportfest durfte sie die Fackel ins Stadion tragen. Davon gibt es ein Foto, das ich oft bewundert habe. In meiner Jugend war ich auch in einem Leichtathletikverein, dem selben wie meine Mama Jahre zuvor, und habe zeitweise fast täglich trainiert. Ich war sehr gut und habe viele Medaillen gewonnen, aber so schnell wie meine Mama war ich nie gelaufen. Den Beleg dafür hatte ich schwarz auf weiß. In meiner Jugend hatte Mama mir ihr Wettkampfheftchen von früher geschenkt. Darin hatte sie fein säuberlich mit Füller jeden Wettkampf festgehalten: das Datum, den Ort, ihre Disziplinen und die Zeiten, die sie gelaufen war. Daneben stand, wenn sie eine persönliche Bestzeit gelaufen war, einen Rekord aufgestellt oder den ersten Platz belegt hatte (was sehr häufig war).
Sechs Jahre zuvor waren Mama und ich einen Halbmarathon gelaufen. Ich hatte mit dem Laufen nie wirklich pausiert, manchmal war es etwas weniger, dann wieder mehr. Seitdem ich in München lebte und arbeitete, lief ich wieder regelmäßig. Mama hatte als Sportlehrerin einen aktiven Alltag, aber das regelmäßige Laufen hatte sie erst im Jahr vor dem Halbmarathon wieder aufgenommen. Seitdem gehörte ihr Hobby wieder zu ihr und auch mit Alzheimer lief sie. Papa begleitete Mama beim Laufen, entweder lief er auch oder fuhr mit dem Rad.
Mama nahm sogar an kleinen Wettkämpfen teil. Sie lief in dem Stadion, wo sie schon als Mädchen gelaufen war, und machte Stunden- und Halbstundenläufe mit. Und sie sorgte sich um ihre Leistung wie damals als Schülerin. „Meine Zeit hat sich weiter verbessert. Ich bin froh, dass ich mich vom Tempo wieder steigere“, hatte sie mir geschrieben.
Ich fand es merkwürdig, dass sie sich um ihre Laufleistung sorgte. Sie hatte vor nicht allzu langer Zeit die Diagnose Alzheimer bekommen – und nun dachte sie an ihr Zeiten beim Stundenlauf. Mir schien das anfangs ziemlich überflüssig. ‚Jetzt stress dich doch nicht wegen deiner Zeit beim Laufen‘, hätte ich ihr am liebsten am Telefon gesagt. Aber ich habe es halb fassungslos angehört und danach den Kopf geschüttelt. Zunächst. Doch dann habe ich verstanden, dass es nicht um die Zeit an sich geht, sondern um sie selber. Das Laufen war so ein wichtiger Teil von Mamas Leben. Mit gerade mal acht Jahren war sie zum ersten Mal zum Leichtathletiktraining gegangen – und es hatte sie nie mehr losgelassen. Sie hatte dort ihre Freunde, sie hat dabei ihre Liebe gefunden, das Laufen gehörte zu ihr. Wenn sie auch mit Alzheimer weiter trainierte, zeigte das irgendwie: Ich bin ich und lasse mich nicht unterkriegen. Ich glaube, es gab ihr auch einen wichtigen Halt. Es war eine alte Routine im neuen Leben mit der Alzheimerkrankheit. Es war ein Stück normales Leben.
Mamas Arzt hatte den Sport sehr befürwortet, erst recht als er hörte, dass das Laufen immer ein wichtiger Teil ihres Lebens gewesen war. Er erklärte aber auch, dass es unabhängig davon positiv sei, auf regelmäßige Bewegung zu achten. Denn es würde den Körper stärken und könnte Erkrankungen wie Bluthochdruck oder Diabetes vorbeugen. Und er erzählte, dass es eine Reihe an Alzheimerstudien gebe, die positive Effekte von Bewegung gezeigt hätten. Sport könne das Fortschreiten der Symptome hinauszögern. Wichtig sei vor allem die Regelmäßigkeit, das betonte er. Er empfahl 30 Minuten tägliche Bewegung. Das schaffte meine Mama locker. Mamas Joggen konnte also nur gut sein, dafür, dass sie körperlich und mental fit blieb, und vielleicht konnte es den Alzheimer ein wenig in Schach halten.