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4. Der Wettbewerb bei Strom springt an: Die langfristigen Lieferverträge kippen
ОглавлениеEntgegen allen Erwartungen sprang der Wettbewerb auf dem Strommarkt rasch an. Das lag allerdings nicht am Bundeskartellamt. Die „kartellrechtlichen Regeln“, mit denen es das Geflecht der langfristigen Energielieferverträge, das sich über ganz Deutschland zog, hätte aufreißen können, blieben ungenutzt. Das Anspringen des Wettbewerbs hatte vielmehr zwei Auslöser, die eigentlich gar nicht im Interesse der Konzerne lagen:
Einer war der „Fall Waldshut-Tiengen“. Die kleine Kommune an der Schweizer Grenze, traditionell beliefert vom Badenwerk in Karlsruhe, wollte auf Initiative ihres wagemutigen Stadtwerkschefs Karl-Heinz Schilling vom Schweizer Unternehmen atel beliefert werden, das auf der Basis schweizerischen Stroms aus Wasserkraft weit günstigere Bezugspreise anbot. So schnell sich die Anwälte mit dem Verhandlungsführer von atel, einem schweizerischen „Fürsprech“, vergleichbar unserem Syndikus-Anwalt, einigten, so schwierig gestalteten sich die Gespräche mit dem Badenwerk. Dieses wollte schon von vornherein sein Netz nicht für die zu importierenden Strommengen öffnen, solange der langfristige Liefervertrag zwischen den Stadtwerken und dem Badenwerk nicht gelöst war. Ein einstweiliges Verfügungsverfahren auf Netzöffnung hatte zunächst beim Landgericht Mannheim keinen Erfolg. Eine Anfrage beim Gericht zum Procedere bei einer Beschwerde brachte eine unerwartete Wendung: Das Gericht stellte im Hauptsacheverfahren zur Wirksamkeit des Vertrages – das Badenwerk hatte in Verkennung der Reichweite einer kartellrechtlichen Vorschrift, ganz ohne Not, eine entsprechende Feststellungsklage anhängig gemacht – eine rasche Terminierung in Aussicht. Mit seinem Urteil vom 16.4.199994 erklärte das Gericht nicht nur die in dem Vertrag vereinbarte Bezugsbindung an das Badenwerk für rechtswidrig, vielmehr sei auch der ganze Vertrag nichtig, weil die Bezugsbindung ein tragendes Merkmal des Vertrages war. Das Urteil war eine Sensation! Die Badenwerker schlichen mit hängenden Ohren aus dem Gerichtssaal. Waldshut-Tiengen triumphierte – und senkte mit dem Wirksamwerden des Liefervertrages tatsächlich die Preise, wie das Oberbürgermeister Albers in der Gemeinderatssitzung angekündigt hatte. So brachte der Wettbewerb greifbare Ergebnisse.
Die Loslösung aus den langfristigen Verträgen hätte den Stadtwerken allerdings nichts gebracht, wenn es keine Lieferanten gegeben hätte, die bereit waren, mit besseren Preisen Wettbewerb zu machen. Da passierte etwas völlig Unerwartetes: Zum RWE-Konzern gehört die Tochter Heidelberger Druckmaschinen mit Sitz in Heidelberg, mithin im Netzgebiet des Badenwerkes, das gerade mit der EVS zur Energie Baden-Württemberg (EnBW) fusioniert wurde. RWE verlangte von der EnBW, ihre Tochter unter Inanspruchnahme des EnBW-Netzes selbst zu versorgen. Die Bedeutung dieses Verlangens ging weit über den Wunsch nach Befriedigung des Energiebedarfs im eigenen Konzern hinaus. Denn RWE erklärte damit, dass der Konzern nicht länger gewillt war, das System der geschlossenen Versorgungsgebiete zu achten, das – bezogen auf die Konzernebene – ja zugleich die stillschweigende Abmachung enthielt, dass sich die „großen Schwestern“ keinen Wettbewerb machen würden. Der Vorstoß von RWE war daher sehr, sehr weitreichend – aber EnBW musste sich ihm wegen der Änderung des rechtlichen Rahmens fügen.
Das geschah freilich nicht ohne Revanche. EnBW machte vielmehr jedem Stadtwerk im bisherigen Versorgungsgebiet von RWE Lieferofferten, das um solche ersuchte. EnBW stellte dafür eigens eine Armada von Stromhändlern ein, die teilweise nicht viel vom Geschäft verstanden, sondern nur vom Auftrag getrieben waren, der EnBW Kunden zu verschaffen, koste es, was es wolle. Das war übrigens keineswegs Frucht einer kurzfristigen Taktik. Vielmehr verfolgte EnBW damit eine grundlegend neue Strategie, nämlich die, das eigene Versorgungsgebiet massiv auszuweiten. Diese Strategie wurde nicht allein in Stuttgart ausgeheckt. Vielmehr stand dahinter ein deutsch-französisches Joint Venture: Das Land Baden-Württemberg hatte nämlich seine 45 %ige Beteiligung an den vormaligen Konzernen EVS und Badenwerk, die nach Fusion an der EnBW bestand, an die Electricité de France (EdF) verkauft. Die EdF, die in Frankreich keinerlei Neigung erkennen ließ, sich dem Wettbewerb zu öffnen, unterstützte als Beteiligungspartner der EnBW die entgegengesetzte Vorgehensweise. EnBW gründete Yello, eine Handelstochter mit Sitz in Köln, deren Aufgabe vor allem die Gewinnung von Haushalts- und kleineren Gewerbekunden war. Dafür wurde eine – nach Ansicht von Branchenexperten unsinnig teure – Werbestrategie aufgelegt. Mit der Formel 19/19 – 19 DM als monatlicher Grundpreis, 19 Pf. als Preis für die Kilowattstunde – wurden attraktive Angebote in den Raum gestellt und in Werbespots vor der Tagesschau aggressiv beworben. Freilich war der Anfang nicht so einfach. Zwar musste der wechselwillige Kunde lediglich eine Postkarte losschicken, mit der er nicht nur erklärte, Strom von Yello beziehen zu wollen, sondern auch die bisherigen Lieferdaten übermittelte und vor allem eine Vollmacht erteilte, den bisherigen Liefervertrag zu kündigen. Aber schon das war ein unübersichtlicher Vorgang, weil die Kunden erst lernen mussten, dass sie mit dem Wechsel des Versorgers keineswegs einen Zusammenbruch der bisherigen Netzverbindung befürchten mussten – und die Angst unbegründet war, dass bei einer Störung im Netz der bisherige Netzbetreiber (und Lieferant) nicht zur Stelle wäre.
So konnten nicht nur die Stadtwerke Solingen Strom für 3,6 Pf. für die Kilowattstunde beziehen, und zwar in einem längerfristigen Liefervertrag mit Verlängerungsoption. Auch zahlreiche andere Stadtwerke versorgten sich günstig mit EnBW-Strom. EnBW schickte sich auch an, in die Industriekundenklientel einzudringen. Etwa die Hälfte der deutschen Stromproduktion wird ja von Industriekunden und Stadtwerken aufgenommen. Die EnBW-Angebote waren häufig etwas günstiger als die der Konkurrenz. So gelang es EnBW Stück für Stück, das Liefervolumen auszuweiten. Für dieses Liefervolumen griff EnBW auf die Ressourcen der EdF zurück, daran erkennbar, dass EnBW der größte Stromimporteur war, und überdies Strom an der Leipziger Strombörse zukaufte. Die Yello-Preise sind allerdings inzwischen Geschichte.
RWE beobachtete dieses Treiben allerdings keineswegs widerstandslos. Vielmehr wurde der Fehdehandschuh aufgegriffen – und davon profitierte vor allem die Südweststrom GmbH, eine Tochter der Tübinger Stadtwerke, die unter ihrem tatkräftigen Chef Friedrich Weng bald zahlreiche baden-württembergische Stadtwerke zu ihren Gesellschaftern zählen konnte. EnBW hatte nämlich – vor dem Hintergrund der einmal eingeschlagenen Strategie durchaus folgerichtig – die zunächst eingelegte Berufung gegen das Urteil des Mannheimer Landgerichts in der Sache Waldshut-Tiengen zurückgenommen. Das war ein Signal an alle wechselwilligen Stadtwerke; sie liefen nicht das Risiko, auf Abnahme des langfristig kontrahierten Stroms verklagt zu werden, sondern genossen die neuartige Wahlfreiheit. Binnen kurzer Zeit wechselte etwa ein Drittel der baden-württembergischen Stadtwerke den Lieferanten.
Lieferant war freilich nicht allein RWE mit seinem günstigen Braunkohle- und Atomstrom. Braunkohlestrom konnte vielmehr günstig auch von der VEAG bezogen werden, an der RWE beteiligt war, Vorgängerin der heutigen Vattenfall. Es gab aber auch zahlreiche andere neue Player am Markt, etwa ENRON, eine Tochter des amerikanischen ENRON-Konzerns, die über keinerlei Eigenerzeugung verfügte, sondern Strom europaweit aufkaufte. Über die Bezugsmöglichkeiten und Lieferpreise orientierte das alltäglich erscheinende ENRON-Stromfax, in dem für die jeweiligen Standorte Lieferpreise ausgewiesen waren. Andere Lieferanten, die sich vor allem an Haushaltskunden wandten, waren Zeus, Riva, Best Energy – und die kleine Berliner Ampere AG, die später mit einer kühnen Aktion von sich reden machen sollte.
Die PreussenElektra und das Bayernwerk beteiligten sich an diesen Umbrüchen allerdings nicht in gleicher Weise. Das Bayernwerk verfügte über in langen Jahren gewachsene Lieferbeziehungen zu Stadtwerken, die – eine bayerische Besonderheit – kommunale Eigenbetriebe waren, also eher wie ein Amt der Stadtverwaltung organisiert, ohne privatrechtliche Gesellschaftsstruktur. Selbst die Münchener Stadtwerke, mit einem Absatz von etwa drei Mrd. kWh nach der Berliner Bewag – die man allerdings nicht als Stadtwerk bezeichnen kann – das größte deutsche Stadtwerk, war bis 1998 ein Eigenbetrieb. In der bayerischen Stadtwerksorganisation KEA wurden daher Wechselavancen zurückhaltend gesehen.
Anders war das bei den PreussenElektra-Töchtern Energie-Aktiengesellschaft Mitteldeutschland (EAM) mit Sitz in Kassel, an der bis 2005 Landkreise mit 54 % die Mehrheit hielten, und HASTRA in Hannover, die mit ca. 64 % zum Preussen-Elektra-Konzern gehörte. Die EAM-Strombezieher, eine Arbeitsgemeinschaft von gut 20 Stadtwerken in Nordhessen und Süd-Niedersachsen, luden zu einer Strom-Konferenz ein, auf der vier Lieferanten ihre Lieferbereitschaft und Preise bekannt geben sollten. Dazu zählte vor allem VASA, eine Stromhandelsgesellschaft, in der schwedisches Kapital steckte, sowie die EAM, die wohlweislich als Letzte auf die Tagesordnung gesetzt worden war. So hatten die Stadtwerke schon die Lockangebote der Konkurrenten gehört, auf die die Vorstellungen der EAM folgten. Dargeboten wurden diese freilich nicht von einem EAM-Mitarbeiter, sondern von einem (der wenigen) PreussenElektra-Strategen, der die Festlegungen des Konzerns bekannt gab. Diese waren allerdings nicht rundweg abzulehnen; vielmehr näherte sich die Preisstellung deutlich den Preisen der Konkurrenten (mit Aussicht auf Verbesserung). Dahinter war die Strategie zu erkennen, dass PreussenElektra die Zeichen der Zeit begriffen hatte: Die Stadtwerke sollten nicht mit der Drohung bei der Stange gehalten werden, in jedem Einzelfall um die Loslösung aus dem Vertrag kämpfen zu müssen. Vielmehr wollte man die Stadtwerke mit guten Konditionen bei der Stange halten – und so die Lieferbeziehungen retten. Diese Strategie hat denn auch über Jahre hinweg funktioniert; wobei sich die Kundenpflege auszahlte, die EAM mit Kundenveranstaltungen betrieben hatte, endend in opulenten Essen.
Der Preiskampf war allerdings für ein Unternehmen wie EnBW nicht lange durchzuhalten. EnBW ist der kleinste der – verbliebenen – vier Konzerne und verfügt nur etwa über 10 % der deutschen Kraftwerkskapazitäten, zu denen freilich mit Philipsburg, Neckarwestheim und – bis 2005 – Obrigheim drei Kernkraftwerke mit ihrem Strom zählten, der Herstellungskosten von maximal 3 bis 3,5 Pf/kWh aufweist. Dabei handelte es sich um Grundlaststrom; Kohlekraftwerke für die Mittellast und Gaskraftwerke für die Spitzen sind im EnBW-Konzern nicht viele vorhanden. Das Niveau der Einkaufspreise bei EdF und an der Börse lag sicherlich über den eigenen Produktionskosten. Dazu kamen einige teure Akquisitionen: So kaufte sich EnBW mit letztlich 54,95 % bei den Stadtwerken Düsseldorf ein. Dazu erwarb Konzernchef Goll die notleidende Schuhfabrik Salamander, wofür freilich wohl nicht energiestrategische Überlegungen ausschlaggebend waren, sondern die Freundschaft von Goll zu Salamander-Chef Dazert. So sackte das Eigenkapital des Konzerns immer mehr zusammen und landete schließlich bei ca. 6 % – was Konzernchef Goll den Job kostete. Aber auch sein Nachfolger Utz Classen hielt an der Expansionsstrategie fest und kaufte Beteiligungen an den Stadtwerken Monheim und Hilden. Salamander freilich wurde verkauft.
Irgendwann einmal müssen sich die Vorstände und RWE und EnBW getroffen haben, um den aggressiven Wettbewerb zu beenden. Die Verständigung könnte so gelautet haben, dass für die Preisbildung der Konzerne im Grundsatz die Preisstellungen der Leipziger Strombörse EEX maßgeblich seien. Der neue Konzernchef Roels erklärte, „das Preisdumping war ein Fehler“.95 Seit dieser Zeit stiegen die Preise kontinuierlich bis zur Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 an, angetrieben von den Preisfindungen an der Börse – an der wohl nicht alles mit rechten Dingen zugegangen ist.