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5. Der Widerstand im Westen
ОглавлениеAllerdings entstand auch innerhalb der staatlichen Seite Widerstand. Das Saarland stellte am Tag der Unterzeichnung der Stromverträge auf einer Pressekonferenz eine Dokumentation vor: Darin setzte es sich – aus umwelt- und wettbewerbspolitischen Gründen sowie aus Sorge um ein sprunghaftes Ansteigen der Bundeskompetenz im Energiebereich zu Lasten der Länder – kritisch mit den Stromverträgen auseinander. Aber auch alle im Bundestag vertretenen Parteien, die wichtigsten Gewerkschaften, kommunale Verbände und insbesondere der Verband der Stadtwerke, der VkU, sowie alle Bundesländer hatten sich noch im September und Anfang Oktober 1990 vehement gegen die Stromverträge ausgesprochen und teilweise ihre Rechtswidrigkeit herausgestrichen. Am 19.9.1990 beschloss die Wirtschaftsministerkonferenz der Bundesländer in Würzburg einstimmig:
„Die Länder der Bundesrepublik Deutschland werden alle Möglichkeiten der fachlichen und juristischen Unterstützung in der DDR nutzen, um jedenfalls teilweise die Bildung von Stadtwerken möglich zu machen. Gemeinsam mit dem Deutschen Städtetag, dem Verband kommunaler Unternehmen und dem Städte- und Gemeindebund werden die Länder prüfen, ob zumindest die Städte in der DDR, die früher Stadtwerke hatten und durch den DDR-Staat enteignet wurden, einen Rechtsanspruch auf volle Übertragung der Energieanlagen in ihrem Gemeindebereich haben. Weiter ist zu prüfen, ob die Gemeinden in der DDR Rechtsansprüche auf die Übertragung der Gas- und Fernwärmenetze haben. Schließlich muss geprüft werden, ob die form- und fristgerecht gestellten Anträge der Städte und Gemeinden in der DDR auf Übertragung der Energieanlagen in ihrem Gemeindegebiet gemäß Kommunalvermögensgesetz auch nach Inkrafttreten des Einigungsvertrags vom 31.8.1990 zu erfüllen sind.“
In praktischer Ausführung der Beschlüsse von Würzburg unternahmen insbesondere die Länder Schleswig-Holstein, Bremen, Niedersachsen, Hessen und das Saarland systematische Beratungsaktionen in der DDR gegen die Stromverträge und für die Stärkung der kommunalen Rechte im Energiebereich. Dr. Spreer, Abteilungsleiter im Wirtschaftsministerium das Saarlandes, versandte bis 1991 insgesamt sechs Rundschreiben mit umfangreichen Anlagen an alle DDR-Städte über 10.000 Einwohner – immerhin 230 Städte – und trug damit dazu bei, dass die Ost-Städte nicht alles glauben mussten, was die Stromvertrags-EVU behaupteten; so das Bayernwerk im September 1990 in Thüringen: „Wenn das Kommunalvermögensgesetz bleibt, gehen die Lichter aus.“
Allmählich aber ließ der Widerstand nach, insbesondere in den alten Bundesländern, die Sitzländer der Stromvertrags-EVU sind. Es wurde nämlich sehr rasch klar, dass mit den Stromverträgen nicht nur ein gravierendes Größenwachstum der Konzerne verbunden war, sondern eine willkommene Gelegenheit, die westlichen Überkapazitäten bei Kraftwerken dem Osten zur Verfügung zu stellen, verbunden mit der Möglichkeit, von den Ostkunden westliche Strompreise zu erhalten. Denn der exportierte Strom wurde in den ohnehin vorhandenen und nicht ausgelasteten Anlagen produziert.
Man erwartete einen dauerhaften Milliardentransfer von Ost nach West. Um dies zu verschleiern, beeilten sich die Stromvertrags-EVU, auf die Schwierigkeit der Aufgabe im Osten hinzuweisen – und hatten damit Erfolg. Allerdings fanden intensive Diskussionen insbesondere über die Rolle der Kommunen statt, die Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble in seinem Buch über den Einigungsvertrag62 dargestellt hat:
„Im Spitzengespräch des Bundeskanzlers mit den Partei- und Fraktionsvorsitzenden am 26. August kam noch ein zweites Thema zur Sprache, das nur indirekt mit dem Einigungsvertrag zu tun hatte, nämlich die künftige Stromversorgung der DDR. Nach seriösen Schätzungen erforderte die umweltverträgliche Sanierung der maroden Elektrizitätsversorgung mit ihren defekten und leistungsschwachen Leitungssystemen, ihren veralteten und lebensgefährlichen Reaktoren und ihren stinkenden und kostenträchtigen Braunkohlekraftwerken Investitionen von mindestens 30 bis 40 Milliarden Mark. Die DDR-Elektrizitätswirtschaft und der Braunkohlebergbau zählten über 220.000 Beschäftigte.
Am 22. August schien das Problem gelöst. Die drei großen westdeutschen Energieversorgungsunternehmen Rheinisch-Westfälisches Elektrizitätswerk, Bayernwerk und PreussenElektra hatten mit der Regierung der DDR und der Treuhandanstalt den sogenannten Stromvertrag abgeschlossen. Auch wenn diese große Lösung von Anfang an wettbewerbspolitisch umstritten war, wurde auf diese Weise mit einem Schlag das Stromversorgungssystem der Bundesrepublik auf das Gebiet der DDR übertragen – im Interesse der raschen Sanierung der desolaten ostdeutschen Stromversorgung eine, wie es schien, vertretbare Lösung. Die bundesdeutschen Unternehmen hätten ein finanzielles Engagement in dieser Größenordnung abgelehnt, wenn ihnen ihre künftige marktbeherrschende Position in den neuen Länder nicht durch den Stromvertrag garantiert worden wäre.
Wir von der Bundesregierung beruhigten unser marktwirtschaftliches Gewissen: Ausgerechnet in dieser Situation in der DDR mehr Wettbewerb als bei uns verwirklichen zu wollen, das wäre vermessen gewesen. Und woher hätten die Städte und Gemeinden der DDR das Geld für die Kommunalisierung der Energieversorgung nehmen sollen? In dem Stromvertrag war daher nur eine Minderheitsbeteiligung der Kommunen an bestehenden regionalen Energieversorgungsunternehmen in der DDR vorgesehen.
Das Saarland war von Anfang an gegen diesen Stromvertrag Sturm gelaufen mit dem Argument, hier werde die Chance einer dezentralen Energiepolitik verletzt. Nach Auffassung der SPD und der von Politikern dieser Partei geführten Länder sollte die Zuständigkeit der Gemeinden die Organisation dezentraler Strukturen in der Kraftwerkswirtschaft ermöglichen. Lafontaine behauptete, er habe im Saarland auf diese Weise umweltverträgliche Lösungen wie eine verstärkte Nutzung der Kraftwärmekopplung gefördert. In einem Brief hatte mir schon Wochen zuvor der Saarbrückener Staatskanzleichef Kopp empfohlen, diese im Saarland erprobten Strukturen auch für den ökologischen Neuanfang in der DDR zu nutzen.
In dem Gespräch mit den Partei- und Fraktionsvorsitzenden am 26. August argumentierte der ehemalige Münchner Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel aus der Sicht eines Kommunalpolitikers – und fand volle Unterstützung beim früheren rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten und Ludwigshafener Stadtverordneten Helmut Kohl. Den Gemeinden, auch den großen Städten, so Vogel, werde durch den Stromvertrag für eine sehr lange Zeit unmöglich gemacht, über ihre Energieversorgung eigenverantwortlich zu entscheiden. Sie verlören ihre Ortsnetze an die westdeutschen Konzerne. Die Minderheitsbeteiligung an den regionalen Versorgungsunternehmen, begrenzt auf den Wert ihrer früheren Ortsnetze, sei kein Ausgleich, sondern de facto eine Sperre. Die Städte müssten wie bei uns selber entscheiden können, ob sie ihr Ortsnetz zurückverlangen und auf Ortsebene tätig werden oder ob sie eine Kapitalbeteiligung wählen wollten. Aus dem Energieproblem war ein Streit um den Stellenwert der kommunalen Selbstverwaltung in der früheren DDR geworden. Der Bundeskanzler gab dem Oppositionsführer recht: Er sei Vogels Meinung, die Kommunen müssten gestärkt werden.
Verträge mit den Energieversorgungsunternehmen gehören mit zum Kompliziertesten, und in aller Regel werden sie auch gar nicht transparent gemacht. So war auch der Stromvertrag im Detail uns allen unbekannt. Weil vom Bundeswirtschaftsministerium bei dem Gespräch am Sonntagabend im Kanzleramt niemand anwesend war, telefonierte ich den zuständigen Staatssekretär von Würzen herbei. Er gab uns sachkundige Informationen zu dem Thema, das dann einer Arbeitsgruppe überwiesen wurde. Helmut Kohl bat den Beamten, er möge in Gesprächen mit den Vertragspartnern für Nachbesserungen zugunsten der Kommunen sorgen.
Wie gesagt: Der Stromkontrakt stand nur in einem indirekten Zusammenhang mit den Einigungsvertrag. Der Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion sah grundsätzlich die Übertragung des gesamten DDR-Vermögens auf die Treuhandanstalt vor. Artikel 21 und 22 des Einigungsvertrages regeln die Aufteilung des Verwaltung- und Finanzvermögens auf die Ebenen von Bund, Ländern und Gemeinden. Der Vertrag sieht überdies die Fortgeltung des Kommunalvermögensgesetzes der DDR vor – mit Maßgaben, die sicherstellen, dass dieses Gesetz im Einklang mit den beiden genannten Artikeln im Einigungsvertrag steht. Der Vertrag der Stromversorger mit der Treuhand machte es nun erforderlich, für die Energieversorgung eine Ausnahme von den Vorschriften dieses Kommunalvermögensgesetzes festzuschreiben. Auf separate Übernahmeverhandlungen mit einer Vielzahl von DDR-Kommunen hätten sich die Konzerne – verständlicherweise – nicht eingelassen.
Auch im Gespräch Helmut Kohls mit den Ministerpräsidenten stand das Thema auf der Tagesordnung. Man war sich einig, dass bei aller Sorge um die Rechte der Kommunen der nächste Winter nicht vergessen werden durfte. Die Stromkonzerne bestanden auf der wirtschaftlichen Führungsrolle in einem Geschäft, das 30 bis 40 Milliarden an Investitionen abforderte. Staatssekretär von Würzen wies darauf hin, dass die Treuhand nicht nur an die großen Drei (RWE, Bayernwerk, PreussenElektra) verkauft habe. An der sogenannten Verbundstufe, also dem Höchstspannungsnetz und der überregionalen Stromversorgung, sowie an jeweils 51 Prozent von den 15 Regionalgesellschaften der DDR seien auch die kommunalen Dortmunder VEW, die Hamburger HEW, EVS, Badenwerk und Bewag beteiligt. Im Übrigen gewährleistete das mit dem Einigungsvertrag übernommene Kommunalverfassungsgesetz der DDR den Kommunen das Recht, eigene Stadtwerke zu gründen und ihr Gemeindegebiet mit Strom zu versorgen. Doch von Würzen ließ auch keinen Zweifel an der entschiedenen Haltung der westdeutschen Konzerne aufkommen: Er zweifele nicht, dass diese von dem Stromvertrag zurückträten, wenn sie ihre Kapitalmehrheit an der DDR-Elektrizitätswirtschaft verlören. Wir konnten es drehen und wenden, wie wir wollten – ohne die Konzerne würde es im bevorstehenden Winter ziemlich kalt werden in den neuen Ländern.
Vogel führte nach der Unterzeichnung des Einigungsvertrages im Ausschuss „Deutsche Einheit“ noch einmal ein Nachhutgefecht. Er bestätigte den Abgeordneten, in dem Spitzengespräch mit dem Kanzler hätten alle übereinstimmend die Eigenverantwortung der Städte und Gemeinden gewünscht. Doch die Mehrheit hätte das Risiko der Vertragskündigung durch die Konzerne „sehr ernst genommen“. Die SPD sei anderer Auffassung und daher auch bereit gewesen, dieses Risiko im Interesse der Städte und Gemeinden der DDR auf sich zu nehmen.
Diese Distanzierung des Oppositionsführers konnte ich nicht unwidersprochen lassen. Namens der Bundesregierung gab ich unsere Überlegungen zu Protokoll, die uns letztlich doch den Vertrag befürworten ließen: „ Wir haben auch nach intensiven Gesprächen während der Verhandlungen mit den Energieversorgungs-Unternehmen nicht die Verantwortung übernehmen wollen, ein Scheitern dieses Stromvertrags zu riskieren. Deswegen haben wir uns in dieser Güterabwägung für etwas entschieden, was auch von uns selbst durchaus mit kritischen Anmerkungen versehen wird.“
Die Absicherung der Stromverträge erfolgte mit Hilfe einer unscheinbaren Regelung, der Ergänzung zum § 4 Abs. 2 Kommunalvermögensgesetz (KVG) in der Fassung der Volkskammer, der wie folgt lautete:
„Sofern Betriebe und Einrichtungen, die nach den Grundsätzen dieses Gesetzes in kommunales Eigentum überführt werden müssen, bereits in Kapitalgesellschaften umgewandelt worden sind, gehen die entsprechenden ehemals volkseigenen Anteile in das Eigentum der Gemeinden und Städte über.“
Es wurde eine sogenannte Maßgaberegelung hinzugefügt. In ihr heißt es wie folgt:
„Soweit die Summe der Beteiligungen der Gemeinden, Städte und Landkreise 49 v.H. des Kapitals einer Kapitalgesellschaft für die Versorgung mit leitungsgebundenen Energien überschreiten würde, werden diese Beteiligungen anteilig auf diesen Anteil gekürzt.“
Diese Maßgaberegelung baute auf der Vorstellung auf, dass die Kommunen durch § 4 Abs. 2 S. 1 KVG zu 100-prozentigen Kapitaleignern der Regionalversorgungsunternehmen geworden seien oder dass ihnen zumindest ein Anspruch auf Entflechtung und Zuordnung des kommunalen Versorgungsvermögens zustehe, wie der Abg. Nooke in der Volkskammer vorgetragen hatte. Die Regelung beschränkte die Kommunen auf die Position von Minderheitsaktionären, eröffnete damit den Weg für die Übertragung der Mehrheitsanteile auf die westdeutschen EVU und beseitigte den Anspruch der Kommunen auf Übertragung der Vermögenswerte für die kommunale Versorgung.
Der Einigungsvertrag war allerdings nicht aus einem Guss, was die Entrechtung der Kommunen anging. Da waren zum einen die Artikel 21 und 22 über die Zuordnung ehemals volkseigenen Vermögens mit Bestimmungen dazu, wie Rückgewähransprüche zwischen Körperschaften des öffentlichen Rechts wegen früheren unentgeltlichen Vermögensentzugs zu behandeln sind. Artikel 21 befasst sich mit dem Verwaltungsvermögen, also dem Vermögen der DDR, das unmittelbar bestimmten Verwaltungsaufgaben dient. Darauf gestützt mussten die Kommunen ihr Versorgungsvermögen als Verwaltungsvermögen beanspruchen können – sollte man meinen. Artikel 21, der das Finanzvermögen regelt, betrifft das Vermögen, das nicht unmittelbar bestimmten Verwaltungsaufgaben dient, sondern der öffentlichen Verwaltung mittelbar durch sein Kapitalwert dient. In diesem Fall besteht ein Restitutionsanspruch auf das Finanzvermögen.
In der Auseinandersetzung um die Stromverträge konnten die saarländische Seite und der SPD-Fraktionsvorsitzende Hans-Jochen Vogel ein weiteres Zugeständnis erreichen. Sie signalisierten ihre Zustimmung zum Einigungsvertrag für den Fall, dass das kommunale Wegerechtsmonopol zum 1.1.1992 wieder eingeführt werden würde. Damit hat es folgende Bewandtnis: Den Kommunen steht mit dem Eigentum an den kommunalen Straßen und Wegen auch die Befugnis zu, mit dem Konzessionsvertrag das Recht zur Benutzung kommunaler Straßen und Wege für Verlegung und Betrieb von Energieanlagen zu vergeben. Endet der Konzessionsvertrag, steht der Kommune auf Basis der sogenannten Endschaftsklauseln der Anspruch auf Erwerb der Anlagen zu, wobei als Gegenleistung der „Sachzeitwert“ zu entrichten war; d.h. ein vermögensbezogener Wert, der auf Basis des Tagesneuwertes dieser Anlagen zu berechnen ist. Während die Vorstellung des Einigungsvertrags ursprünglich war, dass die Regional-EVU ein länger währendes Wegenutzungsrecht haben sollten, wurde das kommunale Wegerechtsmonopol zum 1.1.1992 wieder eingeführt. Auf dessen Basis hatten die Kommunen ab dem 1.1.1992 die Befugnis, die Herausgabe des Versorgungsvermögens zu verlangen, sofern bis dahin nicht ein längerfristiger, in der Regel 20jähriger Konzessionsvertrag abgeschlossen war.
Der Widerstand des Saarlandes konzentrierte sich daher auch auf eine Warnung vor dem Abschluss von Konzessionsverträgen, um so die kommunalen Vermögenspositionen nicht zu gefährden. Diese Kampagne des Saarlandes spielt damit eine ganz herausragende Rolle im Kampf um die kommunalen Rechte: Hätten die Kommunen breitflächig Konzessionsverträge abgeschlossen, wären ihre Rechte nach dem Grundsatz „pacta sunt servanda“ erst einmal verloren gewesen – und in vielen Fällen war das auch so, wie sich später zeigen sollte.