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Besuch aus China

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Freitag, 16.58 Uhr. Es klingelte an der Haustür. Robby öffnete die Tür und begrüßte den Gast mit einer höflichen Verbeugung, freundlichem Lächeln und namentlicher Ansprache, denn er wußte natürlich, daß genau dieser Gast von seinem Hausherrn erwartet wurde. Er war schnell, schneller als Qiang, der eigentlich persönlich seinen Gast an der Haustür in Em­pfang nehmen woll­te. Nun war ihm Robby doch schon zuvorgekommen. Professor Li stand noch in der Tür­schwel­le und musterte Robby von oben bis unten, als Qiang herbei­eilte, um seinen Gast will­kom­men zu heißen.

„Herr Professor Li, ich freue mich sehr, Sie in meinem Hause begrüßen zu dürfen. Herzlich willkommen! . . . Bitte, kommen Sie herein“, sagte er mit einer einladenden Geste, während Herr Li immer noch in der Türschwelle stand und sich von Robby beeindruckt zeigte: „Mein Kompliment, Herr Wang. Ich habe schon viele Roboter gesehen, aber dieser hier macht einen wirklich perfekten Eindruck.“

Qiang bedankte sich höflich für dieses Kompliment, ging aber ansonsten nicht weiter darauf ein, sondern schloß statt dessen gleich einen weiteren Dank dafür, daß Herr Li seiner Einla­dung ge­folgt ist, an. Selbstverständlich freute er sich über das Kompliment aus so berufenem Munde – Professor Li war immerhin ein anerkannter Wissenschaftler von Weltrang –, aber es war ganz und gar nicht seine Art, seinen Stolz darüber nach außen zu zeigen. Er übte sich lie­ber in Bescheidenheit und Understatement.

Er führte seinen Gast ins Wohnzimmer und bat ihn, Platz zu nehmen, während Robby schon eifrig damit beschäftigt war, ein paar Getränke und Snacks zu servieren, wobei Herr Li ihn mit zunehmender Bewunderung beobachtete.

„Wirklich außerordentlich gelungen“, lobte er Qiang noch einmal. „Ich habe ja schon viel von Ihnen und Ihren Wunderwerken gehört, aber bisher habe ich sie noch nie so in Aktion sehen können. Umso mehr freut es mich, daß wir uns nun mal endlich kennenlernen.“

„Die Freude ist ganz meinerseits“, gab Qiang das Lob sogleich zurück. „Ich bin sehr glück­lich, daß Sie neben all Ihren Verpflichtungen sich die Zeit für diese Zusammenkunft genom­men haben. Sie haben ja sicher neben Ihrem Vortrag noch eine ganze Reihe anderer Ter­mine wahrzunehmen.“

„Ja, ja, das habe ich. Wenn man schon mal eine so weite Reise antritt, dann versucht man natürlich möglichst viele Dinge zu erledigen und das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. Das kennen Sie sicher selbst sehr gut.“

„Selbstverständlich, ja.“

„Um nochmal auf Ihren Roboter zurückzukommen, wenn Sie erlauben …“

„Ja, sehr gerne! Was darf ich Ihnen zeigen?“

Auf Wunsch von Herrn Li führte Qiang seinem Gast verschiedene Kunst­stückchen seiner Roboter vor, um deren Leistungsfähigkeit zu demonstrieren, wofür sich Herr Li sehr begeistert zeigte:

„Es ist wirklich frappierend, wie ähnlich er doch schon uns Menschen ist. Wenn man es nicht besser wüßte, könnte man glatt glauben, man hätte es tatsächlich mit einem Menschen zu tun. Diese natürlichen, sehr ausgewogenen Bewegungen, seine Sprachkompetenz, sein ganz offensichtliches Verständnis der angesprochenen Thematik, das ihn zu einer geistreichen Unterhaltung befähigt – das alles erscheint mir in der Tat phänomenal. Haben Sie eigentlich mit Ihrem Roboter schon mal den Turing-Test durchgeführt?“

Der Brite Alan Turing, einer der einflußreichsten Theoretiker der frühen Computerentwicklung und Informatik, hatte bereits 1950 als einer der ersten die Problematik der künstlichen Intelligenz aufgegriffen und in seinem Werk Computing machinery and intelligence den nach ihm benannten Turing-Test als Kriterium dafür, ob eine Maschine mit dem Menschen vergleichbar intelligent/denkfähig ist, beschrieben.

Bei diesem Test stellt ein Mensch einem anderen Menschen und einer KI über ein Terminal beliebige Fragen, ohne seine Gegenüber sehen zu können. Wenn der Fragesteller danach nicht entscheiden kann, ob die Antworten von einer Maschine oder einem Menschen gekommen sind, so ist laut Turing die Maschine intelligent. Somit könnten auch Maschinen denken, sofern sie die menschliche Kommunikation gut genug imitieren.

„Ja, selbstverständlich, diesen Test haben wir sogar schon mehrfach mit verschiedenen Personen durchgeführt. Und bisher waren alle davon überzeugt, es mit einem Menschen und nicht mit einem Roboter zu tun zu haben.“

„Phänomenal! Ich wiederhole mich, aber man kann es gar nicht oft genug betonen. Diese Perfektion habe ich bisher bei keinem anderen Roboter erlebt.“

„Ich danke Ihnen für das Lob! Ich weiß es sehr zu schätzen. Und ohne unbescheiden sein zu wollen, kann ich, glaube ich, sagen, daß wir mit unseren Robotern tatsächlich einen Vorsprung vor unseren Wettbewerbern haben. Wir kämpfen gewissermaßen an vorderster Front und bemühen uns täglich, diesen Vorsprung auch zu halten.“

„Das glaube ich Ihnen unbesehen. Die Konkurrenz schläft ja auch nicht. Aber Sie haben sich mit Ihrem Arbeitsgebiet genau das richtige Marktsegment ausgewählt: Die Nachfrage nach Robotern ist riesig, ein boomender Markt! Wir leben ja gewissermaßen in einer Roboter-Gesellschaft. Jeder kann es sich leisten, sie zu haben. Und jeder will sie auch haben. Denn sie nehmen uns sehr viel Arbeit ab und schaffen uns dafür neue Freiräume, die wir viel sinnvoller nutzen können. Das ist doch ein Geschenk für die Menschheit!“

Professor Li kam fast schon ins Schwärmen vor lauter Freude über diese Errungenschaft. Und das schmeichelte Qiang sehr, ohne daß er sich das anmerken ließ.

So tauschten sie noch eine Weile gegenseitiges Lob und Anerkennung aus, sprachen über das aktuelle Vortragsprogramm, dessentwegen Professor Li nach Ulm gekommen war, über das Damen­begleitprogramm, dem sich Frau Li und Chan angeschlossen hatten, über Ulm – die Stadt, den SciencePark, das Leben in der Stadt – und über ein paar Allgemeinplätze, Small­­talk eben. Auch auf Wunsch von Herrn Li führte Qiang ihn durch den Wohn­­bereich des Hauses und in den Garten, den dieser sogleich sehr bewunderte: „Sie woh­nen wirklich wun­der­schön hier.“

Nachdem sie wieder im Wohnzimmer Platz genommen hatten, war nun endlich die Zeit ge­kommen, sich der intendierten Thematik zuzuwenden: Qiang wollte gerne etwas über die Arbeit von Professor Li wissen.

„So, und Sie haben den Lehrstuhl für Synthetische Biologie in Beijing inne, Herr Professor Li?“ begann er die Unterhaltung. Es war eine rhetorische Frage, denn er wußte das natürlich schon von seiner Frau, die ja seinem Wunsche entsprechend dieses Gespräch vermittelt hatte. Des­halb fuhr er ohne Pause auch gleich fort: „Das ist sicher ein sehr interessantes Arbeitsgebiet.“

„Das ist es ohne Zweifel, ja“, bestätigte Professor Li. „Und ein weitgespanntes Gebiet!“

„Ich habe schon viel davon gehört, leider aber noch nicht die Zeit gefunden, mich mal etwas näher mit dieser Thematik zu beschäftigen. Was muß ich mir denn darunter vorstellen, wenn Sie von einem weiten Gebiet sprechen?“ wollte Qiang wissen.

„Nun, wie der Name schon sagt, geht es um synthetisch generierte biologische Organismen. Das Ziel unserer Arbeit ist die Schaffung von Organismen mit neuartigen Eigenschaften, wie sie in der Natur so nicht vorkommen, das heißt, was die Evolution bisher nicht hervor­ge­bracht hat, für die Menschen aber nützlich und hilfreich sein könnte, das erschaffen wir nun selber. Wir ergänzen damit die Menge natürlich vorkommender um neue, selbstkreierte Orga­­­­nis­­men. Man könnte auch sagen, wir bereichern die Natur.“

„Klingt interessant und vielversprechend.“

„Ist es auch. Unser Arbeitsgebiet – das ist mit ‚weitgespannt’ gemeint – erstreckt sich über alle Organisationsebenen der belebten Natur: Von der molekularen über die zelluläre bis hin zur Ebene höher entwickelter Organismen. Oder anders ausgedrückt: Es beginnt mit dem Design und der Synthese neuartiger Gene und Proteine. Damit erweitern wir die Menge der natürlichen Grundbausteine des Lebens sowie deren Wechsel­wirkungen untereinander. Mittels gezielter Genmanipulationen, indem wir beispiels­weise neue Gene in einen Zellkern injizieren, verändern wir das Erbgut natürlicher Zellen. Wir erschaffen aber auch ganz neue lebende Zellen durch vollständige Synthese aus einzelnen Komponenten. Und schließlich befassen wir uns nicht nur mit Molekülen und Zellen, sondern auch mit höher entwickelten Organismen – es geht letztlich um die Kreation von höheren Lebewesen mit erweitertem gene­­tischen Code.“

„Life from scratch, bemerkte Qiang.

„In gewisser Weise, ja“, bestätigte Professor Li. „Kann man so sagen. Mit der genetischen Ver­­än­derung natürlicher Organismen schaffen wir ganz neues Leben. Das Leben wird viel­fältiger.“

„Der Mensch als Schöpfer?! Haben Sie keine Bedenken, so ein Thema im christlich gepräg­ten Europa vorzutragen?“

„Der Schöpfungsmythos ist eine theologische oder religiöse Erklärung zur Entstehung der Welt, des Universums oder des Ursprungs des Menschen. Für die Erschaffung der Welt aus einem präexistenten Nichts oder Chaos gibt es in den verschiedenen Religionen unter­schied­liche Schöpfungsmythen. Die alt- und neutestamentliche Vor­stellung von einem Schöp­fer­­gott im Juden- wie im Christentum ist hier in Europa zwar vorherr­schend und steht damit für viele Menschen im Wider­spruch zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen von Urknall und Evolu­tion, das ist rich­tig. Aber es sind eben Mythen, bei denen es um die Bezie­hung von Gott, Mensch und Schöpfung zu einander geht und nicht um naturwissen­schaft­liche Sachverhalte. Der Mythos soll der Welt einen Sinn geben. Daran kann man glauben oder auch nicht.“

„Ja, sicher. Man kann die Welt mythisch deuten oder rational erklären. Die Kosmogonie, also die Erklärungsmodelle zur Weltentstehung, ist so vielfältig wie die Phantasie und das Wissen der Menschen reichen.“

„Ja, allein schon die Weltschöpfungsmythen in den verschiedenen Kultur­kreisen sind teils sehr unterschiedlich. Bei uns in China gibt es bekanntlich weder einen allmäch­tigen Schöpfer noch einen sol­chen göttlichen Willen. Im Buddhismus wird die Vorstellung einer wie auch immer gearteten Schöpfung und die eines Schöpfers, sei es nun eine göttliche Wesenheit oder ein abstraktes Prinzip, ignoriert oder als nebensächlich behandelt. Wie Sie sicher wissen, hatte der Buddha Siddhartha Gauta­ma das damit begründet, daß die Beschäftigung mit solchen unergründlichen Fragen im religiösen Leben letztlich keinen Erkenntnisgewinn bringe. Die Fragen nach Schöpfung und Her­kunft des Lebens seien prinzipiell nicht sinnvoll oder vollständig zu beantworten und er­zeug­ten lediglich Verwirrung bis hin zum Wahnsinn. Daher wolle er nichts darüber sagen.“

„Richtig. Leider kann aber auch die Wissenschaft ihre Urknalltheorie immer noch nicht end­gültig be­wei­sen. In der Wissenschaft ist diese Theorie zwar allgemein akzeptiert, aber sie ist nicht direkt über­prüfbar, da man den ursprünglichen Vorgang ja nicht wiederholen und dabei beob­achten kann. Und solange man diesen Beweis nicht führen kann, bleibt es eben für viele Men­schen beim Glauben.“

„Diese Beweisführung wollten ja die Forscher mittels eines simulierten Urknalls am ‚Large Hadron Collider‘ der 1954 von 12 europäischen Staaten gegründeten ‚Europäischen Organi­sa­tion für Kernforschung‘ (CERN) bei Genf erbringen und dabei neue Erkenntnisse über den Ursprung der Erde sammeln. Leider sind die Forscher immer noch nicht so weit gekom­men. Sie haben bisher nur Teilerfolge erzielen können.“

„Ja, es gab ja auch verschiedene Pannen beziehungsweise Unfälle. Das begann schon gleich bei der Erst-Inbetriebnahme im September 2008 mit der explosionsartigen Ver­dam­pfung großer Mengen flüssigen Heliums in Folge eines elektrischen Defekts. Und so gab es immer wieder Rückschläge.“

„Naja, wir werden es ja vielleicht noch erleben. Aber das bringt uns jetzt doch von unserem Thema ab. Jedenfalls kann ich die häufig gemachte Aussage: ‚Wissenschaftler spielen Gott‘ nicht unterschreiben. Zum einen bin ich kein Anhänger des Schöpfungsglaubens, und zum anderen betrachte ich es als eine sehr sinnvolle und für die Menschheit nutzbringende Auf­ga­be, der Natur dort, wo sie bislang selbst keine Veranlassung für die evolutionäre Entwick­lung von Leben für die Bewältigung bestimmter Herausforderungen oder Aufgaben hatte, gewisser­maßen auf die Sprünge zu helfen.“

„Was meinen Sie?“

„Nehmen wir ein Beispiel: Es besteht kein Grund für die Natur, Energierohstoffe zu produzie­ren. Aber der Mensch braucht sie dringend. In der Vergangenheit haben die Menschen die verfügbaren Rohstoffe wie Holz, Kohle, Erdöl und Erdgas sowie Radioaktivität genutzt. Die Vorräte sind inzwischen weitgehend verbraucht. Wir brauchen Alternativen – neben Wasser- und Windkraftanlagen, Geothermie und Solarenergie. Wir brauchen Energieträger der dritten Generation – produziert von Bakterien. Oder ein anderes Beispiel: Wir produzieren große Men­gen toxischer Abfälle, Chemikalien, radioaktive Substanzen, aber auch Erdölkatastro­phen verseuchen ganze Landstriche oder Meere. Den Abbau dieser gefährlichen Substan­zen sollen Armeen von entsprechend darauf ausgerichteten Bakterien bewältigen. Für die Natur bestand kein Bedarf für die Bewältigung solcher Aufgaben, weil es diese Schadstoffe nicht gab. Erst der Mensch schuf mit seinem häufig unbedachten Handeln diese neuartigen Herausforderun­gen. Und dafür schaffen wir Abhilfe mit synthetischen Organismen.“

„Das ist nachvollziehbar. Bevor wir das vertiefen, würde ich aber gern noch einmal kurz auf den Ausgangspunkt unserer Debatte zurückkommen, wenn Sie erlauben.“

„Selbstverständlich, gerne!“

„Wenden Sie die Verfahren eigentlich auch beim Menschen an?“

„Das ist die größte Sorge, die immer wieder von allen Seiten geäußert wird. Ich bin oft genug mit dieser Frage konfrontiert worden. Ich, für meinen Teil, kann diese Frage glatt verneinen, denn wir betreiben in unserem Institut lediglich Forschung auf diesem Gebiet, keine ange­wandte Medizin oder dergleichen. Aber ich kann Sie auch weitergehend beruhigen: Diese Tech­no­logie wird meines Wissens ausschließlich in ganz begrenztem, wohl definierten, weit­hin akzeptierten und staatlich kontrolliertem Umfang zur Gen-Therapie angewandt, also zur Heilung oder sogar Vermeidung von Erbkrankheiten.“

„Das ist auch mein Verständnis. Ich glaube mich zu erinnern, gehört zu haben, daß bei gen­defekt-bedingten vererbbaren Krankheitsrisiken, zum Beispiel bei Mukoviszidose und be­stimm­­ten Krebsarten, schon seit längerem auf Wunsch der Betroffenen eine Gentherapie vor­genom­men werden kann.“

„Das ist richtig. Aber was Sie vermutlich meinen, ist eine Präimplantations­diagnostik mit an­schließender Embryonenselektion. Das macht man schon sehr lange, ja, beispielsweise bei genetisch bedingtem Tumorrisiko. Bereits 2007 oder 2008 ist da ein Fall aus Großbritannien publiziert worden, soweit ich mich erinnere. Und zwar waren dort in einer Familie über drei Generationen die Frauen an Brustkrebs erkrankt, weil sie – wie sich dann bei Untersuchun­gen herausstellte – Trägerinnen einer Mutation im BRCA1-Gen waren. In so einem Fall ist die Wahr­scheinlichkeit auch für die nächste Generation sehr groß, an Brustkrebs zu erkranken, immerhin 50 bis 80 Prozent, weshalb auf Wunsch der Familie die damals noch relativ neue Methode der PID angewandt wurde. Das bedeutet jedoch nicht, daß eine Gen-Manipulation vorgenommen wurde, sondern lediglich eine Selektion gesunder Embryonen. Das ist etwas ganz anderes!“

„Aha, verstehe! Diese Methode ist sicher weniger riskant als eine Genmanipulation und ethisch unbedenklicher.“

„Sollte man meinen. Eine ‚künstliche’ Selektion gesunden Lebens ist allemal unbedenklicher als eine künstliche Manipulation am menschlichen Erbgut. Aber dieser Aussage stimmen selbst heute noch längst nicht alle Menschen zu, obwohl diese Methode inzwischen gängige medizinische Praxis ist. In den Anfangsjahren gab es große Debatten um das Thema: Die Befürworter schwärmten von einer neuen Ära medizinischen Fortschritts, während die Geg­ner eine vorgeburtliche genetische Diagnostik und Embryo-Selektion aus ethischen Erwä­gun­gen grundsätzlich ablehnten. Die Kritiker empfanden es als schweren Tabubruch. Ins­besondere wurde immer wieder die Grenze des Zulässigen debattiert: Bis wohin sollte man gehen dürfen, und was sollte nicht mehr erlaubt sein? Welche Kriterien wären dafür maß­geblich, und wie könnte die Einhaltung überwacht werden? Endlose Debatten!“

„Aber nicht zu Unrecht, denke ich. Es sind schließlich alles sehr grundsätzliche Fragestellun­gen, Fragen der Ethik, Auffassungen vom Menschenbild.“

„Alles richtig. Aber die Debatten haben auch gezeigt, daß die Auffassungen nicht nur weit aus­­einandergehen, sondern auch über der Zeit variieren. Das heißt, daß die Grenze zwischen dem, was in der Gesellschaft noch akzeptabel beziehungsweise nicht mehr akzep­tabel er­scheint, fließend ist. Sie verschiebt sich mit der Zeit. Sehen Sie, es ist doch so: Am Anfang einer neuen Entwicklung, wenn man noch nicht genau überschauen kann, ob letztlich die Chan­cen oder Risiken überwiegen werden, dann haben viele Leute Angst davor und wollen diese Entwicklung am liebsten unterbinden. Wenn man zu allen Zeiten auf diese Leute gehört hätte, dann gäbe es keine Fortschritte. Nun gibt es aber glücklicherweise mindes­tens ebenso viele Menschen, die von einem unheimlichen Forscherdrang beseelt sind, und die sich in ihrer Forschungsarbeit auch nicht von den Bedenkenträgern abbringen lassen. Ihnen verdanken wir all die Fortschritte, die dann schließlich auch die ehemaligen Bedenkenträger gern in An­spruch nehmen. Bestes Beispiel: Die PID war nicht aufzuhalten, genau wie schon die In-vitro-Fertilisation zirka 30 Jahre zuvor. Bald schon liefen künstlich befruchtete Retorten-Babys en mass herum. Und heute laufen auch künstlich embryonen-selektierte Retorten-Babys massen­haft herum – alles kerngesunde Menschen. Kann man so etwas wirklich verhindern wollen?“

„Hm. . . . Spontan müßte man Ihre Frage sicher mit ‚Nein’ beantworten“, entgegnete Qiang nach­denklich. „Aber die Frage nach der Grenze des Zulässigen scheint mir schon sehr berechtigt. Solange es sich um die Vermeidung von schweren Erbkrankheiten handelt, kann man die Mög­lich­keit der PID eigentlich nur begrüßen. Ich sähe jedenfalls keinen einzigen Grund, der dage­gen spräche. Wenn es aber darum geht, das Genom eines Menschen im Sinne von den Eltern gewünschter Eigenschaften, wie zum Beispiel Aussehen, Körperbau oder Intelligenz, zu mani­pu­lieren oder auch nur zu selektieren, dann hätten wir es mit einem ‚Designer­­baby’ zu tun, und das schiene mir eher nicht gerechtfertigt.“

„Wir reden aber im Moment nicht über Manipulation, sondern lediglich über Selektion. Und Selektion bedeutet nicht Design! Es ist lediglich – wie der Name schon sagt – eine Auslese. Sie können also bei den gegebenen Embryonen lediglich deren Genome auf ihre Merkmale hin analysieren und dann einen geeigneten beziehungsweise gewünschten auswählen und ein­pflan­zen.“

„Das stimmt allerdings. Wir reden hier immer noch über Selektion. Was mich aber eigentlich viel mehr interessiert, ist das Thema Manipulation. Sie sprachen ja vorhin von genetisch verän­der­ten Organismen.“

„Manipulation des menschlichen Erbgutes im Sinne eines genetischen Neuentwurfes zum Zwecke der Optimierung körperlicher und geistiger Fähigkeiten, das ist gleichbedeutend mit dem Design eines Menschen, und das ginge weit über die gerade angesprochene Auslese gesunder Embryonen sowie die ‚Reparaturfunktion’ krankhafter Gene hinaus. Es wäre in der Tat ein sehr fragwürdiges Unterfangen, ein gravierender Eingriff in die Natur des Menschen. Die Möglichkeiten dazu sind heute schon weitgehend ge­geben, ja, aber das gehört nicht zu meinem Aufgabenfeld.“

„Aber sagten Sie vorhin nicht, daß sich Ihr Arbeitsgebiet über alle Organisationsebenen der belebten Natur erstreckt, von der molekularen über die zelluläre bis hin zur Ebene höher entwickelter Organismen? Ist es Ihrem Aufgabenfeld also nicht zumindest sehr verwandt?“

„Ja, ja, das bedeutet jedoch nicht, daß wir in unserem Institut am Menschen arbeiten.“

„Okay, akzeptiert. Aber darf ich interessehalber trotzdem eine Frage dazu stellen?“

„Ja, bitte.“

„Ich habe mal gelesen, daß man die DNA-Sequenz von Bakterien, Pflanzen, Tieren und sogar vom Menschen mit einer sogenannten Gen-Schere vom Typ Crispr-Cas – was auch immer das heißt – ganz gezielt an einer definierten Stelle aufschneiden, bestimmte Genregionen heraustrennen und neue Erbinformation einsetzen kann. Ist das richtig?“

„Ja, das stimmt. Das Verfahren beherrscht man schon sehr lange. Entdeckt wurde es in den 1970er Jahren gewissermaßen bei der Beobachtung, wie ein neuer Virus eine Bakterienpopulation attackierte und diese zum großen Teil vernichtete. Aber einige Bakterien hatten diesen Angriff überlebt, mit bestimmten eigenen Enzymen einen Teil des Viren-Erbgutes abgeschnitten und diesen in ihre eigene DNA integriert. Damit hatten die Bakterien für sich – aber auch gleich für deren Nachkommen – eine Abwehrwaffe gegen erneute Viren-Attacken dieser Art generiert. Denn mit jeder nächsten Teilung des Bakteriums vererbt sich auch die integrierte Viren-Erbinformation (genannt Crispr) und damit der Schutz gegen deren Attacken auf die Nachkommen. So wird bei jedem erneuten Angriff dieses Virus-Typs die vom Bakterium aufgenommene Virus-Erbinformation des Angreifers erkannt und dessen Erbgut mittels eines Schneide-Enzyms (genannt Cas) an genau dieser Stelle zerschnippelt. Mit dieser Erkenntnis hatten die Forscher eine Möglichkeit zur gezielten Genmanipulation gefunden. Man nennt es jedoch nicht ‚Manipulation‘, sondern ‚Genome Editing‘. Die Technik wurde im Laufe der Jahre ständig verbessert; insbesondere die im Jahre 2015 entwickelte Methode ‚Crispr Cas9‘ erlaubt seither eine schnelle, einfache und sehr zielgerichtete Veränderung der DNA.“

„Das ist ja wirklich interessant. Aber ist es nicht sehr gefährlich, in das Erbgut des Menschen einzugreifen und damit die Evolution gewissermaßen in die eigenen Hände zu nehmen?“

„Den Eingriff in das Erbgut beherrscht man mit der neuen Technik inzwischen sehr gut, und es hat schon vielen schwerkranken Menschen zum Nutzen gereicht. Es wird meines Wissens ausschließlich zu Therapiezwecken angewandt. Und insofern beeinflußt es auch nicht die Evolution, denn dazu müßte ein Eingriff in die Keimbahn vorgenommen werden.“

„Sie glauben nicht, daß das geschieht?“

„Nein, ich gehe davon aus, daß man letztlich vor diesem Schritt zurückschrecken wird.“

„Was berechtigt Sie zu dieser Annahme?“

„Nun, eine Spezies, die über das nötige Wissen und die Mittel verfügt, ihre eigene Art so zu ver­ändern, daß diese neugeschaffenen Kreaturen ihren ‚Schöpfern’ körperlich und geistig über­­legen sind, diese Spezies würde sich selbst zum Sklaven ihrer Schöpfung machen und daran schließlich ganz zugrunde gehen. So dumm wird kein Mensch sein.“

„Sehr weise! Hoffentlich denken alle so.“

Herr Li lächelte und nickte mit dem Kopf.

„Ich verstehe Ihre Aussage also so, daß sich Ihre Arbeit nicht auf den Menschen als Ver­suchs­objekt bezieht, sondern lediglich auf niederere Lebewesen?“

„So ist es. Und damit kommen wir wieder auf unseren Ausgangspunkt zurück – die Synthe­tische Biologie: Sie vereint neben der klassischen Biologie viele verschiedene andere Wis­sen­­schaften wie etwa die Molekularbiologie und die Biotechnologie, sowie Chemie, Physik, Infor­ma­tik, sogar Mathematik, und sie ist gewissermaßen die Weiterentwicklung der System­biolo­gie, wo wir versuchen, mittels theoretischer Konzepte und mathematischer Methoden ein ver­tief­tes Verständnis von den komplexen Vorgängen in der Zelle zu erhalten. Die dabei erlangten Erkenntnisse werden dann in der Synthetischen Biologie konsequent zu einem rationalen Design von biologischen Systemen und Bausteinen umgesetzt. Und anders als in der her­­kömmlichen Gentechnik, wo lediglich einzelne Gene modifiziert, transferiert bezie­hungs­weise zwischen verschiedenen Organismen ausgetauscht werden, verändern und er­wei­­tern wir auch den genetischen Code mit seinen normalerweise 20 Standard-Amino­säu­ren. Uns geht es um das Design kompletter künstlicher biologischer Syste­me. Sie sehen, wir sprechen in diesem Kontext auch von Systemen.“

„Aha?!“ äußerte sich Qiang etwas verwundert.

„Ja, wir benutzen in der Biologie auch andere Termini technici wie beispielsweise Bauplan, Bau­kasten und Schaltkreis. Überhaupt haben wir eine ganze Menge aus der Terminologie und Arbeitsweise der Technik übernommen. Auch wir bedienen uns beim Design- und Ent­wick­lungs­­prozeß ingenieur­wissen­schaft­licher Methoden. Nicht ohne Grund ist da eine ganz neue Berufsbezeichnung, der Bioingenieur, entstanden.“

„Ah, ja! Interessant, daß Sie in der Biologie in ganz äquivalenter Weise wie wir in den tech­nischen Disziplinen arbeiten.“

„Selbstverständlich! Die ingenieurwissenschaftlichen Disziplinen bestehen ja schon wesent­lich länger als das vergleichsweise neue Arbeitsgebiet der Synthetischen Biologie und haben somit eine gewisse Vorbildfunktion für uns. Was sich in der Praxis schon bewährt hat und übertrag­bar ist, das muß doch nicht neu erfunden werden.“

„Sie sagen es! Aber dieser Gedanke muß sich natürlich erst mal in den Köpfen unserer Ent­wick­lungsingenieure – welcher Couleur auch immer – manifestiert haben. Dazu muß üblich­er­weise ein längerer ‚Erziehungsprozeß’ durchlaufen werden – mit entsprechendem Nach­druck der Geschäftsleitungen, versteht sich. Denn es entspricht bekanntlich ein bißchen der typischen Mentalität eines Entwicklungsingenieurs, lieber alles selber und immer wieder neu zu entwickeln anstatt fertige Entwicklungen beziehungsweise Komponenten von anderen zu übernehmen – nach der bekannten Devise: ‚Not invented here!’ Kennen Sie sicher auch?!“

„Ja, ja, natürlich!“

„Nehmen wir nur mal das sogenannte Baukastenprinzip. Bei uns in der Technik wird ja schon sehr lange so gearbeitet – anfangs eher zögerlich und nur vereinzelt, aber inzwischen sehr konsequent und durchgängig. Denn mit der Zeit wurde der Kosten-Druck einfach zu groß. Man kann ja nicht immer alles neu entwickeln, wenn es schon brauchbare Lösungen gibt; das kann niemand mehr bezahlen. ‚Re-useability’ war das große Schlagwort, das sich immer stärker durchsetzte. Und auch der internationale Trend zur Standardisierung trug ganz wesent­­lich zur Durchsetzung des Prinzips der Wiederverwendbarkeit bei.“

„Das ist schon richtig und wichtig! Auf der einen Seite Standardisierung und der Zwang zu niedrigen Kosten, auf der anderen Seite aber darf man die Kreativität unserer Ingenieure auch nicht zu sehr unterdrücken. Sie entwickeln ja auch immer wieder leistungsfähigere und effizientere Lösungen, die uns neue Vorteile bringen.“

„Zweifellos! Da sprechen Sie mir aus der Seele, ich bin ja selber Ingenieur. Es ist ein schma­ler Grat, auf dem wir uns da bewegen. Wir brauchen beides.“

„Richtig!“

„Da sind wir uns einig. . . . Aber ich hatte Sie wohl unterbrochen. Sie wollten, glaube ich, noch etwas über die Synthetische Biologie im Unterschied zur Gentechnologie erzählen?“

„Ja, da waren wir stehengeblieben. Also, nochmal: Generell läßt sich sagen, das Ziel unser­er Bemühungen war und ist ein modulares System – übrigens auch ein bekannter Terminus technicus – von exprimierbaren Genen, die in einem Wirtsorganismus – manche sprechen auch ganz technisch von einem Chassis – je nach Bedarf zusammengefügt werden können und dort nicht nur die vorhandenen, natürlichen Stoffwechselwege nutzen, sondern auch neue in der Zelle etablieren.“

„Das Baukastensystem.“

„Genau. Das heißt bei uns: Für das Design neuer Organismen generieren wir zunächst ein ganzes Sortiment an standardisierten und damit immer wieder verwendbaren biologischen Grundbausteinen des genetischen Codes mit definierten Funktionen und Eigenschaften, soge­nannten ‚bioparts’ oder auch ‚BioBricks’, die für die verschiedenen neu zu schaffenden Orga­nis­men in gewünschter Weise immer wieder neu kombiniert werden können – also vergleich­bar zu den in der Technik üblichen Software- und Hardware-Komponenten.“

„Ja, das ist ein guter Vergleich.“

„Um das zu realisieren, müssen wir zum einen die genetischen Netzwerke der Organismen in ihre Einzelteile, die schon erwähnten bioparts, zerlegen und in unserem Baukasten ver­fügbar halten. Das ist geschehen; es gibt inzwischen ein weltweites Register standardisierter bioparts. Und zum anderen brauchen wir für die Rekombination einen Wirtsorganismus, in den wir die gewünschten Bioparts-Kombinationen einbauen können. Dieser Wirtsorganismus sollte ver­ständ­licherweise ein absolut modularer, auf seine allernotwendigsten Systemkom­po­nenten redu­zierter Minimalorganismus – das möglichst kleinste Lebewesen, das sich eigen­ständig im Labor vermehren kann – mit der kürzest möglichen Generationenzeit sein. Und das war lange Zeit ein ungelöstes Problem. Dazu mußten wir zunächst mal heraus­finden, welche Gene für den Syntheseprozeß im Labor unbedingt notwendig beziehungs­weise nicht notwendig, also verzichtbar, sind. Und das ist nicht so einfach, wie es klingt. Es reicht nämlich nicht – wie wir das anfangs nur machen konnten –, immer nur ein Gen nach dem anderen auszuschalten, um dessen Wirkung zu erkennen, weil es ja eine ganze Reihe von Wechselwirkungen zwischen den zahlreichen Stoff­wechsel­wegen und ihrer Regulation gibt, die man nur identifizieren kann, wenn man komplette Minigenome synthetisiert und testet, ob sie existieren können. Man muß also alle möglichen Kombinationen durchspielen, und das ist ziemlich aufwendig. Deshalb lag es nahe, diese Untersuchungen mittels Com­puter­simulation zu unterstützen.“

„Wieder ein guter Vergleich zum technischen Bereich.“

„Gewiß. Das setzte allerdings voraus, daß wir die teils sehr komplexen zellulären Vorgänge in natürlichen Organismen verstehen, und da haben wir noch manch ein Problem. Denn wir kön­nen bisher nicht die Gesamtheit der in einer Zelle ablaufenden Prozesse in einem Com­pu­ter­modell realistisch und detailgetreu abbilden. In jeder biologischen Zelle laufen zeitgleich un­zählige vielfach ineinander verschachtelte, untereinander abhängige und sich gegenseitig re­gu­­lierende chemische Prozesse ab, die uns derzeit immer noch einige Kopfschmerzen be­rei­ten. Aber wir können mehr und mehr spezifische Teilpro­zes­se einer Zelle schon sehr gut im Computer darstellen. Um Ihnen ein Beispiel zu geben, das besonders für Krebspatien­ten von großer Bedeutung ist: Wir können gestörte Signalübertra­gungs­wege in Krebszellen er­ken­nen, sie im Computermodell nachbilden und auf diese Weise die Ursache der Störung so­wie die Möglichkeiten zu deren Behebung herausfinden. Und eines Tages werden wir auch Herr der ganzen Komplexität der Zelle sein.“

„Klingt zuversichtlich.“

„Ja, ich weiß, was ich sage. Bald werden wir die komplexen zellulären Vorgänge in natür­lichen Organismen ganz verstehen und in einer Wissensbasis speichern, um sie anschlie­ßend allen Forschern zur Ver­fügung stellen zu können. Inzwischen haben wir einige univer­sell einsetz­bare Minimalgenome reali­siert, die mit rund 200 Genen als Minimum für Leben auskommen und nun als Wirtsorga­nis­­mus für völlig neue Organismen genutzt werden, deren Erbgut wir unseren Wünschen ent­sprechend computer­gestützt konzipieren und chemisch synthetisieren.“

„Hört sich irgendwie phantastisch an“, sagte Qiang bewundernd.

„Ist es auch. Es übersteigt sicher die Vorstellungskraft Außenstehender, daß wir existente natür­liche Organismen durch Integration von künstlich generierten biochemischen Systemen modi­fizieren und auf diese Weise die Eigenschaften der ursprünglichen Organismen im ge­wün­­schten Sinne verändern. Und es wird deren Vorstellungskraft noch mehr übersteigen, daß wir schrittweise, from scratch – analog zu den biologischen Vorbildern – neue chemi­sche Sys­te­me so aufbauen, daß sie bestimmte, gewünschte Eigenschaften von Lebewesen aufweisen.“

„Und das funktioniert schon?“

„Über das Forschungsstadium sind wir inzwischen in vielen Dingen längst hinaus. Seit ge­rau­mer Zeit ist das state of the art. Sie müssen wissen, daß die Entwicklung erster bio­chemi­scher Schaltkreise aus DNA-Sequenzen und zugehörigen Proteinen – sie lassen sich in ihrer Funktion etwa vergleichen mit den aus der Digitaltechnik bekannten logischen Opera­tionen AND, OR, NOT und anderen – bereits Anfang des Jahrtausends begann. Damals ge­lang den Forschern die Herstellung eines biologischen Oszillators durch Genmanipulation von Kolibak­terien – mit anderen Worten: Die Herstellung eines genetischen Schaltkreises, be­stehend aus drei verschiedenen BioBricks, der das Bakterium periodisch aufleuchten läßt.“

„Aufleuchten?“

„Ja, indem ein BioBrick ein Fluoreszenz-Protein produziert, das durch Wechsel­wirkung mit den anderen BioBricks ein oszillierendes Aufleuchten bewirkt.“

„Gibt es dafür schon technologische Anwendungen?“

„Selbstverständlich, schon lange! Beispielsweise beim Aufspüren von Land­minen. Und es zeigt sogar die Konzentration des Sprengstoffs TNT im Boden an, indem es in entsprechend unter­schiedlichen Farben aufleuchtet.“

„Phänomenal, wirklich phänomenal!“ staunte Qiang. . . . „Allerdings – ohne Ihre Ausführun­gen auch nur im geringsten anzweifeln zu wollen – habe ich gewisse Schwierigkeiten, mir solche genetischen Schaltkreise vorzustellen, muß ich gestehen. Denn obwohl Sie hier des öfteren den Vergleich Ihrer biologischen mit unseren technischen Schaltkreisen bemühen, gehe ich doch davon aus, daß diese ganz grundsätzliche Unterschiede aufweisen. Immerhin haben Sie es mit Lebewesen zu tun, wir in der Technik hingegen mit Materie. Lebewesen vermeh­ren sich und interagieren mit der Umwelt. Damit sind auch die in das Genom im­plantierten Fremd­gene der Evolution ausgesetzt, nehme ich an, und können sich verändern. Und unabhängig davon können sie sich in der neuen Umgebung möglicherweise auch ganz anders verhalten als gedacht und beabsichtigt. Das alles kann bei uns in der Technik nicht passieren. Ist also so ein Vergleich überhaupt gerechtfertigt?“

„Ihr Einwand ist berechtigt. Und wir hatten neben dem von Ihnen angesprochenen Problem auch noch ganz andere zu bewältigen. In der Tat mußten wir in der Anfangszeit feststellen, daß die manipulierten Zellen schon nach kurzer Zeit auf Grund der Zellteilung und damit ver­bun­dener Veränderungen nicht mehr das gewünschte Verhalten zeigten. Außerdem sind die im­plantierten genetischen Schaltkreise, wie Sie sehr richtig bemerkten, gewissermaßen Fremd­­körper in den Wirtsorganismen, die deren Vitalität und Komplexität – und damit auch deren Eigenschaften in teilweise ungewollter Weise – beeinflussen. Und schließlich unter­scheidet sich auch die Signalübertragung in technischen von der in biologischen Systemen. Während in ersteren beispielsweise Punkt-zu-Punkt-Verdrahtungen möglich sind, wirkt sich in letzteren ein Signalmolekül auf alle Systemelemente mit entsprechenden Rezeptoren aus – bildet also, um in Ihrer Sprache zu bleiben, eine Punkt-zu-Mehrpunkt-Verbindung. Also, neben diesen und ein paar weiteren Schwierigkeiten gibt es natürlich eine Menge Unter­schiede, aber es gibt eben auch gewisse Entsprechungen, die den Vergleich durchaus ange­bracht erschei­nen lassen. Wie dem auch sei – die angesprochenen Schwierigkeiten sind inzwischen längst beherrscht. Heutzutage werden die meisten synthetischen Organismen bereits in Massen für die unterschiedlichsten Anwendungen und Einsatzbereiche maschinell produziert.“

„Können Sie mir Beispiele nennen?“

„Sicher. Diese transgenen Organismen übernehmen heute schon zahlreiche Aufgaben für uns, die von den uns bekannten natürlichen Organismen nicht geleistet werden können. So finden diese maßgeschneiderten Bakterien – wir bezeich­nen sie auch als Mikromaschinen, übrigens wieder ein Begriff aus der Technik – vielfältige An­wendungen in der Lebens­mittel­technik, der Pharmazeutik, der medizinischen Diagnostik und Therapie, der Informations­ver­arbeitung, der Herstellung von Nanomaterialien, der Energie­er­zeu­gung und vielem anderen mehr. Zwei andere habe ich eingangs schon erwähnt. Denken Sie nur daran, daß bereits die ganze Erdöl­in­dus­trie durch biologische Pro­duktions­verfahren ersetzt wurde. Heute werden umwelt­freund­liche Energieträger von syn­the­tisierten Super­mikro­ben aus Kohlendioxid, Was­ser und Licht produziert, Biosprit aus Fett­säuren, Bioethanol aus Ernterückständen, Holz oder Stroh – und nicht mehr, wie früher, aus Maisstärke oder aus Zuckerrohr. Damit steht der Prozeß nicht mehr in Konkurrenz zur Lebens­­mittelproduktion, was angesichts der welt­weiten Verknappung und Verteuerung von Grundnahrungsmitteln in Verruf gekommen war. Sie lösen also eine Reihe unserer Energie­probleme. Die chemische Industrie hat mittels gentechnisch optimierter Mikroorganismen Verfahren zur effizienteren und umwelt­freund­licheren Massenproduktion von Chemikalien, Medikamenten und komplexen Wirkstoff­träger­systemen, Glukose, Zitronensäure, Amino­säuren, Bioethanol, biologisch abbaubaren Kunst­stoffen und vieles andere mehr aus nach­wachsenden Rohstoffen entwickelt. Von beson­derer Bedeutung sind auch die speziell für den Abbau von toxischen Abfällen sowie für die Sanie­rung chemisch belasteter Böden ent­wickelten Bakterienkulturen, die an vielen Stellen der Welt in großen Mengen ihre wert­volle Arbeit vollbringen. Gerade für eine Massenproduktion in Größenordnungen von mehre­ren Millionen Tonnen pro Jahr kommt es auf solche Faktoren wie ‚umweltfreundlich‘, ‚effektiv‘ und ‚preiswert‘ ganz besonders an. Aufgrund dieser Ver­fah­ren sprechen wir auch schon mal von der ‚Biologisierung der chemischen Industrie’. Weitere An­wen­dungen finden Sie im Bereich der Sensorik, wo biosynthetisch optimierte Bakterien als kosten­günstige und hochempfind­liche Sensoren zum zuverlässigen Aufspüren von Gift- und Schad­stoffen eingesetzt werden. Die bakteriellen Sensoren zeichnen sich insbesondere da­durch aus, daß sie nicht nur die Art des Stoffes, also zum Beispiel Arsen, Benzol, Toluol, polychloriertes Biphenyl oder auch Ölrück­stände im Meerwasser, identifizieren, sondern auch deren Toxizität und Intensität beziehungs­weise Dosis. Ähnlich wie bei der schon erwähn­ten TNT-Detektion wird auch hier das Ergebnis durch Aufleuchten des Bakteriums angezeigt. Und auch hier ist mit zuneh­men­der Konzen­tration des nachzuweisenden Stoffes der Biolumines­zenz-Effekt umso stärker aus­geprägt.

Abschließend will ich noch einen anderen wichtigen As­pekt erwähnen: Den Einsatz von Mikro­­organismen unter extremen Umweltbedingungen. Dazu muß man wissen, daß es Bak­terien und andere Einzeller gibt – sogenannte Extremophile –, deren Enzyme und Membra­nen opti­mal an bestimmte extreme Umweltbedingungen angepaßt sind, je nachdem, wo sie leben – in Salzseen, Laugen, Säuren, in kochenden vulkanischen Quellen, unter dem Ge­frierpunkt, unter extremem Druck in der Tiefsee, unter radioaktiver Strahlung. Überall gibt es angepaßtes Leben. Und gerade diese Eigenschaften machen sie für biotechnische Anwen­dungen beson­ders interessant, weil sie die Effektivität und die Effizienz chemischer Produk­tionsprozesse deutlich verbes­sern können. Deshalb hat man im Laufe der Jahre überall in solchen unwirt­lichen Lebens­räumen existierende Mikroorganismen eingesam­melt, im Labor hinsichtlich ihrer Eignung für diverse Industrieprozesse analysiert und alle brauch­baren in der einen oder anderen ange­sprochenen Weise weiter gezüchtet. Sie finden heute Anwen­dung in zahllosen Prozessen. Aber es würde viel zu weit führen, darauf hier noch näher einzugehen. Ich denke, ich habe Ihnen ausreichend viele Beispiele aufgezeigt.“

„Ja, das war ein sehr interessanter Schnelldurchgang durch die Synthetische Biologie und ihre Potentiale, Herr Professor Li. Ich danke Ihnen sehr für diese Ausführungen.“

„Aber, ich bitte Sie. Das mache ich doch gern. Und es war ja nur ein sehr bescheidener, klei­ner Einblick in das sehr umfassende Arbeitsgebiet.“

„Wenn Sie erlauben, dann würde ich doch gern noch einen anderen Punkt ansprechen.“

„Selbstverständlich! Bitte, gern.“

„Birgt diese Technologie nicht doch auch erhebliche Risiken in sich? Ich meine, wenn Sie die Mikro­­organismen in beliebig programmierbare Biomaschinen für allerlei Einsatzzwecke und An­wen­dungen verwandeln, dann könnte doch damit auch eine ganze Menge Unfug ange­stellt wer­den. Die Gefahr eines Mißbrauchs dieser Technologie scheint mir nicht uner­heb­lich.“

„Damit sprechen Sie die Kehrseite der Medaille an, ja, womit wir wieder beim Thema ‚Fort­schritt oder Fortschrittsverhinderung’ wären. Bisher haben wir nur über die positiven Möglich­keiten und Anwendungen der Synthetischen Biologie gesprochen. Aber wie so oft im Leben, kann jede neue Errungenschaft auch mißbräuchlich genutzt werden, leider. . . . Nur, noch­mal: Sollten wir deshalb auf jeden technologischen Fortschritt verzichten? . . . Nein, das kann mei­nes Erachtens nicht die richtige Antwort sein. Die richtige Antwort muß vielmehr lauten: Wir tun alles, und zwar frühzeitig, begleitend zu den Forschungsarbeiten, um uns der Risiken und Gefahrenpotentiale sehr bewußt zu werden und geeignete Strategien, Schutz- und Ab­wehr­­maßnahmen zu entwickeln, mit denen Mißbrauch und Fehlentwicklungen möglichst von vornherein ausgeschlossen werden können.“

„Was aber leider nicht immer so gelingt?“

„Zugegeben. Wo Menschen sind, werden Fehler gemacht.“

„Wie damals? Die tödliche Infektionsepidemie mit Designerbakterien in den zwanziger Jah­ren, glaube ich?! Die Tausende unschuldiger Menschen dahingerafft hat?!“

„Das war ein sehr bedauerlicher Zwischenfall, ja, aber ein Einzelfall. Ein durch­geknallter Wis­sen­schaftler, der die amerikanische Regierung um ein paar Millionen Dollar erpressen wollte. Wenigstens hat auch der mit seinem Leben bezahlt.“

„Einzelfall? Soweit ich mich erinnere, haben doch auch mal Terroristen Designerbakterien als biologische Waffe gegen die USA und Israel eingesetzt. War das nicht auch in den zwanziger Jahren? Oder sogar schon früher?“

„Das ist richtig. Da war mal ein Übergriff mit vielen Toten. Aber wann das genau war, er­innere ich jetzt auch nicht mehr. Allerdings war auch das nur ein Einzelfall, so bedauerlich frei­lich jeder einzelne Fall ist.“

„Sie sprechen immer nur von Einzelfällen?“

„Man darf nicht alles in einen Topf werfen. Jeder Fall ist anders, hat andere Motivation, Aus­führung und Auswirkung. Dementsprechend sind jeweils andere Präventions-, Schutz- und Ab­wehr­­maßnahmen zu ergreifen. Die Lehren aus den angesprochenen Fällen sind sehr schnell gezogen worden und haben immerhin dazu geführt, daß keine Nachahmeraktionen stattfanden.“

„Was den Betroffenen der ersten Fälle aber auch nicht mehr geholfen hat.“

„Das ist in der Tat sehr bedauerlich, ja.“

„Ich denke, es muß sich ja nicht unbedingt immer um einen bewußten Mißbrauch, eine ab­sicht­lich herbeigeführte Bedrohung handeln. Es passieren ja auch immer wieder Unglücks­fälle. Auch dadurch könnten große Gefahren für die Umwelt, für die Bevölkerung und deren Ge­sund­heit ausgehen. Und wie stellen Sie überhaupt sicher, daß uns die Designer­mikroben nicht irgendwann über den Kopf wachsen, daß wir sie schlicht und einfach nicht beherr­schen?“

„Selbstverständlich differenzieren wir hier – genau wie Sie im technischen Bereich – zwischen Safety und Security, also zwischen unbeabsichtigten Unfällen und fehlerhaftem Han­­deln einer­seits sowie absichtlichem Mißbrauch andererseits. So wird schon beim Design synthetischer Organismen analog zur Fehlerbaumanalyse in den Ingenieurwissenschaften etwa allergrößte Sorgfalt zur Vermeidung von Fehlerquellen und damit höchste Aufmerk­sam­keit auf den Sicher­heitsaspekt gerichtet. Und zum Schutz des Know-hows, sowie zur Ge­währ­leistung siche­rer Aufbewahrung und Handhabung der synthetischen Organismen gibt es ein ausgeklü­geltes System von vielerlei Sicherheits­überprüfungen. In jedem Fall hat die Fra­ge der Sicher­heit für uns die allerhöchste Priorität, das können Sie mir glauben. Es gibt im übrigen seit langem international verbindliche Vorschriften und Sicherheits­bestimmungen zum Umgang mit synthetischen Organismen – vom Design über die Realisierung bis zur An­wendung; und selbstverständlich auch zum Schutz des Know-hows und der Daten­banken.“

„Hört sich gut an. Aber soweit ich mich erinnere, hat es auch schon mal einen erfolgreichen Angriff von Bio-Hackern auf die Gen-Datenbanken gegeben. Die haben zwar keinen Scha­den mit ihrem geklauten Wissen angerichtet, aber sie haben gezeigt, daß die Datenbanken eben doch nicht sicher sind, daß dieses Wissen nicht gut genug geschützt ist. Und wenn die das können, dann könnten vielleicht auch Terroristen das schaffen.“

„Das war noch in der Anfangszeit, als auch das damalige Internet nicht sicher war und in viel­fältiger Weise mißbraucht wurde. Da sind inzwischen etliche Riegel vorgeschoben, spe­ziell seit Implementierung des WorldNet. Seitdem hat es meines Wissens keine Netz­inva­soren mehr gegeben.“

„Ja, das WorldNet ist eine gute und sehr sichere Einrichtung. Aber wie schützen Sie sich gegen Insider mit bösen Absichten?“

„Naja, das ist natürlich immer und überall ein generelles Problem. Sie können die Leute ‚ver­gat­tern‘, was wir tun. Die müssen alle eine entsprechende Verpflichtungserklärung, wie Sie das aus dem Bereich der Sicherungs- und Verteidigungstechnik kennen, unterschreiben. Aber das nutzt letztlich auch nichts, wenn jemand, aus welchen Gründen auch immer, böse Ab­sich­ten im Schilde führt. Spione und Saboteure muß man erst mal erkennen, bevor man ihrer habhaft werden kann.“

„Es bleibt also ein Restrisiko?!“

„Wie überall. Vollständige Sicherheit gibt’s nun mal nicht.“

„Entscheidend sind aber die möglichen Folgen. In Ihrem Metier können sie tödlich sein.“

„Womit wir wieder am Anfang Ihrer Fragestellung wären. Ich kann mich nur wiederholen: Wir tun alles Nötige und Mögliche, um Fehler zu vermeiden und Mißbräuche zu verhindern. Un­mög­liches können wir nicht leisten.“

Qiang überlegte: Sollte er weiter insistieren? Das Thema Sicherheit strapazieren? Aber was soll­te dabei noch herauskommen? War nicht eigentlich schon alles dazu gesagt? Sie würden sich doch nur im Kreise drehen mit ihrem Für und Wider. Interessanter wäre vielleicht eher noch zu erfahren, wie Herr Li zu Fragen der Ethik steht. Schließlich beschäftigt er sich mit der Schaf­fung völlig oder teilweise synthetisierter biologischer Systeme, die mit den her­kömm­lichen natürlichen Lebensformen nur wenig bis gar nichts gemein haben. Wie ordnet er seine ‚Kunstobjekte’ ein zwischen Lebewesen und Maschine? Sind es für ihn also den natür­lichen, durch Evolution entstandenen Organismen vergleichbare artifizielle biologische Sys­teme oder betrachtet er sie lediglich als reine Biomaschinen für definierte Aufgaben oder sind sie für ihn irgend etwas dazwischen? Wo zieht er die Grenzen? Wo beginnt und wo endet für ihn Leben, also wie definiert er Leben überhaupt? Und was ist für ihn schützens- und bewahrenswert, nur die natürlichen oder auch die artifiziellen Lebensformen? Ist es unter dem Gesichtspunkt der Ethik überhaupt vertretbar, in das Leben einzugreifen und die weitere Evolution nach dem Nutz­wert für den Menschen selbst zu steuern?

Dazu fielen mir noch eine ganze Reihe weiterer Fragen ein, dachte er sich. Die sicherheits­relevanten und ethischen Aspekte der Synthetischen Biologie schienen ihm noch nicht aus­reichend und abschließend geklärt. Jedenfalls fühlte er noch ein gewisses Unbehagen, so sehr er auf der anderen Seite die vielen damit verbundenen Vorteile auch schätzte. Und wo zieht der Professor eigentlich wirklich die Grenze seiner Arbeit, wenn er davon spricht, daß sich sein Arbeitsgebiet über alle Organisationsebenen der belebten Natur erstreckt, von der molekularen über die zelluläre bis hin zur Ebene höher entwickelter Organismen, wie er sich vorhin aus­drückte. Welche Ebene meinte er damit? Ist vielleicht doch auch der Mensch Objekt seiner Forschung mit den analytischen Methoden der Molekularbiologie und Moleku­lar­genetik? Da hat er sich eigentlich nicht so klar ausgedrückt vorhin, der Herr Professor, dachte Qiang. Das fiel ihm jetzt erst richtig auf. Da hätte er nochmal nachhaken müssen.

Trotzdem wollte er jetzt nicht die ganze Diskussion nochmal von vorne beginnen und auch nicht mehr in eine sicherlich sehr lange dauernde Diskussion mit Herrn Li zum Thema Ethik ein­steigen, entschloß er sich, zumal die Zeit ohnehin schon weit fortgeschritten war, wie er gerade mit einem Blick auf die Uhr feststellte. Auch Herr Li schaute etwas verstohlen auf die Uhr, bemerkte er.

So beließ er es dabei und bedankte sich noch einmal für die sehr interessanten Ausfüh­run­gen des Professors. Während der Professor Anstalten machte, zu gehen, tauschten sie noch ein paar Höflichkeiten aus und verabredeten ganz unverbindlich ein weiteres Gespräch, sobald sich dazu eine Gelegenheit ergebe. Dann verabschiedeten sie sich.

Am Abend, nachdem seine Frau vom Partner-Begleitprogramm zurückgekehrt war, machten es sich die beiden noch etwas gemütlich im Wohnzimmer und tauschten ihre Tageserleb­nisse aus.

„Na, habt ihr euch gut unterhalten?“ fragte Chan ihren Mann.

„Das haben wir. Herr Li war so freundlich, mir von seiner Arbeit zu erzählen. Die vielfältigen neuen, synthetischen Organismen, die da mit ingenieurwissenschaftlichen Methoden ent­wickelt und in großindustriellem Maßstab produziert werden, sind ja inzwischen schon ein Milliardengeschäft! Beeindruckend, wirklich!“

„Beeindruckend, ja. Aber habt ihr auch über die Risiken gesprochen?“

„Die habe ich natürlich angesprochen. Aber darauf reagierte er für meine Begriffe etwas aus­weichend oder besser: abwimmelnd. Er ist der Meinung, Null-Risiko gebe es nicht, aber es seien jedenfalls genügend Sicherheitsmaßnahmen getroffen.“

„Hat er dir auch von den Bio-Hackern erzählt?“

„Nein, das hat er nicht. Ich hatte, wie gesagt, den Eindruck, daß er über potentielle Risiken nicht gerne sprechen wollte. Deshalb habe ich da nicht lange insistiert.“

„Naja, bisher ist ja glücklicherweise noch nicht allzuviel Schlimmes passiert. Aber die Gefahr des ‚Bioterrorismus‘ ist natürlich gegeben. Denn inzwischen kann ja jeder Hinz und Kunz in seinem Keller oder in der Garage damit herumexperimentieren, außer in Deutschland, wo solche Genmanipulationen außer­halb von Sicherheitslabors verboten sind. Die sogenannten Bio-Hacker bilden schon eine weltweite Community von Do-it-yourself-Biologen, und Gen­labor­­ausrüs­tun­gen sind leicht und preiswert zu bekommen. Da besteht natürlich schon die Gefahr, daß die beim Experimentieren mit DNA – absichtlich oder zufällig – auch neue, ge­fährliche Mikroben züchten. Schon seit 2009 wurde in den USA der Wettbewerb International Genetically Engineered Machines (iGEM) veranstaltet, bei dem Studenten­teams aus aller Welt jeweils einen Sommer lang mit gentechnischen Werkzeugen experimentieren. Denen kann man sicher keine bösen Absichten unterstellen, aber es zeigt, daß der Verbreitungsgrad die­ses Tuns unglaublich groß ist. Und schwarze Schafe gibt es überall.“

„Du meinst also, wir haben es hier mit einer latenten Bedrohung zu tun?“

„Wer weiß das schon. Wer kann denn in die Köpfe anderer Leute schauen? Jedenfalls kann man es doch nicht von vornherein ausschließen.“

„Das ist zweifellos richtig.“

„Und mindestens genauso beunruhigend – zumindest aus ethischer Sicht – finde ich den Gedanken, daß da überall orga­nisches Leben wie ein industrielles Produkt hergestellt wird. Und dabei überblickt doch keiner genau, was für Produkte da überhaupt alles entstehen? Wer garan­tiert uns denn, daß da nicht eines Tages so eine Art Frankenstein-Monster ent­steht? Wie will man eigentlich sicherstellen, daß das Ganze nicht einmal völlig aus dem Ruder läuft?“

„Du meinst, es könnte bereits ein hochentwickeltes künstliches Lebewesen à la Frankenstein unter­wegs sein?“

„Das will ich nicht hoffen! Aber was wissen wir denn? Wir haben keine Ahnung, was in den Tausenden kleiner und großer Alchemie-Küchen alles so gezaubert und zusammengebastelt wird. Es gibt doch keine Kontrolle. Und eins ist ja auch klar: Die Organismen, die da irgend­wann einmal aus vielleicht ehrenhaften Motivationen heraus entwickelt und mit dezidierten Auf­gaben vom Menschen in die Natur ausgesetzt wurden, um ihrer Bestimmung gerecht zu werden, zum Beispiel Umwandlung von Treibhausgasen in Baustoffe durch Bakterien, diese Organismen interagieren mit ihrer Umwelt und sind zwangsläufig der Evolution ausgesetzt wie alle Lebewesen in der Natur. Wer glaubt denn, diese Entwicklung noch überblicken und steuern zu können?“

„Also, ich bin ja wirklich kein ängstlicher Mensch und für technische Fortschritte immer zu haben. Deshalb war ich auch ganz begeistert zu hören, was sich durch die Synthetische Bio­logie alles für neue, wunderbare Perspektiven eröffnen. Aber mit deinen – sicher sehr be­rech­tigten – Einwendungen stimmst du mich jetzt doch etwas nachdenklich. . . Allerdings . . . einen Frankenstein werden wir in unserem Leben sicher nicht mehr erleben . . . und unsere Kinder und Enkel auch nicht, denn die Evolution ist ein sehr, sehr langsamer Prozeß.“

„Die natürliche Evolution, ja! Aber hier haben wir es mit einem vom Menschen forcierten evo­lutionären Prozeß zu tun. Angefangen haben sie einst mit einfachen Molekülen, Mikroben und Bakterien. Aber wir wissen nicht wirklich, auf welcher Entwicklungsebene sie heute be­reits ex­peri­mentieren.“

„Komisch eigentlich, daß in der Öffentlichkeit so wenig darüber bekannt ist.“

„Ich hoffe, du kannst trotzdem ruhig schlafen. Ich muß jedenfalls jetzt ins Bett, ich bin hunde­müde.“

„Hmmm . . . Ja, und danke auch für den Aufreger so kurz vorm Schlafengehen!“

Beide mußten lachen, dann gingen sie zu Bett.

Das Familiengeheimnis

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