Читать книгу Mamas Alzheimer und wir - Peggy Elfmann - Страница 9

Angst um Mama

Оглавление

Ich hatte solche Angst. Die große Panik befiel uns alle in den ersten Wochen nach der Diagnose. Ich habe zu Hause geweint, bei der Arbeit, am Telefon mit Freundinnen, so ziemlich überall. Ich konnte es nicht glauben. „Warum meine Mutti?“, fragte ich mich und die anderen immer wieder. Ich bekam Antworten wie: „Das weiß keiner“, „Manchmal trifft es auch relativ junge Menschen“, „Vielleicht liegt es in der Familie“. Ich wollte die Antworten eigentlich gar nicht hören, denn sie gaben mir trotz allem keine Antwort auf die Frage: Warum meine Mama?

Ich hatte Angst um sie. Dass sie bald stirbt. Dass ich sie verliere. Ich wollte so schnell wie möglich zu ihr. Ein paar Tage nach dem Anruf, der alles veränderte, war ich in aller Frühe aufgestanden, um kurz nach fünf Uhr in München in den Zug zu steigen und zu meinen Eltern zu fahren. Ich wollte Mama zu einer abschließenden Untersuchung am Universitätsklinikum und danach zu ihrem Arzt begleiten. Im Zug zeigte ich mein Ticket, mit Ziel: Jena-Paradies. Der Schaffner studierte es und sagte mit einem charmanten Lächeln im Gesicht: „Aha, einmal ins Paradies wollen Sie.“ Ich weinte. Nie war ich weiter entfernt vom Paradies als in diesem Moment frühmorgens im ICE. Ich heulte, es war mir egal, dass jeder im Zug meine Tränen sehen konnte. Der Zug hatte Verspätung, ich nahm mir ein Taxi vom Bahnhof und wollte nichts anderes, als im Behandlungszimmer neben meiner Mama zu sitzen. Aber wie das so ist: Die eigentlich kurze Fahrt zog sich hin, wir standen gefühlt Stunden an den roten Ampeln und dann fand der Taxifahrer die Zufahrt zu dem entsprechenden Klinikgebäude nicht. Ungeduldig stieg ich aus und wollte den Rest zu Fuß gehen. Ich zahlte, wartete nicht auf mein Rückgeld und rannte die Straße entlang. Doch da kamen mir meine Eltern schon entgegen. Hand in Hand. Papa schaute ernst, Mama lächelte. Ich freute mich, sie zu sehen, war aber irgendwie auch sauer: War es das jetzt? Steht alles schon fest? War ich umsonst gekommen? „Das ging ganz schnell“, sagte Papa trocken. Mama blieb still. Es war klar: Die Diagnose Alzheimer war bestätigt. Ich umarmte Mama. Papa drängte zum Weitergehen, er marschierte in seinem üblichen Marschtempo und zog Mama mit.

Zum Parkplatz mussten wir durch ein kleines Einkaufszentrum gehen. Diese Geschäfte, diese vielen Menschen, mir war das alles zu laut und zu bunt. „Willst du etwas essen, Peggy? Du hast doch bestimmt Hunger, wenn du so früh aufgestanden bist“, fragte Papa. „Komm, wir trinken einen Cappuccino.“ Echt jetzt? Ich konnte es nicht glauben. Wir trinken einen Cappuccino, nachdem Mama die PET-Untersuchung (siehe Infoteil dieses Kapitels) hat machen lassen und diese bekloppte Diagnose bestätigt ist? Das war mir eindeutig zu viel Normalität. „Ich hab keinen Hunger“, sagte ich. Wir gingen zum Auto. Ich bestand darauf zu fahren. Ich, die seit Jahren fast gar nicht Auto fuhr. Aber ich wollte nicht, dass mein Papa jetzt am Steuer saß. Ich fuhr die Landstraße entlang, Papa saß neben mir und Mama auf der Rückbank. „Dort hinten sind die Dornburger Schlösser, die sind sehr sehenswert“, erklärte mein Papa, zeigte aus dem Fenster und bestaunte die Landschaft. „PAPA“, entgegnete ich genervt. Ja, draußen war eine wunderschöne Landschaft. Die Sonne schien, wir hatten einen malerischen Blick auf die Saale, aber mir war nicht nach Konversation. Ich schaute nach draußen, aber eine malerische Landschaft mit Schloss konnte ich nicht sehen. Es war irgendwie alles grau. Mama sagte nichts. Ich starrte nach vorne auf die Straße. Schweigend fuhren wir zu ihrem Neurologen. Er hatte die Erstdiagnose gestellt, Mama dann aber noch mal an die Universitätsklinik überwiesen, um sie zu bestätigen. Wir gingen den langen Gang entlang und setzten uns in den Wartebereich. UND JETZT? UND JETZT? So wummerte es die ganze Zeit in meinem Kopf. Ich hatte Angst, weil ich doch gar nicht wusste, wie es nun weitergehen sollte. Was würde der Alzheimer mit meiner Mama machen? Gab es nicht immer noch eine winzige Hoffnung, dass alles nur ein Irrtum war? Vielleicht könnte der Arzt auch ein Medikament verschreiben – und Mama würde wieder gesund werden?

Die Worte des Arztes waren klar. Diagnose Alzheimer. Alzheimer ist nicht heilbar. Während er erzählte, schwirrten zwei Fragen in meinem Kopf herum: ‚Warum Mama?‘ und ‚Wie geht es weiter?‘. Der Arzt nahm sich viel Zeit und erklärte. Wir hörten zu und nickten, meiner Mama liefen die Tränen über die Wangen. Meine Eltern hielten sich an den Händen.

Obwohl Wissenschaftler seit Jahrzehnten daran forschen und immer wieder an neuen Medikamenten tüfteln, gibt es bislang keine Heilung von Alzheimer. Die Arzneimittel können die Krankheit nicht heilen, der Prozess ist unaufhaltbar, aber sie können ihn verzögern. Aber was hieß das nun für meine Mama? Der Arzt wollte sich nicht festlegen. Alzheimer sei individuell und er könne nicht vorhersagen, wie und in welchem Tempo die Krankheit verläuft. Mit diesen Worten und einem Rezept entließ er uns aus seiner Sprechstunde.

Ich konnte es noch immer nicht glauben. Meine liebe, schöne, schlaue, herzensgute Mama, die da neben mir stand, sollte Alzheimer haben? Ich nahm ihre Hand und wir gingen langsam zum Auto. Mein Hoffnungsschimmer, dass alles nur ein großer Irrtum war, lag begraben.

Alzheimer stellte ich mir wie ein Zerfallen vor. Aber war es wie eine Sandburg am Meer, die mit jeder Welle ein klein wenig mehr von ihrem Fundament verlor und Stück für Stück zusammensackte? Oder war es eine einzige Welle oder ein Orkan, die kamen und die Basis wegrissen und nur Leere hinterließen? Warum konnte man diese Wellen nicht anhalten? Oder die Sandburg auf einen trockenen Grund setzen? Was würde mit Mama passieren, wie würde es weitergehen? Wie konnte es sein, dass sie mit 55 Jahren an Alzheimer erkrankt war? „Ungewöhnlich jung“, hatte der Arzt gesagt. Aber es passiere. Warum Mama? Ich war wütend und traurig zugleich. Es war nicht fair, dieses Leben. Das hatte meine Mama nicht verdient. Schrecklich und gemein kam mir die ganze Welt vor.

Mamas Alzheimer und wir

Подняться наверх