Читать книгу Das Familiengeheimnis - Peter Beuthner - Страница 9
Die Party
ОглавлениеZwei Wochen später. Es war schon eine Bombenstimmung im Hobbyraum, als Qiang und Chan so gegen neun Uhr mal reinschauten. Es mußten wohl so an die dreißig Leute in dem Raum sein. Es war heiß und stickig. Laute Musik, es waren offenbar Oldies aus der Zeit um die Jahrtausendwende oder früher, und das Licht im Raum verfärbte sich im Rhythmus der Musik, manchmal harmonisch fließend, manchmal blitzlichtartig pulsierend, stroboskopisch. Je nach Einstellung des Modulators wurde das Frequenzband des sichtbaren Lichts entweder kontinuierlich durchlaufen, oder die Einzelfrequenzen wurden ‚durchgesteppt‘ mit dem Effekt, daß die Regenbogenfarben einzeln nacheinander aufleuchteten und wieder abklangen. Eine wogende Menschenmenge tauchte mit jedem neuen Lichtblitz wieder aus dem abgedunkelten Raum auf.
Nachdem sich ihre Augen einigermaßen an das „Blitzlichtgewitter“ adaptiert hatten, entdeckten Qiang und Chan ihre Tochter in dieser brodelnden Menge, wie sie ihnen zuwinkte. Sie tanzte offenbar gerade mit Alexander Eppelmann und schien sich gut zu amüsieren. Nachdem sie eine Weile in der Tür gestanden und dem munteren Treiben zugeschaut hatten, zupfte Qiang seine Frau am Ärmel und machte eine Geste zum Gehen.
„Ja, ich denke, wir ziehen uns jetzt wieder zurück“, sagte Chan. „Die Jugend unterhält sich offenbar sehr gut, da stören wir nur.“
„Musik leiser!“ rief eine Stimme aus dem Dunkel, und langsam nahm die Lautstärke ab.
„Musik lauter!“ rief sogleich eine andere Stimme, und langsam nahm die Lautstärke zu.
„Hey, was soll das?“ tönte wieder die erste Stimme. „Das ist doch viel zu laut, da kann man sich ja überhaupt nicht unterhalten!“
„Du sollst ja auch nicht quatschen, sondern tanzen!“ kam prompt die Antwort, während die Lautstärke immer weiter zunahm.
„Musik leiser!“ kommandierte wieder der erste, und während die Lautstärke langsam abnahm, rief er: „Wieso brauchst du zum Tanzen so laute Musik? Du sitzt doch nicht auf deinen Ohren!“
„Stopp!“ rief der andere, und die Lautstärke veränderte sich nicht mehr. „Diese Musik muß man einfach so laut hören!“
„Dann machen wir eben eine andere Musik“, entgegnete der erste und kommandierte: „Programm 6!“ Das Beat-Programm verstummte augenblicklich, und es erklang Elvis Presleys: „Love me tender“. „Musik leiser!“ rief der erste nochmal, und jetzt kam kein Protest mehr. Als die Lautstärke ein erträgliches Maß erreicht hatte, rief er wieder: „Stopp!“
Es war Jie, der mit einigen Freunden in einer Ecke saß und sich durch die laute Musik in seiner Unterhaltung erheblich gestört fühlte. Erst jetzt, als die Musik angenehm leise den Raum durchschwebte und die Pärchen eng aneinander geschmiegt und schmusend auf der Tanzfläche herumrutschten, war es wieder möglich, die unterbrochene Unterhaltung fortzusetzen.
„So, jetzt . . .“, nahm Jie den Gesprächsfaden wieder auf: „Kannst du nochmal wiederholen, was du vorhin gesagt hast; ich habe es akustisch nicht verstanden“.
„Ich sagte: Mit der ‚Zeit‘, das ist schon ein Phänomen“, antwortete Trendy. „Für die einen vergeht sie viel zu schnell und für die anderen viel zu langsam. Dabei geht sie doch für alle gleich schnell oder langsam.“
Trendy, ein Mitschüler von Jie, hatte diesen Spitznamen bekommen, weil er sehr viel Wert auf sein Äußeres legte und immer recht modebewußt gekleidet war. Der Dritte in dieser Gesprächsrunde war Chimney, den sie so nannten, weil er rauchte wie ein Schlot. Und ihn, Jie, nannten sie halt einfach Chino, weil er ein Chinese war. Und das war nicht als Beleidigung oder irgendwie abwertend gemeint. Das war einfach sein Rufname geworden – so, wie sie einen Mitschüler russischer Abstammung Russki nannten, einen anderen Sputnik. Sie hatten sich in ihrer Jahrgangsstufe alle so charakteristische Spitznamen gegeben. Außerdem gehörten zu dieser Clique noch Drinky, der für seinen reichlichen Alkoholkonsum bekannt war, und Eppel, das war schlicht die Abkürzung für Gerd Eppelmann.
„Naja, daß auch die Zeit ‚relativ‘ ist, das wissen wir ja schon seit Einstein“, entgegnete Jie. „Aber das ist natürlich nicht der Punkt, den du meinst, ich weiß schon. Was du meinst, das ist das Zeitgefühl jedes Menschen."
„Ja genau!“ pflichtete Trendy ihm bei. „Der eine empfindet Streß und Hektik, während ein anderer zur selben Zeit gähnende Langeweile verspürt. Das ist doch verrückt, oder?“
„Verrückt oder nicht. Es zeigt jedenfalls, daß unser Zeitgefühl sehr beeinflußbar ist. Es hängt offenbar davon ab, was wir gerade tun – ob es etwas ist, das uns Spaß macht und uns interessiert, oder ob es uns eben nicht interessiert oder gar stupide ist. Im ersten Fall sind wir so beschäftigt, daß wir gar nicht bemerken, wie schnell die Zeit vergeht. Im zweiten sind wir so unterbeschäftigt, daß wir vor lauter Langeweile dauernd nach der Uhrzeit schauen und deshalb den Eindruck haben, die Zeit verginge viel zu langsam.“
„Also“, resümierte Trendy für sich, „je mehr Interessen ich habe und je mehr Aufgaben ich übernehme, desto schneller vergeht für mich die Zeit – und umso größer ist die Gefahr, daß ich vor lauter Streß und Hektik noch krank werde.“
„Genau! Und warum solltest du es also machen?“ fragte Chimney.
„Warum sollte ich was machen?“
„Ich habe mal in einer alten Zeitschrift gelesen, daß mehr als zwei Drittel aller Menschen in Deutschland über Zeitnot klagen und mit Recht fürchten, sie könnten krank davon werden. Dabei ist es doch kein Naturgesetz, daß alles im Turbo-Tempo ablaufen muß. Jeder Mensch ist doch selber Herr seiner Zeitplanung“, analysierte Chimney. „Also warum willst du so ein gestreßter Getriebener sein?“
„Ich will ja nicht“, entgegnete Trendy. „Aber wir werden doch schon von klein auf unter Zeitdruck gesetzt: Schnell, schneller, am schnellsten – los, beeil‘ dich! Bei den Erwachsenen heißt das dann: Zeit ist Geld. Ein Ökonom, ich glaube, er hieß Nicholas Georgescu-Roegen, hat das ungefähr mal folgendermaßen ausgedrückt: ‚Ich rasiere mich schneller, damit ich mehr Zeit habe, eine Maschine zu erfinden, mit der ich mich noch schneller rasieren kann, damit ich noch mehr Zeit habe ...‘. Er wollte damit veranschaulichen, daß wir uns eigentlich alle in einem Teufelskreis bewegen.“
„Ja, also, nochmal meine Frage: Warum solltest du das Tempo mitmachen?“ wiederholte Chimney seine Frage. „Warum sich zum Sklaven der schnellebigen Zeit machen? Zeitdruck macht nicht nur krank, es produziert bekanntermaßen häufig auch Mißerfolge! Beispiele dafür gibt es mehr als genug. Die einzig vernünftige Konsequenz ist doch: Tempo drosseln; Schluß mit der Hetze. Leiste dir den Luxus der Langsamkeit und lebe nach der Devise: ‚Weniger ist Mehr‘. Glaub‘ mir, jeder Mensch könnte deutlich mehr Kontrolle über seine Zeit haben, als er sich eingesteht – wenn er nur wollte.“
„Das mag schon sein“, räumte Trendy ein. „Aber wenn du dich vom Zeitdruck befreien willst, dann mußt du auf alles mögliche verzichten, und zwar nicht nur auf materielle Werte, sondern unter Umständen auch auf die eine oder andere persönliche Beziehung oder Bekanntschaft. Und wer will das schon?“
„Wie heißt es doch so schön: Einen Tod mußt du sterben!“ rezitierte Jie. „Wenn du nicht bereit bist, zu verzichten, um dem Zeitdruck zu entfliehen, und dadurch mehr Lebensqualität zu erlangen, dann verharrst du eben im Zyklus eines fragwürdigen Aktionismus‘ bei der Jagd nach neuen Erlebnissen und materiellem Wohlstand. Dann lebst du halt schnell, bist aber vermutlich auch schneller am Ende und hast in gewisser Weise das Leben verpaßt. Solche Menschen können in der Regel mit sich allein nichts anfangen, weil sie sich selbst nicht genug sind, und fliehen daher in die Aktivität, fliehen vor sich selbst. Sie leiden unter Aktivitätsdepression. Wenn du dagegen dein Leben auch genießen und über mehr persönliche Freiheit verfügen willst, dann darfst du dir nicht zu viel Arbeit aufhalsen, darfst nicht jedem Event nachjagen und mußt die Bedeutung von Erfolg, Anerkennung und Wohlstand für dich neu definieren. Das ist keine leichte Aufgabe, denn das aktionistische Verhalten wird ja gesellschaftlich nicht nur akzeptiert, sondern sogar mit Leistungsbereitschaft gleichgesetzt. Aber der Verzicht wird sich letztlich als Gewinn entpuppen, denn durch ein Mehr an Ruhe, Langsamkeit, Beschaulichkeit und Muße werden ganz neue Kräfte frei, insbesondere wird die Kreativität mobilisiert.“
„Welch professorale Ausführungen aus dem Munde eines zehnjährigen Hosenscheißers!“ bemerkte Trendy, der selber gerade mal drei Monate älter war als Jie, teils ironisch, teils beeindruckt, denn er war beim Zuhören in der Tat ganz nachdenklich geworden.
Die Ironie seines Gesprächspartners geflissentlich überhörend, fuhr Jie ungerührt fort: „Und ich setze sogar noch einen drauf! Ich sage dir, Zeit ist das wertvollste aller Geschenke des Lebens, aber wir wissen das gar nicht richtig zu schätzen.“
„Machst du denn irgend etwas anders als die anderen Menschen?“ wollte Trendy wissen. „Ich meine, wenn du schon so klugscheißerisch daher redest, dann wäre es doch nur konsequent, wenn du deine Erkenntnisse nicht nur über andere ergießt, sondern zumindest mal an dir selber ausprobierst, oder?“
„Ja, natürlich!“ parierte Jie sofort. „Ich kann da mittlerweile auf zehn Jahre Erfahrung zurückschauen!“
Trendy kicherte los: „Hast dir schon an der Mutterbrust viel Zeit gelassen, was?“
„Ja klar! Da ganz besonders! Und ich hab‘ viel Spaß dabei gehabt“, scherzte Jie zurück. „Aber davon mal abgesehen“, versuchte Jie das Gespräch wieder auf die sachliche Ebene zu bringen, „habe ich mir eigentlich, solange ich zurückdenken kann, immer genug Zeit gelassen bei allem, was ich gerade tat. Lieber habe ich irgend etwas weggelassen, als daß ich mich in hektischem Aktionismus ereifert hätte. Das war wohl schon immer ein Teil meines Naturells. Und nachdem ich dann mit Tai Chi begonnen hatte, war für mich die Ruhe im Handeln ganz bewußt zu einer Maxime geworden. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Worte meines Vaters, der mir ja Tai Chi beigebracht hat: ‚Du mußt deine Bewegungen so langsam machen, daß selbst die Luft nicht verletzt wird‘. Hört sich irgendwie verrückt an, nicht? Ich werde diese Worte nie vergessen. Aber so funktioniert Tai Chi: Ruhige, gleichförmige, harmonische Bewegungen in der Meditation. Kein Zeitdruck, kein Streß, keine Hektik, sondern innere Ruhe des Geistes und äußere Ausgeglichenheit in der Bewegung. Wenn du dazu nicht bereit bist, brauchst du damit gar nicht erst anzufangen.“
„Das hast du schön gesagt, Chino!“ bemerkte Trendy und überließ es seinem Gesprächspartner, diese Aussage als Ausdruck von Bewunderung oder doch wieder als Ironie zu deuten.
„Danke!“ sagte Jie selbstbewußt.
„Und, hast du auch schon mal Langeweile gehabt?“
„Nein, noch nie!“
„Wäre ja immerhin möglich. Wenn du nie Zeitdruck und Streß hast, könnte es ja umgekehrt so sein, daß für dein Zeitgefühl die Uhr zu schleichen scheint, daß du die Zeit praktisch totschlagen mußt. Und dann wirkt das Leben nur noch langweilig.“
„Und du wirst depressiv, desinteressiert und hoffnungslos!“ ergänzte Jie. „Nein danke! Diesen Zustand kenne ich zum Glück nicht – und will ich auch nie erfahren! Was wir jetzt gerade diskutieren, das sind für mich zwei Extremfälle. Worauf es nach meiner Auffassung im Leben aber ankommt, ist, möglichst die goldene Mitte zu treffen, Ausgeglichenheit in jeder Beziehung zu finden. Extreme Positionen wirken sich immer irgendwie nachteilig aus, entweder für den Betreffenden, der diese Position vertritt, selbst oder für die anderen um ihn herum. Sie bringen Unruhe und Störungen in dein eigenes Leben und in die Gesellschaft. Das widerspricht der konfuzianischen Soziallehre, nach der ich erzogen worden bin, und deren erklärtes Ziel das Streben nach Harmonie ist. Wenn du also, um keine Langeweile zu empfinden, für dich genügend Abwechslung findest ohne dich dabei unter Zeitdruck zu fühlen, dann hast du einen Zustand der Harmonie erreicht, dann fühlst du dich wohl und kannst dein Leben genießen.“
„Hey! Was ist denn mit euch drei Quasselstrippen los?“ wurden sie plötzlich und unvermittelt aus ihrem Gespräch gerissen. „Hier ist Party angesagt! Für Intimgespräche habt ihr euch einen sehr ungeeigneten Platz ausgesucht!“
„Ja, ja! Komm, geh tanzen! Und laß uns in Ruhe!“ wehrte Jie ab.
„Man, oh Mann, seid ihr dröge!“ Dann war er auch schon wieder in der Menge verschwunden, und die Drei setzten ihr Gespräch fort.
„Eigentlich komisch, daß wir kein Sinnesorgan für die Zeit haben, wo sie uns doch so wichtig ist“, bemerkte Trendy.
„Ein Sinnesorgan für die Zeit? Wie kommst du denn darauf?“ fragte Chimney.
„Na, warum denn nicht? Für Licht haben wir die Augen, für Schall die Ohren, für Geruch die Nase, für Geschmack die Zunge und für Berührung die Haut. Und sogar für unsere Lage im Raum haben wir einen Gleichgewichtssensor im Ohr. Also warum haben wir keinen für die Zeit? Auf einen mehr oder weniger wäre es doch nun wirklich nicht angekommen. Hat uns also die Natur schlecht ausgestattet?“
„Nein, sicher nicht. Wieso auch? Anders als die von dir aufgezählten Sinneseindrücke ist doch die Zeit nicht überlebenswichtig für uns“, gab Jie zu bedenken. „Alle Tiere kommen doch sehr gut ohne Zeitmesser aus. Nur der Mensch glaubt, sie messen zu müssen – und das sogar höchst präzise. Die Uhr ist im Grunde ein Zivilisationsprodukt, die Natur braucht sie nicht.“
„Okay! Die Uhr vielleicht nicht, aber ein Zeitgefühl schon“, widersprach Chimney. „Denn auch die Tiere richten ihren Lebensrhythmus nach den Jahres- und Tageszeiten aus.“
„Ja, genau!“ bestätigte Trendy. „Alle Zugvögel, wie zum Beispiel die Stare, haben eine Art innere Uhr, die sie alles zur richtigen Zeit tun läßt: Sie wissen beispielweise instinktiv, wann Paarungszeit ist und wann sie in den Süden fliegen müssen. Außerdem orientieren sich die Zugvögel noch an der Tageslänge.“
„Ja, gut. Du meinst die biologische innere Uhr aller Lebewesen, die sich mit dem Tag-Nacht-Wechsel und anderen natürlichen Zyklen synchronisiert“, bestätigte Jie, „ . . . und die übrigens auch ohne Bezug zu äußeren Zeitrhythmen funktioniert, wie Bunker-Experimente mit freiwilligen Versuchspersonen gezeigt haben. Die ist als Produkt evolutionärer Anpassung aller Lebewesen an die Umweltgegebenheiten schon genetisch verankert. Und die ist auch überlebenswichtig, weil alle einen Wach-Schlaf-Rhythmus einhalten und den jahreszeitlichen Temperaturwechseln durch entsprechende Anpassungsmaßnahmen gerecht werden müssen. Aber das ist ja eine reine Anpassung an natürliche Gegebenheiten und hat nicht primär mit der Zeit zu tun! Dafür ist es doch völlig Wurscht, wie spät es gerade ist!“
„Da hast du auch wieder recht“, mußte Chimney zugeben. „Also bleibt es tatsächlich dabei, daß wir über ein Zivilisationsprodukt reden“.
„Soweit es die Uhr anbetrifft, ja. Aber wir reden ja ganz allgemein über die Zeit, und die ist natürlich kein Zivilisationsprodukt“, korrigierte Jie.
„Weißt du eigentlich, wie die Zeiteinteilung zustande gekommen ist?“
„Ja, genau das habe ich mich auch schon mal gefragt. Und dazu habe ich eine Textpassage auf der Web-Site der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) gefunden, die da lautet:
‚Das für den Menschen natürliche Zeitmaß ist der durch die Erdrotation definierte Tag. Der wahre Sonnentag (von einem Sonnenhöchststand bis zum nächstfolgenden am gleichen Ort) hat wegen der Schiefe der Ekliptik und der Ellipsenform der Erdbahn eine recht ungleichmäßige Dauer. Dem Drehwinkel der Erde proportional und daher eher gleichförmig ist die mittlere Sonnenzeit an einem Ort, deren Zeitmaß der mittlere Sonnentag »dm« ist. Mit Hilfe von Uhren wird »dm« weiter aufgeteilt in 24 Stunden zu je 60 Minuten zu je 60 Sekunden. Die Festlegung der Dauer der Sekunde als dem 86.400sten Teil des mittleren Sonnentages war im Grunde willkürlich, ein Teil unserer tradierten Kultur. Eine formale Definition dieser Sekunde als verbindliches Zeitmaß im Sinne des Internationalen Einheitensystems SI hat es nie gegeben. Die auf den Nullmeridian bezogene mittlere Sonnenzeit wird Weltzeit UT (Universal Time) genannt, die ursprüngliche und heute noch populäre Bezeichnung war GMT (Greenwich Mean Time).‘
Die offizielle Definition der SI-Sekunde ist:
‚Die Sekunde ist das 9.192.631.770fache der Periodendauer der dem Übergang zwischen den beiden Hyperfeinstrukturniveaus des Grundzustandes von Atomen des Nuklids 133Cs entsprechenden Strahlung.‘
„Danke, danke, das reicht! So genau wollte ich das gar nicht wissen. Und das kann ich mir auch sowieso nicht merken“, kapitulierte Trendy.
„Aber ich finde es schon bemerkenswert, daß man die Zeit so genau messen kann“, stellte Chimney erstaunt fest.
„Ja, soviel ich weiß, läßt sich keine andere physikalische Größe so exakt bestimmen wie die Zeit. Die Sekunde wurde bereits bis auf mehr als ein Dutzend Stellen hinter dem Komma vermessen“, erklärte Jie.
„Das ist schon irgendwie faszinierend, finde ich, wenngleich ich mich frage, wozu man eine solche Genauigkeit braucht“, wunderte sich Trendy.
Die Drei waren so vertieft in ihr Gespräch, daß sie zunächst gar nicht bemerkt hatten, wie es allmählich immer dunkler wurde im Raum. Erst jetzt, als sie des schwachen Dämmerlichts gewahr wurden, rief Jie in den Raum: „Hey, wer dreht denn da am Licht? Stopp!“ Er schaute sich um, konnte aber nur mehr erahnen, daß sich ein paar Pärchen eng umschlungen auf der Tanzfläche zur seichten Musik bewegten. Und in den Ecken schienen auch einige Pärchen knutschend herumzuliegen.
„Es werde Licht! . . . Heller!“ rief er, und langsam wurde es wieder heller. „Stopp!“ rief irgend jemand aus einer Ecke, der wohl bei seinem Techtelmechtel nicht gestört und auch nicht gesehen werden wollte. Die Drei gehörten zu den Jüngsten der Partygesellschaft und zeigten noch nicht viel Verständnis für die Schäkerei der Älteren. So unterhielten sie sich weiter.
„Was sagst du? Zeit gibt’s erst seit dem Urknall?“ fragte Trendy.
„Ja, genau! Erst mit dem kosmischen Urknall vor 13,7 Milliarden Jahren entstanden Zeit, Raum und die Materie“, bestätigte Jie. „Zeit und Raum existieren nicht unabhängig voneinander, sondern sind untrennbar miteinander verbunden. Man spricht daher auch von ‚Raumzeit‘ beziehungsweise vom ‚Raum-Zeit-Kontinuum‘. Neben den drei Dimensionen des Raumes bildet die Zeit also die vierte, in der sich alle Objekte und Wesen der Welt bewegen.“
„Und obwohl es für uns den Anschein hat, daß die Zeit überall und für jedes Wesen gleich schnell vergeht, verhält es sich tatsächlich nicht so“, ergänzte Chimney. „Hier unterliegen wir alle einem Trugschluß. Das wissen wir aber erst, seit Einstein uns mit seiner Relativitätstheorie beglückte. Eine universelle Zeit existiert nicht. Jeder Mensch hat gewissermaßen seine ‚eigene Uhr‘. Wie schnell die Zeit für ihn vergeht, hängt von der Gravitation und der Geschwindigkeit ab, mit der er sich bewegt. Je mehr er sich der Lichtgeschwindigkeit nähert, desto langsamer vergeht für ihn die Zeit aus der Sicht eines sich nicht bewegenden Betrachters.“
„Hääh? Wie ist das denn zu verstehen?“ fragte Trendy.
„Paß auf, wir machen ein Gedankenexperiment: Einer von zwei Zwillingen fliegt in einem Raumschiff mit 80 Prozent der Lichtgeschwindigkeit zu einem acht Lichtjahre entfernten Planeten, während der andere Zwilling auf der Erde bleibt. Wenn er dann von dort mit der gleichen Geschwindigkeit zur Erde zurückkehrt, dann sind für ihn insgesamt zwölf Lebensjahre, für den Bruder auf der Erde aber 20 Jahre vergangen. Er ist also acht Jahre jünger als sein Zwillingsbruder.“
„Wie kommt das?“
„Das liegt daran, daß die für den Raumfahrer gültige Zeit aufgrund seiner Geschwindigkeit gedehnt wurde. Das heißt, sie ist langsamer vergangen. Was Einstein seinerzeit nur rechnerisch belegen konnte, das wurde 1971 durch zwei US-Physiker experimentell nachgewiesen, indem sie völlig baugleiche hochpräzise Atomuhren, teils in Flugzeugen und teils auf der Erde installiert, gewissermaßen gegeneinander laufenließen. Dabei zeigte sich, daß bereits die Flugzeuggeschwindigkeit ausreichte, um den Takt der mitgeführten Atomuhren gegenüber den stationären um 60 Milliardstel Sekunden zu verzögern. Also kann man sagen: Auch Vielflieger altern langsamer, wenn auch nur wenig im Vergleich zu Raumfahrern.“
„Ja, und auch in der Nähe großer Massen wird die Zeit gravitationsbedingt gedehnt. Vom Standpunkt eines weit entfernten Beobachters verläuft sie in der Nähe der Masse langsamer.“
„Das heißt also, daß für einen Raumfahrer, der sich mit annähernder Lichtgeschwindigkeit und/oder in der Nähe massereicher Himmelskörper bewegt, die Zeit langsamer vergeht als für die Menschen hier auf der Erde, er altert langsamer. Und wenn er auf die Erde zurückkommt, dann ist hier die Zeit schon entsprechend weiter fortgeschritten – das heißt, er landet in der Zukunft. Er hat also eine ‚Zeitreise‘ gemacht.“
„Ja, das ist richtig. Nach der Relativitätstheorie sind Reisen in die Zukunft jedenfalls theoretisch möglich.“
„Könnte man auch eine Zeitreise in die Vergangenheit machen?“
„Das ist viel unwahrscheinlicher, aber möglicherweise doch nicht ganz ausgeschlossen. Jedenfalls gibt es da so ein Szenario in Sciencefiction-Filmen, das von einer möglichen Verbindung, einem sogenannten Wurmloch, zwischen weit voneinander entfernten Himmelskörpern quer durch die gekrümmte Raumzeit ausgeht, welches somit eine Wegabkürzung für ein Raumschiff bieten könnte. Damit könnte ein Raumfahrer in kürzester Zeit an einen anderen Ort und in eine andere Zeit gelangen und bei seiner Rückkehr möglicherweise in der Vergangenheit landen.“
„Klingt ziemlich zweifelhaft.“
„Ja, aber die Idee bietet viel Raum für die Phantasie: Stellt euch vor, ich könnte in die Vergangenheit reisen und dort meine Mutter oder meinen Vater umbringen, bevor ich geboren wurde. Dann hätte ich doch nach der klassischen Weltanschauung niemals existiert und folglich auch meine Reise in die Vergangenheit nie antreten können. Wenn ich aber die Reise machen könnte, dann wäre es mir demnach zwangsläufig unmöglich, meine Eltern umzubringen. Das aber hieße, ich wäre in meinem eigenen Denken und Handeln nicht frei. Ich könnte die in der Vergangenheit geschaffenen Tatsachen nicht mehr ändern, denn jede Änderung hätte zwangsläufig einen anderen Geschichtsverlauf zur Folge.“
„Ja, und das ist auch nur logisch! Denn solche Zeitreisen in die Vergangenheit verstoßen gegen eines der Grundprinzipien der Physik, nämlich gegen das Gesetz von Ursache und Wirkung: Ereignisse, die sich kausal aufeinander beziehen, können zeitlich immer nur in eine Richtung erfolgen. Und das tun sie in der Tat seit dem Urknall; die Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist unumkehrbar.“
„Genau! Oder hat irgend jemand von euch schon mal erlebt, daß sich eine leere Bierflasche von alleine wieder gefüllt hat?“
„Hey! Was seid ihr denn für Mega-Trantüten?“ hörten sie plötzlich eine Stimme hinter sich. Es war Sputnik, der sich gerade zu ihnen gesellte. „Warum schwofet und flirtet ihr nicht, ha‘m die Mädels euch nicht genecket?“ Dabei kicherte er und fügte nach kurzer Pause, während der das Trio ihn verwundert anschaute, hinzu: „Frei nach Luther, falls euch das was sagt.“
„Nee, nee, mein Lieber“, schaltete Chimney am schnellsten. „Das ist nicht nur frei, sondern sehr, sehr, sehr frei nach Luther. Denn bei dem hieß das: ‚Warum rülpset und furzet Ihr nicht, hat es Euch nicht geschmecket?‘“
„Na, sag ich doch!“ entgegnete Sputnik. „Das hört sich doch fast ganz genauso an! Und was ist jetzt mit euch Trauerklößen los? Wollt ihr nicht mal ´n bißchen für Stimmung sorgen?“
„Wir unterhalten uns gerade über ernsthaftere Themen, und du störst mit deinem Gequatsche“, reagierte Trendy etwas giftig.
„Hört, hört! Der Trendsetter – modisch, also rein äußerlich, immer auf der Höhe der Zeit, aber geselligkeitsmäßig, also innerlich, verkrustet wie ein Greis.“
„Diese Beleidigung will ich jetzt mal großzügig überhört haben“, erwiderte Trendy. „Aber mit der ‚Zeit‘ hast du den Nagel auf den Kopf getroffen: Über das Phänomen unterhalten wir uns gerade.“
„Auch gut, da kann ich mitreden“, antwortete Sputnik postwendend. „Beim Thema ‚Zeit‘ fällt mir als erstes immer das Zitat des großen Dichterfürsten Johann Wolfgang von Goethe ein: ‚Gerne der Zeiten gedenk' ich, da alle Glieder gelenkig – bis auf eins. Doch die Zeiten sind vorüber, steif geworden alle Glieder – bis auf eins.‘ Ist das nicht herrlich ausgedrückt von dem alten Mann?“
Alle mußten lachen. „Ja, da können wir heute noch herzlich drüber lachen, denn bis es bei uns soweit ist, da haben wir ja glücklicherweise noch ´ne Menge Zeit“, meinte Chimney.
„Ja, und was ist also euer Problem, weshalb ihr hier die Zeit der schönen Stunde so sinnlos verquatscht?“ wollte Sputnik wissen.
„Von ‚sinnlos‘ kann gar keine Rede sein, es geht vielmehr um Bildung!“ belehrte Chimney ihn. „Trendy wollte etwas über das Wesen der Zeit wissen, und das versuchen wir ihm gerade zu erklären – soweit wir es selber verstehen. Für die Richtigkeit unserer Aussagen übernehmen wir natürlich keine Haftung!“
„Ahhhh-ha! Verstehe! Und dazu wählt ihr ausgerechnet Ort und Zeit einer so stimmungsvollen Party?!“ lästerte Sputnik. „Als wenn es hier keine süßen Mädels gäbe . . . und keine flotte Musik . . . und kein Bier! Euch ist doch wirklich nicht zu helfen!“
„Na, du mußt ja nicht hier bleiben. Also geh‘ schon zu deinen Mädels. Wir kommen, wenn wir hier fertig sind.“
Sputnik blieb noch etwas unschlüssig stehen, während die anderen ihr Gespräch fortsetzten.
„Ich hab‘ noch zwei Fragen“, sagte Trendy.
„Schieß los!“
„Okay, also einmal zum Abstand von großen Massen: Du sagtest vorhin, in der Nähe großer Massen würde die Zeit gravitationsbedingt gedehnt. Nun leben wir Menschen ja direkt auf der Erdoberfläche mit ihrer großen Masse. Das würde doch aber bedeuten, daß die Zeit für uns langsamer vergehen müßte als beispielsweise in großer Höhe, also weiter weg von der Erde. Tut sie das?“
„Das tut sie in der Tat. Es heißt: Für einen Beobachter am Fuß eines Turms tickt seine Uhr langsamer als eine an der Turmspitze befindliche. Denn je näher sich eine Uhr am Zentrum der Erde befindet, desto stärker bremst deren Masse die Zeit.“
„Ohh! Dann will ich nicht oben in einem Wolkenkratzer wohnen!“ rief Trendy. „Schöne Aussicht hin oder her. Wenn ich dafür früher sterben muß, dann kann ich gerne darauf verzichten.“
Jie und Chimney schauten sich verdutzt an, schüttelten den Kopf und schienen sagen zu wollen: Spinnt der jetzt? Aber das verkniffen sich beide. Statt dessen beruhigte Jie ihn: „Also darüber mußt du dir nun wirklich keine Sorgen machen, Trendy. Da kommen allenfalls Differenzen von Mikrosekunden zusammen – wenn überhaupt.“
„Na gut. Das ist ja beruhigend. . . . Zweite Frage: Die bezieht sich auf die Geschwindigkeit. Du sagtest vorhin: Je schneller sich einer bewegt, desto langsamer vergeht für ihn die Zeit.“
„ . . . aus der Sicht eines sich nicht bewegenden Betrachters, ja.“
„Was heißt das denn? Wird er nun langsamer alt oder nicht?“
„Hmm, wenn man das Beispiel der Zeitreise betrachtet, das ja bekanntlich wissenschaftlich abgesichert ist, dann ist der Reisende relativ zu den auf der Erde Zurückgebliebenen tatsächlich langsamer gealtert.“
„Also doch! Dann ist meine Frage: Was bedeutet das eigentlich für uns, die wir uns doch auch ständig mit der Erdumlaufgeschwindigkeit um die Sonne bewegen? Wie schnell ist die eigentlich?“
„Wenn ich mich recht erinnere, ist die durchschnittliche Bahngeschwindigkeit der Erde rund 30 Kilometer pro Sekunde und damit etwa ein Zehntausendstel der Lichtgeschwindigkeit.“
„Ja, und was bedeutet das jetzt hinsichtlich meiner Frage?“
„Zumindest kann man schon mal sagen, daß der Effekt, wenn er denn für diesen Fall tatsächlich zutrifft, jedenfalls nicht sehr groß ist, weil die Geschwindigkeit gemessen an der Lichtgeschwindigkeit immer noch sehr klein ist.“
„Immerhin rasen wir mit 30 Kilometer pro Sekunde durchs All! Das ist ja nicht Nichts. Da müßten wir doch theoretisch langsamer altern, als wenn sich die Erde nicht bewegte.“
„Daß sich die Erde nicht bewegt, gibt’s nicht“, sagte Jie bestimmt. „Stillstand im All gibt es überhaupt nicht. Alles bewegt sich, das Universum expandiert mit zunehmender Geschwindigkeit, und alle Planeten drehen sich um eine Sonne. Also den Gedanken kannst du vergessen.“
„Ä, ä! Ich habe im WorldNet vor einiger Zeit eine Notiz gefunden, daß Astronomen im Jahre 2013 außerhalb unseres Sonnensystems einen Planeten entdeckt haben, der frei im Weltraum flog, ohne um eine Sonne zu kreisen. Also, sowas ist offenbar schon möglich“, wandte Chimney ein.
„Ja, gut. Aber auch der stand ja nicht still, sondern flog durchs All – also kein Stillstand!“
„Okay, okay!“ beharrte Trendy. „Aber nur mal theoretisch: Glaubst du, wir würden schneller altern, wenn sie sich nicht bewegte?“
„Keine Ahnung. Das wären ja völlig andere Verhältnisse – immer vorausgesetzt, daß so etwas überhaupt möglich wäre. Da herrschten ja ganz andere Gesetzmäßigkeiten. . . . Also nee, keine Ahnung, wie sich das auswirken würde.“
„Ach, irgendwie ist mir das alles zu unübersichtlich“, zog gerade Trendy sein Resümee aus diesem Diskurs, als ihm jemand von hinten auf den Kopf klopfte. „Hey! Was soll das?“ rief er und drehte sich dabei blitzartig um.
Hinter ihm stand Russki und fragte in die Runde: „Was ist das hier für eine Verschwörerversammlung?“
„Was willst du denn?“ kam als Antwort.
„Ich bin die Party-Polizei und verhafte euch wegen Mißachtung der Partyregeln und Boykottierens dieser gesellschaftlichen Veranstaltung!“
„Ach du lieber Himmel! Was ist das denn für ‘n Spinner?“
Aber mit dieser abrupten Unterbrechung war schließlich auch irgendwie die Luft raus aus ihrer Diskussion, und Trendy zog es vor, sich nun wieder anderen Dingen zuzuwenden: „Okay Leute; war nett, mit euch zu plaudern! Aber jetzt muß ich mich mal wieder um die anderen kümmern. Und vor allem muß ich mir endlich mal wieder ein Bier reinziehen, bevor ich hier an Staublunge verrecke, versteht ihr?“
„Ja, ja! Hau schon ab!“ entgegnete Chimney etwas matt. Aber dann stand auch er auf, um zum Biertresen zu gehen, und die anderen folgten ihm.
Die Party dauerte noch lange an. Die Stimmung war ausgezeichnet. Es wurde viel getanzt. Die Musik war leider meist viel zu laut, so daß die Unterhaltung den ganzen Abend über nur unter erschwerten Bedingungen möglich war. Aber es hat trotzdem allen Spaß gemacht.