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3. Die Umsetzung in Deutschland

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Der Gesetzentwurf, den der liberale Wirtschaftsminister Rexrodt am 16.9.1996 einbrachte87, ging einerseits weiter als die Brüsseler Vorlage: Der Entwurf führte nämlich, rein rechtlich gesehen, eine vollständige Marktöffnung herbei, indem er die §§ 103 und 103a des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) strich, wo die Regelungen zum Schutz der Energiewirtschaft vor Wettbewerb vorgesehen waren: Zum einen die sogenannte Demarkation, ein Recht, das einem Versorger die ausschließliche Zuständigkeit für die Versorgung in einem „markierten“ Gebiet gab; zum anderen das Recht für Kommunen, das ausschließliche Recht für die Verlegung und den Betrieb von Leitungen in ihren kommunalen Straßen und Wegen nur einem einzigen Versorger zu verleihen, die sogenannte Konzession. Allerdings verzichtete er auf einen Netzzugangsanspruch. Stattdessen wurde die Verpflichtung für Kommunen vorgesehen, ihre Wege für den Leitungsbau zur Versorgung von Letztverbrauchern diskriminierungsfrei zu öffnen. Das zielte auf das Instrument des Direktleitungsbaus ab: Ein (großer) Kunde hätte demnach einen Anspruch gegen die Kommune gehabt, ihre Wege für den Bau einer eigenen Direktleitung vom Umspannwerk des Regionalversorgers vor den Toren der Stadt zum Industrienetz zu öffnen. Dieses Instrument sollte die womöglich mildere Alternative, nämlich die Öffnung des Netzes des Regionalversorgers oder des Stadtwerks herbeiführen. Absehbar war allerdings, dass die Drohung, eine Direktleitung zu bauen, zwei bürokratische Hürden enthielt. Zum einen musste die Drohung, eine Direktleitung zu bauen, tatsächlich durch die Vorzeigbarkeit einer – teuren – Entwurfsplanung plausibel gemacht werden. Zum anderen war mit der Kommune über die Möglichkeiten und Kosten der Nutzung kommunaler Straßen und Wege für die Direktleitung zu sprechen, die sich vielfältige Einwendungen zum Schutz ihres konzessionierten Versorgers ausdenken konnte: Beides aufwändig!

Die Beteiligung des Bundesrats war vorgesehen. Dieser hielt das Reformkonzept allerdings für „wettbewerbspolitisch unzulänglich“88, was völlig richtig gesehen war. Er bemängelte das Fehlen von Regelungen über

 – die Organisation des Netzzugangs,

 – die getrennte Rechnungslegung für Erzeugungs-, Übertragungs- und Verteileraktivitäten,

 – die Verhinderung des Missbrauchs marktbeherrschender Stellungen zum Nachteil insbesondere der Verbraucher und zur Verhinderung von Verdrängungspraktiken;

jeweils unter Verweis auf einschlägige Regeln der Stromrichtlinie.

Schützenhilfe erhielt der Bundesrat von keinem geringeren als dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Papier, der in einem Aufsatz89 darauf aufmerksam machte, dass der Staat den Wettbewerb auf den Energiemärkten über viele Jahre hinweg beschränkt hatte, indem er Versorgungsmonopole zuließ: Der schon erwähnte § 103 GWB mit dem Recht der Kommunen zum Abschluss von Konzessionsverträgen mit Energieversorgern über 20 Jahre, ferner die Demarkationsverträge, mit denen sich Energieversorger wechselseitig versprachen, nicht in das Versorgungsgebiet des anderen einzudringen. Diese Demarkationsabsprache wurde freilich auch auf ein weiteres Instrument ausgedehnt, das im Gesetz gar nicht vorgesehen war: die sogenannte vertikale Demarkation (im Unterschied zur horizontalen mit den Konzessionsverträgen). Danach erhielt der vorgelagerte Energielieferant etwa für ein Stadtwerk das Recht zur ausschließlichen Belieferung für 20 Jahre. Eine Konkurrenz zwischen den Strom erzeugenden Konzernen und Gas importierenden Ferngasgesellschaften war damit von vornherein ausgeschlossen. Ein Lieferantenwechsel war also nur alle 20 Jahre möglich. Aber auch der wurde von den Strom- und Gaskonzernen mit allerlei Wohltaten für die Geschäftsführer verhindert. Auf derartige Strukturen machte Papier aufmerksam und entwickelte daraus ein Gebot verfassungskonformer „Grundrechtskonkretisierung“. Unternehmen und Kunden, die den Netzzugang reklamierten, könnten sich auf eine grundrechtlich garantierte Wettbewerbsfreiheit berufen, sei es, dass man sie auf die Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 oder auf die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG stützte: Interessant, weil damit die Grundrechte, die in der Auseinandersetzung mit Brüssel für eine Einschränkung des Netzzugangs eingesetzt worden waren, nunmehr für eine Netzöffnung dienstbar gemacht wurden. Das lief auf einen Anspruch gegen den Gesetzgeber auf Regelung eines Netzzugangsanspruchs hinaus.

Ein Netzzugangstatbestand wurde mit § 6 EnWG tatsächlich eingeführt, was nicht zuletzt energischem Drängen von Prof. Markert zu danken war.90 Auch wurde in § 6 Abs. 1 Satz 2 EnWG eine Verordnungsermächtigung für Regeln über die erforderlichen Verträge und die Bemessung von Netznutzungsentgelten geschaffen. Die Überschrift über dem Paragraphen lautete aber „Verhandelter Netzzugang“, was doch wohl verfehlt war. Allerdings liefen bereits seit Mitte 1997 Verhandlungen über eine Verbändevereinbarung zwischen der Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke (VDEW), dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und dem Verband Industrielle Kraftwirtschaft (VIK); einen „Durchleitungstatbestand“ lehnte die VDEW ab.91 Eine Verbändevereinbarung hielt die SPD-Bundestagsfraktion aber für unakzeptabel: Ihr energiepolitischer Sprecher befürchtete, „dass eine unverbindliche Vereinbarung zwischen an der Stromwirtschaft beteiligten Verbänden nicht ausreicht, um fairen Wettbewerb einzuführen“.92 Die in der Regelung angekündigte Rechtsverordnung müsse daher kommen.

Der Gesetzentwurf enthielt auch eine Vorschrift zur Rechnungslegung (§ 9 Abs. 2 Satz 1), mit der eine europarechtliche Vorgabe umgesetzt werden sollte. Schon dort fehlte aber der wichtigste Punkt, die Entflechtung zwischen Netz und Vertrieb, was wohl kaum aus Versehen passiert war. Deswegen enthielt sich die Branche weitgehend einer entsprechenden Entflechtung. Ferner fehlten Regelungen über die langfristigen Energiebezugsverträge der Stadtwerke. Das Ministerium verwies93 lapidar auf die „allgemeinen zivil- und kartellrechtlichen Regelungen und Grundsätze“. Cronenberg, Federführer im BMWI, äußerte gleichwohl die Erwartung, dass Stadtwerke ihre Vorlieferanten wechseln könnten. Nachdem der Bundestag den Einspruch des Bundesrates zurückgewiesen hatte, trat das Gesetz am 29.4.1998 in Kraft.

Vom Stromkartell zur Energiewende

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