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Einkaufsbummel

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Die Party hatte sich bis in den frühen Morgen hineingezogen, und so war am nächsten Tag erst mal Ausschlafen angesagt, jedenfalls für die Kinder. Es war Sonntag, man hatte keine Verpflichtungen, und so konnte man den Tag ganz ruhig angehen lassen. Erst für den Nach­mittag hatten sich Chan und Jiao zu einem Stadtbummel verabredet, vielleicht auch ein bißchen durch die Geschäfte zu schauen. Es war für sie immer wieder ein Vergnügen, mal so richtig losgelöst und entspannt, frei von jedem Termindruck, durch die Straßen und Ge­schäfte zu schlendern, hier und da nach Neuigkeiten zu schauen, bei einer Tasse Tee im Straßen­café die vorbeiziehenden Leute zu beobachten und sich während der ganzen Zeit von Frau zu Frau zu unterhalten. Und da gab es immer unglaublich viel zu erzählen.

Es war so gegen Mittag, als Jiao aus ihrem Zimmer auftauchte. Sie sah immer noch sehr ver­schlafen aus, vergewisserte sich bei Chan, ob es bei ihrer Verabredung bliebe, und ging dann in den Garten, um ihre morgendlichen Übungen zu machen. Anschließend ging sie duschen, aß zwei, drei Baozi und meldete sich dann mit einem: „All right, Mam, I´m ready to go now bei Chan zum Abmarsch.

Es war ein schöner, sonniger Tag, und so gingen sie, sommerlich leicht bekleidet, über den Runway zur nächsten Busstation. Es dauerte keine zwei Minuten, bis der Bus kam. Sie stiegen ein und waren nach knapp zehn Minuten in der Innenstadt.

Die Geschäfte hatten gewöhnlich jeden Tag geöffnet, wochentags in der Regel von acht Uhr morgens bis zehn Uhr abends, Sonntags von zehn Uhr morgens bis acht Uhr abends. Das konnte zwar jeder Geschäftsinhaber ganz individuell so regeln, wie er es für richtig hielt, denn Vorschriften bezüglich der Öffnungs­zeiten gab es schon lange nicht mehr, aber fast alle hielten ihren Laden während dieser ganzen Zeit geöffnet. Das war ein sehr großer Vorteil für die Kundschaft, denn Einkaufen-müssen unter Zeitdruck und in völlig überfüllten Geschäften, das war vorbei. Man konnte jetzt völlig streßfrei, ganz entspannt und ohne Ge­dränge durch die Geschäfte gehen, ein richtiges Vergnügen.

„Ich möchte heute auch mal wieder in die kleine Mode-Boutique am Münster reinschauen, die haben immer so süße Sachen“, sagte Jiao.

„Ja, das ist eine gute Idee“, pflichtete Chan ihr bei. „Da kaufe ich auch sehr gerne ein. Die Verkäuferin ist ausgesprochen nett, und sie kann einen wirklich fachmännisch und gut bera­ten, ohne einem nach dem Munde zu reden oder gar aufdringlich zu werden. Ich habe bisher noch keinen einzigen Einkauf dort bereuen müssen.“

Sie kannte diese Verkäuferin schon seit ein paar Jahren, denn sie hatte das Geschäft schon bald, nachdem sie nach Ulm gezogen waren, entdeckt und seitdem mehr oder weniger regel­­mäßig dort eingekauft. Die Verkäuferin war ihr sehr sympathisch, und sie hatte wirklich Ahnung von ihrem Metier und einen guten Geschmack. Sie hatte auch einen sicheren Instinkt dafür, welche Garderobe zu welchem Typ paßt, und konnte ihre Kunden daher ent­sprechend gut beraten.

Am Bahnhof angekommen, sagte Chan: „Du, mir fällt gerade ein, daß wir für heute abend noch ein paar Lebensmittel einkaufen müßten. Das machen wir am besten gleich jetzt am Anfang, dann ist es erledigt, und wir müssen uns damit nicht mehr belasten.“

„Aber das können wir doch auch von zu Hause aus via WorldNet erledigen“, wandte Jiao ein.

„Natürlich, könnten wir“, entgegnete Chan, „aber ich suche mir die Sachen lieber durch eige­ne Inaugenscheinnahme aus als über den Bildschirm.“

„Da bist du vielleicht doch ein wenig altmodisch“, bemerkte Jiao schmunzelnd.

„Nenn’ es, wie du willst. Mir ist es jedenfalls lieber so.“ Sie machte eine kurze Pause, dann ergänzte sie: „Du schaust dir die Sachen ja offensichtlich auch lieber vorher an, bevor du sie kaufst. Sonst würdest du ja heute nicht mit mir diesen Einkaufsbummel machen.“

„Ja, ja. Aber es ist doch etwas anderes, ob ich Lebensmittel oder Klamotten kaufe. Kla­motten will ich selbstverständlich erst in Natura sehen, bevor ich mich entscheide. Außerdem muß ich sie ja auch vorher anprobieren, um zu sehen, ob sie mir überhaupt passen und ob sie mir auch stehen.“

„Der Einwand ist berechtigt“, gab Chan zu, „aber ich möchte eben auch die Lebensmittel mit eigenen Augen in Natura sehen, bevor ich sie kaufe. Altmodisch hin oder her.“

„Na gut, dann gehen wir halt jetzt die Lebensmittel aussuchen.“

Sie gingen in das große Einkaufszentrum am Bahnhof, in die Lebensmittelabteilung. Am Ein­gang der Abteilung bekamen sie ein kleines Fernbedienungsgerät in die Hand gedrückt, das sie an der Kasse später wieder abgeben sollten. Es hatte ein kleines Display und ver­schie­dene Tasten, mit Hilfe derer sie die gewünschten Artikel auswählen konnten. Im Laden waren die Artikel sehr über­sichtlich in langen Regalen, eines neben dem anderen, aufgereiht – jeweils immer nur ein Ansichtsexemplar pro Artikel und davor ein Schild mit einer kurzen Artikel­beschrei­bung und dem Preis. Sie gingen zügig durch die Reihen, und hier und da hielt Chan die Fernbedienung auf einen Artikel gerichtet, las dann auf dem Display die Artikel­bezeichnung und den Preis, um sicher zu gehen, daß sie den gewünschten Artikel ‚getroffen‘ hatte, und gab schließlich die gewünschte Stückzahl mit Hilfe der Tastatur ein. Das Display zeigte den Preis ‚Artikel mal Anzahl‘ und darunter den Gesamtpreis aller bisher ausgewähl­ten Artikel. Es dauer­te kaum fünf Minuten, da hatten sie alles geordert und standen an der Kasse. Chan hatte schon auf dem Weg dorthin auf die Taste ‚Warenausgabe‘ an der Fern­bedienung gedrückt, und sogleich kam ein Warenkorb mit den ausgewählten Artikeln auf dem Förderband angerollt. Die ‚Heinzelmännchen‘, so nannten sie hier die Roboter, die im Lagerraum alle im Laden ausge­wähl­ten und über Funk gemeldeten Artikel für jeden Kunden zusammen­trugen und im Waren­korb auf das Band stellten, hatten so schnell gearbeitet, daß die beiden nicht warten mußten. Chan warf einen prüfenden Blick auf den Inhalt, insbeson­dere auch auf den Frische-Zustand von Obst und Gemüse, und stellte fest, daß alles in Ord­nung war. Deshalb betätigte sie jetzt die Taste ‚Bestätigen‘ auf der Fern­bedienung, worauf der Kassenbon ausgedruckt wurde. „Okay“, sagte sie zu der Kassiererin, „liefern sie mir bitte die Ware bis spätestens sieben Uhr nach Hause.“

„Ja, gern“, antwortete die Kassiererin.

Es gehörte einfach zum Service, daß den Kunden die eingekauften Waren nach Hause ge­lie­fert wurden.

Chan holte ihren PACCS hervor und aktivierte ihn. Dann sprach sie hinein: „Ident-Code“. Nach­dem dieser gesendet war, hatte PACCS als Antwort den Rechnungsbetrag von der Kasse empfan­gen und auf seinem Display dargestellt. „Okay“, bestätigte Chan, nachdem sie die Rich­tig­keit des Betrages geprüft hatte, und der Rechnungsbetrag wurde von ihrem Fami­lienkonto abgebucht. „Adresse“, sagte sie dann in den PACCS, woraufhin dieser Straße, Hausnummer und Koordinaten ihrer Wohnung an das Kassenterminal sendete. Auf ihrem Display las sie die Antwort: ‚Danke für ihren Einkauf, die Ware wird sofort geliefert.

Damit war die Pflichtübung beendet, jetzt konnten sie gewissermaßen zur Kür übergehen. Sie schlenderten gemächlich die Hirschstraße Richtung Münster entlang. Unterwegs schau­ten sie sich die Auslagen in den Schaufenstern an, gingen in einen und den anderen Laden hinein, begut­achteten dieses und jenes, probierten hier ein Blüschen und dort ein Jäckchen, kauften ein paar nette ‚Teile‘ und hatten gerade beschlossen, die Shoppingtour zu beenden, denn sie fühlten sich allmählich etwas ermüdet vom langsamen Gehen und vielen Stehen, als Jiao plötzlich laut jauchzte vor Freude und wild gestikulierend auf eine Modepuppe zeig­te: „Schau mal Mam, ist der Pulli nicht süß? Du, der gefällt mir! Was meinst du, ob der mir paßt?“

„Hm . . . Ja, . . . der sieht nett aus“, pflichtete Chan ihrer Tochter etwas bedächtig bei.

„Nett? Der ist doch bildhübsch!“ protestierte Jiao. „Ich finde den einfach super!“

„Ja, wenn er dir so gut gefällt, dann probier‘ ihn doch mal an“, ermunterte Chan sie.

„Ja, meinst du wirklich, ich soll?“

„Natürlich, warum denn nicht?“

Jiao zögerte. „Hm . . . Naja, . . . die Sache ist die: Ich weiß nicht, ob mein Budget das noch her­­gibt.“

„Ach so!“ zeigte Chan sich erstaunt. „Bist du schon wieder am Limit, obwohl wir noch nicht einmal den Fünfzehnten haben?“

Jiao zögerte einen Moment, schaute noch einmal wehmütig zu dem schönen Pulli rüber und sagte dann fest entschlossen: „Du hast recht! Ich muß endlich Haushalten lernen. Komm, laß uns gehen!“

Das hatte Chan nun auch wieder nicht gewollt. Sie fühlte, wie groß der Wunsch ihrer Tochter war und wie sehr sie jetzt enttäuscht sein mußte. Deshalb sagte sie: „Jetzt probier‘ ihn doch wenigstens erst mal an. Vielleicht paßt er dir ja gar nicht, oder er steht dir nicht. Dann hast du dich wenigstens nicht umsonst geärgert.“

Jiao zögerte noch.

„Nun komm schon!“ forderte Chan sie nochmal auf. „Ich möchte auch gern sehen, ob er dir steht. Also komm!“

Sie gingen zu der Puppe und sahen sich das gute Stück aus der Nähe an, schauten nach der Größe, nach dem Material, begutachteten die Qualität, und waren noch ganz in ihr Fach­gespräch vertieft, als eine Verkäuferin bei ihnen erschien und fragte, ob sie helfen könne.

Ja, das konnte sie. Jetzt bekamen die beiden all ihre Fragen zu ihrer Zufriedenheit beant­wor­tet. Und es war auch noch ein Exemplar in Jiaos Größe da, das sie sogleich anprobierte.

„Ist es nicht süß?“ fragte Jiao wieder ihre Mutter vor lauter Entzücken. „Und es paßt wie an­ge­­gossen!“

„Ja, es ist wirklich sehr schön und steht dir gut“, bestätigte Chan aufrichtig.

Jiao schaute sie mit vor Glück strahlenden Augen an, bis Chan endlich sagte: „Na, dann nimm es doch! Worauf wartest du noch?“

Jiao machte einen Luftsprung. „Schön, daß es dir auch so gefällt!“

Sie ließen sich den Pulli einpacken und gingen zum Kassenterminal.

„Warte mal“, sagte Jiao zu ihrer Mutter, als sie bemerkte, daß diese gerade ihren PACCS zur Bezahlung vorbereiten wollte. „Ich will erst mal sehen, ob es bei mir vielleicht doch noch reicht.“

Sie wußte sehr wohl, daß dies nicht der Fall war, dennoch fühlte sie sich zu dieser Geste des guten Willens irgendwie verpflichtet. Sie wollte nicht, daß es so aussähe, als nutzte sie die Situation aus, um über den ihr zur Verfügung stehenden monatlichen Budget­rahmen hinaus noch ein paar Dinge ‚abzustauben‘. Und sie wollte sich auch in der Tat an diesen Rahmen halten. Aber jetzt war sie unversehens in eine Konfliktsituation geraten, denn der Pulli war Liebe auf den ersten Blick. So ein Stück würde sie so schnell nicht wieder finden.

Sie schaute auf ihren PACCS, sagte: „Verfügungsrahmen!“ Das Display zeigte 3,10 Euro. „Mist! Es reicht tatsächlich nicht!“ sagte sie enttäuscht.

„Nun laß mal sein“, sagte Chan beschwichtigend. „Ich schenke dir den Pulli, aber wir reden zu Hause nicht darüber, okay?“

„Du bist großartig, Mam!“ strahlte Jiao sie an. „Aber ich möchte es eigentlich nicht. Weißt du, es ist ein bißchen unfair gegenüber meinen Brüdern, die ja auch mit ihren Budgets aus­kom­men müssen. Und außerdem will ich ja auch wirklich mit meinem auskommen. Ich habe ein ganz schlechtes Gewissen, wenn ich das nicht schaffe und wegen der paar Klamotten über­ziehe. Ich muß mal endlich lernen, zu verzichten.“

„Ich nehme die gute Absicht für die Tat“, sagte Chan und freute sich über die aufrichtige Ein­stellung ihrer Tochter. „Es ist alles richtig, was du sagst. Aber in begründeten Fällen darf man auch mal eine Ausnahme machen. Dies ist so ein Fall. Es würde dich unglücklich machen – und damit auch mich –, wenn du diesen schönen Pulli, der dir wirklich sehr gut steht, jetzt nicht mitnehmen könntest. Und im nächsten Monat ist er dann vielleicht schon vergriffen.“

„Wir können das ja so machen, daß du es mir auslegst, und ich gebe es dir von meinem nächsten ‚Gehalt‘ zurück“, schlug Jiao vor.

„Der Vorschlag ehrt dich, mein Kind. Aber wir machen jetzt, wie ich schon sagte, eine Aus­nahme – eine Ausnahme, wohlgemerkt!“

Jiao schwankte zwischen Freude und Gewissensbisse. Dann umarmte sie ihre Mutter, gab ihr einen Kuß auf die Wange und sagte freudestrahlend: „Danke, Mam.“

Chan ließ den Betrag von ihrem PACCS abbuchen, und beide schlenderten Arm in Arm und sichtlich zufrieden aus dem Geschäft.

„Komm, laß uns runter ins Fischerviertel gehen, in dieses nette Café, wo es den guten grünen Tee gibt“, schlug Jiao vor. „Das hat Südwest-Seite, da können wir uns noch ein biß­chen in die Sonne setzen und für den Heimgang erholen.“

„Ja, das ist eine gute Idee“, pflichtete Chan ihr bei.

Sie hatten Glück, denn es wurde gerade ein Tisch frei. „Ein Platz an der Sonne, wie schön!“, rief Jiao begeistert aus. Sie bestellten ihren Lieblingstee und etwas Gebäck. „So könnte ich das jetzt ´ne ganze Weile aushalten“, sagte Jiao, nachdem sie es sich auf ihrem Stuhl so richtig bequem gemacht hatte. Sie streckte sich lang aus, der Sonne entgegen, um noch möglichst viele der wärmenden Strahlen aufzufangen. „Ich bin jetzt doch ziemlich müde“, sagte sie. „Das habe ich vorher beim Einkaufsbummel gar nicht so gemerkt. Da macht sich die kurze Nacht bemerkbar.“

„Wie war denn eure Party gestern abend?“ fragte Chan. „Als wir so gegen Neun mal kurz rein­schauten, schienen ja alle sehr fröhlich und ausgelassen zu sein. Ihr habt euch wohl sehr gut amüsiert, was?“

„Ja, ja, es war ganz prima, wir hatten viel Spaß“, begann Jiao zu erzählen. Sie unterhielten sich wie zwei beste Freundinnen. „Ach, der Alexander hat mich übrigens gestern abend noch mal darauf angesprochen, ob er nicht mal mit uns nach China kommen könnte. Was hältst du davon? Spräche da irgend etwas dagegen?“

„Nein, im Prinzip nicht. Wir können ihn schon mal mitnehmen, allerdings nicht diesmal, das wäre jetzt zu kurzfristig.“ Chan zögerte einen Moment, dann sagte sie nachdenklich: „Wir müßten uns dann ja auch erst mal in Ruhe überlegen, wie wir ihn dort die ganze Zeit be­schäftigen. Während der Unter­suchungen können wir uns jedenfalls nicht um ihn kümmern, und die dauern ja, wie du weißt, immer ziemlich lange. Und auch bei deinen Großeltern können wir ihn nicht die ganze Zeit dabeihaben. Es gibt ja immer eine ganze Menge per­sönliche Dinge zu besprechen. Und wenn wir einen Gast im Haus haben, dann können wir uns auch nicht die ganze Zeit auf chinesisch unterhalten, das wäre unhöflich.“

„Ja, da hast du natürlich recht, das habe ich jetzt gar nicht bedacht. Vielleicht können wir für ihn irgendeine Site Seeing Tour organi­sieren? Dann käme er ein bißchen herum, sähe was vom Land und wäre für eine Weile beschäftigt. Und für eine Woche könnten wir ihn doch sicher bei uns zu Gast haben, oder?“

„Ja, natürlich, das ginge auf jeden Fall. Wir sind ja schließlich auch zum Urlaub dort“, und dabei dehnte sie das „auch“ betont lang. „Wie findest du ihn eigentlich?“ fragte sie etwas überraschend für Jiao.

„Wie kommst du jetzt plötzlich auf diese Frage?“ antwortete Jiao etwas verlegen.

„Weibliche Intuition! Ich habe in letzter Zeit so den Eindruck, daß er sich etwas um dich be­müht, kann das sein? Oder sollte ich mich da täuschen?“

„Ja, das kann schon sein, jedenfalls habe ich auch diesen Eindruck, obwohl er sehr zurück­haltend ist – also nicht aufdringlich, meine ich. Aber es gibt da schon immer wieder so kleine Anzeichen.“

„Und, wie findest du ihn?“ fragte Chan. Sie hatte den Eindruck, daß sich das Gesicht von Jiao ganz zart ins Rötliche verfärbte, deshalb fügte sie schnell hinzu: „Du brauchst mir nicht zu antworten. Ich wollte auch gar nicht in deine Privatsphäre eindringen, aber du weißt ja – die weibliche Neugier, pardon!“

„Ja, ist schon gut! Ich will auch gar kein Geheimnis daraus machen, es gibt nämlich keines. Ich finde ihn so als Freund wirklich nett, aber das ist auch alles!“

Sie plauderten noch ein Weilchen, obwohl sie ihren Tee schon lange ausgetrunken hatten. Es war einfach schön, so gemütlich in der Nachmittagssonne zu sitzen und sich nett zu unterhalten. Sie genossen es. Als sich die Abendsonne soweit gesenkt hatte, daß es schattig und kühl wurde, brachen sie auf, um sich auf den Heimweg zu machen. Unterwegs faßte Jiao ihre Mutter bei der Hand und sagte: „Es war schön heute, Mam. Ich gehe gern mit dir ‚shoppen‘. Aber nicht nur, weil du mir heute den Pulli geschenkt hast, sondern vor allem, weil es einfach wunderbar ist, mit dir durch die Stadt zu bummeln und sich zu unterhalten.“

Noch am selben Abend, als die ganze Familie beim Abendessen zusammensaß, fragte Jiao ihren Vater so ganz beiläufig: „Sag mal, Paps, kannst du dich eigentlich noch erinnern, wann du uns das letzte Mal unseren Verfügungsrahmen erhöht hast? Das muß doch schon eine Ewigkeit her sein, oder? Ich kann mich nämlich überhaupt nicht mehr daran erinnern.“

Da spitzten die Jungs sofort ihre Ohren, denn auch sie waren regelmäßig schon vor jedem Ultimo klamm. Sie witterten eine Chance und schlugen spontan in dieselbe Kerbe: „Das stimmt!“ rief Long. „Das muß schon ewig her sein! Inzwischen frißt uns die Inflation schon fast unser ganzes Budget auf.“

Qiang schaute zunächst etwas verdutzt in die Runde, lächelte verhalten und bemerkte dann spitz: „Euer Kurzzeitgedächtnis scheint etwas getrübt zu sein. Das solltet ihr dringend mal wieder trainieren.“

Kurze Pause, während der er allen dreien nacheinander erwartungs­voll und bestimmt zu­gleich in die Augen schaute. „Also, ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wann wir unsere letzte ‚Tarifverhandlung‘ hatten – das ist jetzt gerade mal acht Monate her! Und was die Inflation anbetrifft, mein Sohn, müßtest du wissen, wenn du dich tatsächlich dafür interes­sier­test, daß die seit längerer Zeit sehr moderat gewesen ist.“

Die Kinder waren einen Moment sprachlos. Diese Antwort bot ihnen keinerlei ‚Angriffsfläche‘. Sie war offenbar faktisch richtig, jedenfalls klang es alles sehr überzeugend. Einen Gegen­beweis konnten sie nicht antreten. Ihnen fehlten die Argumente, das merkten sie jetzt sofort. Sie hatten ihr Ansinnen nicht gut vorbereitet.

So blieb Jiao nur der ‚geordnete Rückzug‘: „Schade! Aber einen Versuch war’s wert. Mir kommt es jedenfalls so vor, als wenn alles viel teurer geworden ist in der letzten Zeit.“

„Es mag schon sein, daß es dir so vorkommt, weil du dauernd ‚Ebbe‘ im Portemonnaie hast“, entgegnete Qiang. „Aber ich denke, das liegt weniger an gestiegenen Preisen, als vielmehr an dei­nen gesteigerten Ansprüchen und Wünschen.“

„Also, so anspruchsvoll bin ich ja nun wirklich nicht!“ protestierte Jiao. „Da mußt du erst mal die anderen in meiner Jahrgangsstufe sehen, was die sich alles leisten können!“

„Was die anderen machen, ist für mich nicht beispielgebend. Ich entscheide so, wie ich es für richtig halte. Und ich vertrete die Auffassung, das weißt du auch schon länger, daß man bereits in frühem Alter lernen sollte, den Wert der Dinge richtig einzuschätzen und nicht ver­schwenderisch damit umzugehen – so etwa nach der Devise: Einmal getragen und dann weg damit; dann muß Neues her.“

„Das habe ich noch nie so gemacht, das weißt du auch!“ protestierte Jiao heftig.

„Ja, das weiß ich, und darüber bin ich auch sehr froh“, entgegnete Qiang beschwichtigend. „Ich über­spitze es jetzt ganz bewußt ein bißchen, um zu verdeutlichen, was ich meine.“

„Ein bißchen?“ monierte Jiao wieder.

„Jetzt laß uns nicht um Worte streiten und jedes Wort gleich auf die Goldwaage legen. Es geht mir ums Prinzip!“ entgegnete Qiang etwas ungehalten. „Ich war schon immer ein Geg­ner der sogenannten Wegwerfmentalität, und zwar nicht nur, weil ich davon überzeugt bin, daß es den Charakter verdirbt, wenn man ständig aus dem Vollen schöpfen kann, ohne sich den erreichten Wohlstand selbst erarbeitet und die dazu notwendigen Mühen am eigenen Leibe erfahren zu haben, sondern auch, weil es sich unsere ganze Gesellschaft nicht leisten kann, unsere immer knapper werdenden Ressourcen auf diese Weise sinnlos zu verschwen­den, ohne an die Lebenschancen der nachfolgenden Generationen zu denken. Die Produkte, die wir heute auf den Markt bringen, sind qualitativ so gut, daß sie jahrelang halten. Es besteht sach­lich überhaupt kein Grund, dauernd etwas Neues zu kaufen!“

„Paps! . . . Ich kann doch nicht jahrelang mit denselben Klamotten rumlaufen! Selbst wenn sie noch ordentlich aussehen! Was sollen denn die anderen von uns denken? Außerdem kommen wir ja nun auch nicht gerade aus dem Armenhaus, wir können es uns ja leisten, mal was Neues zu kaufen“, widersprach Jiao sichtlich erregt.

„Darum geht es doch gar nicht. Ich glaube, du hast mich immer noch nicht verstanden“, bemühte sich Qiang, geduldig zu bleiben. „Sieh mal, wir nagen glücklicherweise nicht am Hungertuch. Wir können es uns in der Tat leisten, öfter mal etwas Neues zu kaufen. Und das tun wir ja auch. Aber wir tun es nur dann, wenn wir es für nötig erachten, nicht weil wir unbedingt mal wieder etwas Neues haben müssen. Ihr sollt lernen abzuwägen, ob eine Sache jetzt wirklich notwendig und sinnvoll ist oder nicht; ob das alte Teil nicht vielleicht doch noch gut genug ist. Es geht mir um den Überfluß und die Verschwendungssucht! Ich bin der Meinung, ihr habt in der Tat keinen Grund, euch zu beklagen. Es geht euch gut, und ihr seid auch bestens bei uns hier versorgt. Ihr habt alles, was ihr braucht. Und selbst, wenn du über Mode redest, kannst du dich nicht beklagen. Du hast reichlich viele Sachen im Schrank, und du hast ein bestimmtes Budget, um dir hin und wieder ein paar neue Teile zu kaufen. Und nun lerne, damit umzugehen.“

Für einen Moment herrschte betretenes Schweigen.

„Ich denke, das haben unsere Kinder schon gelernt, Qiang“, versuchte Chan behutsam zu ver­mit­teln. „Sie sind eigentlich nicht sehr anspruchsvoll, das kann ich wirklich nicht sagen. Diese Grund­einstellung zu den Werten, wie du sie gerade angesprochen hast und worauf es uns vor allem ankommt, die haben wir ihnen, denke ich, bereits nachhaltig vermittelt. Das schließt ja aber nicht aus, daß man gelegentlich denn doch mal den einen oder anderen Wunsch hegt, obwohl man es nicht unbedingt braucht. Es gibt ja auch Dinge, die einem auf Anhieb so gut gefallen, daß man sie – wie sagt man immer: ‚Um jeden Preis‘ – haben möchte.“

„Genau!“ rief Jiao laut und deutlich dazwischen, um die Argumentation ihrer Mutter demon­strativ zu unterstützen.

„Das geht uns Erwachsenen genauso wie den Kindern“, setzte Chan ihren Gedankengang fort. „Wir leisten uns ja auch hin und wieder Dinge, die wir nicht unbedingt brauchten, die uns aber eine besondere Freude bereiten. Solange sich das alles in überschaubarem und vertretbarem Rahmen bewegt, ist dagegen meines Erachtens überhaupt nichts einzu­wenden. Das gleiche Recht, das wir uns nehmen, müssen wir dann aber auch unseren Kindern zugestehen – zumindest, wenn wir den Eindruck haben, daß sie die Lektion gelernt haben. Also, langer Rede kurzer Sinn: Ich denke, unsere Kinder haben bereits verinnerlicht, was wir ihnen in dieser Hinsicht vermitteln wollten. Sie können im Großen und Ganzen recht gut mit dem ihnen anvertrauten Budget umgehen. Es besteht somit kein Anlaß zur Sorge für uns, sie könnten sich angewöhnen, über die Stränge zu schlagen. Deshalb müssen wir auch keine übertriebene Strenge demonstrieren.“

Die Kinder bekamen ganz glänzende Augen und schauten erwartungsvoll auf ihren Vater.

Qiang hatte seiner Frau aufmerksam zugehört, und ihre Argumentation schien ihn etwas nach­­denk­lich gemacht zu haben. Jedenfalls nahm er sich etwas Zeit, bevor er schließlich antwor­tete: „Ich denke, über zu große Strenge können sich unsere Kinder nun wirklich nicht bekla­gen. Und hier geht es auch nicht um Strenge, sondern um die Vermittlung von Werten bezie­hungsweise Wertvorstellungen, also um eine eher grundsätzliche Einstellung zum Leben und zu den Dingen unserer Welt. . . . Wenn wir hier mehrheitlich der Meinung sind, in diesem gerade diskutierten Punkt unser Ziel bereits erreicht zu haben, dann wäre ich schon sehr zufrieden.“

Wieder legte er eine Pause ein, und noch immer schauten die Kinder gespannt und erwar­tungs­voll auf ihn, als wollten sie sagen: Nun mach’s nicht so spannend; sag endlich, ob wir einen Zuschuß bekommen oder nicht.

„Dann wäre ich schon sehr zufrieden“, wiederholte er, „und dann wäre ich auch eher geneigt, wohlwollend über eure finanziellen Spielräume nachzudenken.“

„Juhu!“ riefen die Kinder spontan und machten kleine Luftsprünge.

Es entspann sich eine lebhafte Diskussion über die Höhe ihrer Budgetsteigerungen, an de­ren Ende man sich gütlich auf einen für alle Seiten befriedigenden Kompromiß ver­ständigte.

Die Wangs hatten, wie allgemein üblich, ein gemeinsames Bankkonto für die ganze Familie, das jedes Familienmitglied entsprechend seinem individuell festgelegten Verfügungsrahmen nutzen konnte. Da es Bargeld schon seit längerem nicht mehr gab, liefen sämtliche Geld­transfers auf rein elektronischem Wege ab. Bei jedem Transfer wurden automatisch von der Bank dreißig Prozent des Betrages eingezogen, wovon zwanzig Prozent als Steuer ans Finanzamt und zehn Prozent an die Sozialversicherung überwiesen wurden. So hatte dieses Verfahren für die Gesellschaft den großen Vorteil, daß keine Einkünfte mehr am Fiskus und an den Grundversicherungen vorbei geschleust werden konnten, und für jeden einzelnen, daß dadurch die Höhe der Steuer- und Versicherungsbeiträge auf ein vergleichsweise niedri­ges Maß reduziert wurde. Außerdem enthob es jeden Bürger von der lästigen Notwendigkeit, immer genügend Bargeld mit sich herumschleppen zu müssen, das man unter Umständen verlieren, das einem vielleicht auch mal gestohlen werden oder das möglicherweise, wenn man Pech hatte, auch noch gefälscht sein konnte. Die Idee des Familienkontos war primär aus dem Gedanken heraus entstanden, familieninterne Transfers – und damit eben auch die in diesem Falle ungerechtfertigten Abzüge in Höhe von dreißig Prozent – zu vermeiden.

Qiang aktivierte seinen PACCS und sagte: „Bankverbindung!“

Prompt kam die Antwort: „Welche Aktion möchten Sie durchführen?“

Die elektronische Verarbeitung bot den Vorteil ständiger Bereitschaft. Die Bank war rund um die Uhr, sieben Tage in der Woche, für jeden Kunden verfügbar. Und die elektronische Sprach­­eingabe und -ausgabe waren inzwischen so perfektioniert, daß man aus der Ferne kaum unterscheiden konnte, ob das Gegenüber ein Mensch oder eine Maschine war.

Qiang brauchte sich nicht zu identifizieren, da sein Ident Code automatisch mit dem Verbin­dungs­aufbau übertragen und im Bank-Computer verifiziert wurde, nachdem zuvor der inte­grierte Sprach­analysator die ‚Stimme seines Herren‘ eindeutig erkannt hatte.

„Verfügungsrahmen ändern!“ sagte Qiang.

„Bitte geben Sie die neuen Grenzen ein“, kam wieder unmittelbar die Antwort des Bank-Com­pu­ters.

Qiang nannte nacheinander für jedes der drei Kinder die neuen Grenzwerte, die ab dem nächst­folgenden Monatsersten gelten sollten.

Der Bank-Computer wiederholte alle Eingaben zur Kontrolle, und, nachdem Qiang diese Anga­ben noch einmal bestätigt hatte, sagte er: „Die neuen Grenzwerte sind ab nächstem Ersten gültig!“

Damit war das Thema zur Zufriedenheit der Kinder abgeschlossen. Sie bedankten sich bei ihren Eltern und gingen frohgelaunt in den Garten, um sich in der angenehmen Abendluft noch ein bißchen im Tai Chi zu üben.

Das Familiengeheimnis

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