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Ein Arbeitstag geht zu Ende

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Es war ein anstrengender Tag für Wang Qiang. Schon früh um 6.00 Uhr war er zu Hause los­­ge­fah­ren, um rechtzeitig zum Beginn der Verhandlungen in Leipzig zu sein. Dieser Termin war für ihn sehr wichtig, es ging immerhin um die Übernahme des in wirtschaftliche Schwie­rig­kei­ten geratenen Systemhauses AnthropoTech, seines größten Konkurrenten auf dem Sek­tor der Roboter-Entwicklung in Deutschland. Den ganzen Tag über hatte er mit dem Ge­schäfts­führer und den Gläubiger­banken verhandelt. Es waren sehr schwierige Verhand­lungen, und nicht alle Punkte konnten abschließend geklärt werden, aber er war trotzdem sehr zufrieden mit dem Ergebnis. Man hatte schließlich weitgehende Einigung erzielt, und für die noch offe­nen Punkte zeichneten sich Wege zur Verständigung ab.

Jetzt, auf der Rückfahrt nach Hause, hatte er es sich in seinem Auto halb sitzend, halb lie­gend bequem gemacht. Er schaute ein bißchen in die Gegend, und erst allmählich regis­trierte er, daß es ein wunderschöner Herbsttag gewesen sein mußte. Die Sonne sandte noch ein paar warme Strahlen und tauchte die Landschaft in ein farbenfrohes Gemälde mit ange­nehm wei­chen Konturen. Das Fahrzeug schwebte gleichmäßig und fast lautlos durch dieses Gemälde und führte ihn dank Selbstfahrautomatik autonom und sicher auf seinem Weg nach Hause. Er mußte sich nicht auf den Verkehr konzentrieren, und so konnte er die Fahrtzeit nutzen, sich zu entspannen, die vorbeiziehenden Landschaftsbilder zu genießen oder die Augen zu schließen und seinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Er spürte die langsam nach­lassende Anspannung, die sich im Laufe des Tages zunehmend, aber von ihm selbst auf Grund seiner vollen Konzentration auf die Verhandlungen unbe­merkt, aufgebaut hatte. Er freu­te sich auf sein Zuhause, auf seine Familie, auf seine medi­tativen Entspannungsübungen. Kurz vor Ulm, sein Autopilot zeigte noch 25 Kilometer bis zu seiner Wohnung, rief er zu Hause an, um seine Ankunft anzukündigen und ein paar Anwei­sun­gen an Robby zu geben.

„Ja“, sagte Robby, „ich habe schon gesehen, daß du kurz vor Ulm bist und gleich hier ein­tref­fen wirst, Qiang. Ich werde alles vorbereiten, bis gleich.“

Unwillkürlich kam ihm der Gedanke an die Worte von Herrn Güssen, dem Ge­schäfts­führer von AnthropoTech, der ihn neulich bei einem chinesischen Ausstellerstand auf der Leipziger Herbstmesse gesehen haben will. Wie kommt der Mensch bloß darauf, fragte er sich. Ich war doch gar nicht auf der Messe dieses Jahr. Habe ich vielleicht einen Doppelgänger? Nein, nein, der Güssen muß sich getäuscht haben. Aber komisch ist das schon. Dann dachte er wieder an den Ablauf der Gespräche, die unterschiedlichen Positio­nen und Argumente, an die erzielten Vereinbarungen, an die noch offenen Punkte. Würde seine Stra­tegie tatsächlich aufgehen, dann wäre das allein schon durch die Nutzung der sich aus dem Firmenzusammenschluß ergebenden Synergien ein kolossaler Gewinn für die Fort­ent­wick­lung seines Unternehmens. Er könnte jetzt endlich . . . aber da erkannte er auch schon die Autobahnabfahrt Ulm-West. Automatisch reduzierte das Fahrzeug die Geschwin­dig­keit und bog in die Abbiegespur ein. Nun dauerte es höchstens noch fünf Minuten bis nach Hause.

Sein Haus war sehr schön gelegen, in einem nördlichen Außenbezirk der Stadt Ulm. Hier war im Laufe der letzten Jahrzehnte mit fortschreitendem Ausbau der sogenannten Wissen­schafts­stadt, auch Science Park oder Brain Town genannt, einer Ansammlung von Univer­si­tät und Hochschule sowie diversen Forschungsinstituten und anderen forschungs­­nahen Ein­rich­tun­gen und Industriebetrieben, eine sehr große Trabantenstadt für die dort Beschäftigten entstanden. Und hier hatte Wang Qiang, der Inhaber und Geschäfts­führer der im Areal der Wissenschafts­stadt gelegenen Roboter-Firma BrainTech, vor etwa fünf Jahren ein 800 Qua­dratmeter großes Baugrundstück von der Stadt angebo­ten bekommen und sofort zuge­grif­fen. Denn hier stimmte nach seiner Vorstellung so ziemlich alles. Die ganze Infrastruktur war beinahe beispiellos: Kurze innerörtliche Verbindungswege, Anbin­dung an Autobahnen und Schnellzüge sowie an einen Flughafen, städtische Ämter, Zubringer- und Entsorgungs­dienste, sportliche Einrich­tun­gen, Schulen und Kindergärten sowie ausreichend Einkaufs­möglichkeiten und nette Lokale. Trotzdem konnte man das Gefühl haben, in einem Park zu leben, denn breite Grüngürtel und kleine, künstlich angelegte Seen und Bachläufe lockerten die Bebauung auf. Eine phantastische Wohnlage. Und auch die ganze Atmos­phäre, die von dieser Anlage und ihren Bewohnern ausstrahlte, hatte ihn sogleich in ihren Bann gezogen. Man sah es dieser Trabantenstadt wirklich nicht an, daß sie einst – unter vor­bildlicher Integration der schon vorher dort angesiedelten Gemeinde­einrichtungen – prak­tisch komplett auf dem Reißbrett entstanden war. Dies erfuhr er erst viel später und wollte es kaum glauben, daß hier schon vor über drei Jahrzehnten die Stadtplaner und Landschafts­archi­tekten offenbar Hand in Hand mit Industrie, Handwerk und Handel sowie Naturschutz­verbänden und interessierten Bürgern weit vorausschauend auf die ökono­mischen und die öko­logischen Belange zukünf­tiger Generationen ein ganz­heitliches Konzept entwickelt und damit eine Meister­leistung in Sachen Lebensqualität abgeliefert haben, das einen an paradie­sische Zustände denken ließ.

Der Erwerb des Grundstücks, das Planungs- und Genehmigungsverfahren sowie alle damit ver­bundenen behördlichen Vorgänge waren erstaunlich unbürokratisch und unkompliziert ab­­ge­­laufen, so daß Qiang sofort mit der Umsetzung seines Bauprojektes beginnen konnte.

Bei der Bauplanung hatte er sich ganz nach der Jahrtausende alten chinesischen Tradition des ‚Feng-Shui‘ gerichtet, denn, obgleich er sich selbst nicht für abergläubisch hielt, orientier­te er sich bei seinem Denken und Handeln doch immer wieder an den von alters her über­lieferten Gebräuchen und Regeln seiner Heimat. Er konnte es rational nicht begründen, aber irgendwie hatte er das Gefühl, mit der ihm vertrauten Tradition im Einklang stehen zu müs­sen, um sich wirklich wohl fühlen und gut schlafen zu können.

Alles schien wunderbar gelungen, denn die Jahre, die Qiang dort mit seiner Familie bisher ver­bracht hatte, waren voller Glück, beruflicher Erfolge und gesellschaftlicher Anerkennung. Eine bessere Bestätigung für seine Überzeugung konnte er gar nicht bekommen.

Inzwischen war er zu Hause angekommen. Die Toreinfahrt und das Garagentor öffneten sich automatisch, so daß er ohne Halt einfahren konnte. Danach schlossen sich die Tore wieder. Nachdem er das Fahrzeug abgestellt hatte, zeigte sein Bord-Display die gefahrenen Kilo­meter und die dafür erforderlichen Straßenbenutzungsgebühren mit der Bitte um Kenntnis­nahme und Bestätigung an. Qiang sah keinen Grund, zu widersprechen. Also drückte er auf die Bestäti­gungs­­­taste, wonach der angezeigte Betrag automatisch von seinem Konto abge­bucht wurde.

In der Garage wurde er schon von Robby erwartet, der ihm seine Tasche und seine Jacke ab­nahm, um sie ins Haus zu tragen. „Hallo Robby“, sagte er, „ist alles okay hier?“

„Guten Abend, Qiang“, antwortete Robby höflich. „Ja, das Entspannungsbad ist angerichtet, das Essen ist für 19.30 Uhr vorbereitet. Chan ist noch in einem Seminar, sie wird gegen 19.00 Uhr hier sein. Long, Jiao und Jie sitzen an ihren Computern und bereiten sich auf die nächs­ten Prüfungen vor.“

„Prima, dann nehme ich jetzt als erstes mein Bad, anschließend mache ich noch eine halbe Stunde Qi Gong, und dann bin ich genau zum Essen fertig“, freute sich Qiang. Er war zirka 1,85 Meter groß und von sportlich-schlanker Figur. Mit seinem pech-schwarzen, kurzgeschnittenen Haar, einem ver­gleichs­­­weise schma­len Gesicht, aus dem eine sehr scharf geschnittene, schma­le Nase herausragte, und seiner sehr glatten Haut machte er – rein äußerlich betrachtet – einen sehr jungenhaften Eindruck, während sein selbstbewußtes und vornehmes Auftreten sowie seine ausgesprochen höflichen Um­gangs­­formen einen wahren Gentleman zeigten.

Als es halb acht geworden war, kam Qiang frisch gestärkt und gutgelaunt aus seinem Medi­ta­tions­­raum, wo ihm die Qi Gong-Übungen, eine seit etwa 6.000 Jahren in China praktizierte Körperübung in Form be­stimm­ter Bewegung, Atmung und meditativer Konzentration, zu seinem offenkundig wunderbaren Zustand völ­li­ger innerer Ruhe, Ausgeglichenheit und Gelassenheit verholfen hatten.

Im Wohnzimmer be­grüßte er Chan, seine Frau. Ihr Name bedeutet so viel wie „schön“, „anmutig“. Und in der Tat war sie eine bildschöne Frau, machte ihrem Namen alle Ehre. Besonders ihre wunderschön geform­ten Mandelaugen mit den lan­gen Wimpern schienen ihrem ausgesprochen hübschen Gesicht den letzten Schliff zur Vollkommenheit zu geben. Sie hatte schulterlange, pech-schwarze Haare, die sie üblicherweise an den Seiten zurückgekämmt und am Hinter­kopf zusammengesteckt trug. Sie war etwa 1,75 Meter groß und wie ihr Mann von sportlich-schlanker Figur. Auch sie hatte heute einen außergewöhnlich langen Tag an der Uni Ulm, wo sie als Dozentin für Neuroinformatik tätig war, hinter sich, denn normalerweise dauer­te ihr Arbeits­tag höchstens bis etwa 16 Uhr.

Sie tauschten kurz ihre Tageserlebnisse aus und riefen dann die Kin­der herein, die sich nach Beendigung ihrer Computerarbeiten gerade noch im Garten ein wenig in der traditionellen chinesischen Kunst der Selbstverteidigung – Tai Chi Chuan, auch be­­kannt als Schattenboxen – übten.

Mit Ausnahme von Long, der sich in beiden Stilrichtungen – neben Tai Chi auch in Kung Fu – übte, interessierten sich die drei Kinder insbesondere für das Tai Chi Chuan (Chuan heißt Faust), mit dem sie täglich Körper und Geist trainierten – anfangs vor allem Ausdauer und Körperbeherrschung, im fort­geschrit­tenen Stadium stärker die innere Konzentration und Ausgewogenheit der Bewegun­gen beto­nend. Mit zunehmender Beherrschung der üblicherweise im Zeitlupentempo aus­geführten Be­we­gungen übten sie sich auch sehr gerne und ausgiebig im schnellen und effizienten Ab­lauf die­ser Übungen in simulierter Kampfhandlung.

Nachdem sie sich gewaschen hatten, kamen sie lebhaft diskutierend ins Wohnzimmer und um­arm­ten ihre Eltern zur Begrüßung – drei sehr aufgeweckte und hübsche Kinder.

„Das wird aber auch Zeit, daß ihr endlich da seid“, sagte Long mit leicht vorwurfsvoll klingen­dem Ausdruck, „wir haben schon einen riesigen Hunger.“

Long, der Älteste, war 14 Jahre alt, von drahtiger, sportlich durchtrainierter Gestalt und fast schon so groß wie sein Vater. Geistig war er, wie seine Eltern, technisch-wissenschaftlich orien­­tiert. So hatte er sich schon früh für deren Arbeit, die Robotertechnik und die Neuro­infor­matik, interessiert. Es faszinierte ihn der Gedanke, eines Tages künstliche Menschen zu schaffen, die den natürlichen eben­bürtig oder sogar überlegen sein würden. Er betrachtete es als die Herausforderung schlecht­hin und war begierig, sie anzunehmen.

Seine Schwester, Jiao – die „Bezaubernde“, „Liebenswerte“, war zwei Jahre jünger als er. Ein sehr aufgewecktes, beredtes Mädel. Sie inte­ressierte sich – einer ausgeprägten weiblichen Neugier folgend – ganz allgemein für den Lauf der Welt in seiner Gesamtheit, also für alles, was so auf der Welt in der Ver­gan­gen­heit pas­sier­te und in der Zukunft passieren könnte, die Geschehnisse und ihre Entwicklung. Weil dies ein sehr weites Feld war, pflegte sie ein Zeit­fenster herausgehobenen Interesses ein­zugren­zen: Die neuzeitliche Historie der letzten 200 Jahre und die Vorausschau auf die zukünf­tigen zwan­zig, dreißig Jahre. Sie wußte noch nicht, wie sie sich beruflich orientieren würde, ob sie sich eher der Historie oder vielleicht doch lieber der Zukunfts­forschung widmen sollte. Jedenfalls be­schäf­tigte sie sich für ihr Alter erstaunlich intensiv mit den historischen Abläufen wie auch mit den publizierten Zukunfts­prognosen, und dabei speziell mit den evidenten oder schein­baren Zusammen­hängen, kon­sumierte sehr viel einschlägige Literatur und debattierte gern auch im Familien­kreis darüber.

Der Jüngste, Jie, interessierte sich – ungeachtet seines Alters von gerade mal zehn Jahren – bereits sehr für Wirtschafts- und Gesellschaftsfragen, aber auch für Philosophie, Physik und vieles mehr. Und er nutzte gern jede sich bietende Gelegenheit, mit anderen über Gott und die Welt zu diskutieren. Aber gerade weil er so vielseitig interessiert war, hatte er noch keine konkrete Vor­stellung, was er später einmal studieren würde.

Alle Drei gehörten in ihrer jeweiligen Jahrgangsstufe zu den besten Schülern. Sie waren viel­sei­tig interessiert, lernbegierig, fleißig, und doch nicht streberhaft. Ihre schnelle Auf­fassungs­ga­be erleichterte ihnen das Lernen. Und die vielen angeregten Unterhaltungen im Familien­kreis zu diversen Themenkomplexen haben ihre vielseitigen Interessen geweckt.

Sie waren von ihren Eltern entsprechend der kulturellen Tradition der Chinesen im Sinne der konfuzianischen Soziallehre erzogen worden. Das bedeutet Ehrerbietung, Pflichtgefühl und un­be­dingten Gehorsam der Kinder gegenüber ihren Eltern, Anerkennung der Autorität der Eltern wie der älteren Generation generell gegenüber der jüngeren. Strenge Hierarchie, klar definierte Rollen, Rechte und Pflichten sind in der Soziallehre des Konfuzius die Grund­pfeiler, die letzt­lich alle der obersten Maxime, der Herstellung und Erhaltung der sozialen Harmonie, dienen sollen.

Qiang und seine Frau waren von ihren Eltern in dieser Tradition erzogen worden und pfleg­ten sie in ihrer Familie auch weiterhin. Aber sie waren weit herumgekommen in der Welt durch ihre Geschäfte und hatten auf diese Weise zahlreiche Kontakte mit anderen Kulturen. Sie waren ge­wis­sermaßen Wanderer zwischen den Welten, kannten die eine wie die andere. Unab­hängig davon hatten sich in den letzten Jahrzehnten, eben auch im Zuge der Globali­sierung und der damit ver­bundenen zahlreichen inter­kulturellen Kontakte, nach und nach bestimmte Gepflogenheiten in der geschäftlichen Kommu­nikation und Interaktion heraus­kristallisiert, die im internationa­len Business inzwischen praktisch zum Standard geworden waren. Qiang und Chan waren bestens vertraut damit, und diese Einflüsse waren natürlich auch an ihnen nicht spurlos vorübergegangen. So war es nicht verwunderlich, daß sie die alten konfuzianischen Regeln nicht allzu streng handhabten. Nichtsdestotrotz standen sie zu ihrer eigenen Tradition mit ihren Werten, wollten diese auf keinen Fall verleugnen. Sie such­ten das eine mit dem anderen bestmöglich zu verbinden – in der Gesellschaft, im Beruf und in der Familie.

Draußen war es inzwischen fast stockdunkel geworden, und sie begaben sich in das Eßzim­mer. Hier war es taghell, als schiene direkt im Zimmer die Sonne.

Das Prinzip der Glühlampen, wie es einstmals von Thomas Edinson entwickelt worden war, hatte längst ausgedient. Das Wort „Lampe“ war schon fast ganz aus der Mode gekommen, jetzt sprach man nur noch von „Licht“. Man beherrschte inzwischen die Technik bis zu den sehr hohen Frequenzen im sichtbaren Bereich. Und so lag es nahe, das Tageslicht in die Woh­nung zu holen. Dazu hatte man in jedem Raum eine winzige, praktisch nicht sichtbare An­tenne an der Decke, die elektro­magnetische Wellen im sichtbaren Frequenzbereich ab­strahl­te, deren Eigenschaften über eine elektronische Regelung vorgegeben werden konn­ten.

„Ach, das ist mir jetzt aber zu ungemütlich“, sagte Chan gleich beim Eintreten. „Ich möchte es nicht so grell haben. Wie seht ihr das?“

„Natürlich, wie du wünschst mein Schatz. Schaffen wir eine angenehmere Atmosphäre“, ant­wor­tete Qiang spontan und sprach dann ein Kommando in den Raum: „Licht wärmer!“

Die Lichtfarbe änderte sich langsam und kontinuierlich von weiß zu gelb oder, wie man auch sagte, von kaltem zu warmem Licht.

„Stopp!“ sagte Chan, als sie das Gefühl hatte, daß jetzt ein angenehmer Warmton erreicht war. Und augenblicklich wurde der Einstellvorgang beendet. „Ist es euch auch so recht?“ fragte sie die anderen Familienmitglieder.

„Ja, ist okay!“ kam es vielstimmig.

„Vielleicht doch noch eine Idee dunkler?“ fragte Chan nochmal nach.

„Von mir aus“, kam es wieder vielstimmig.

„Licht dimmen!“ kommandierte Chan, und die Lichtintensität nahm langsam und gleichmäßig ab. „Stopp!“ rief sie wieder, und auch dieser Einstellvorgang war beendet.

„Jetzt gefällt es mir gut“, bemerkte sie zufrieden, „so ist es angenehm. Für euch auch?“

Die anderen nickten.

Aber ihrer Mimik nach schien sie doch noch nicht zufrieden mit der Einstellung. „Hm . . ., viel­leicht doch wieder eine Idee heller?“ fragte sie nach kurzem Zögern und schaute dabei leicht verschmitzt lächelnd in die Gesichter der anderen.

Long wollte gerade eine Unmutsäußerung anbringen, als er bemerkte, daß seine Mutter herz­haft zu lachen anfing. Da wußte er sofort Bescheid: „Ich glaube, du hast dir in letzter Zeit zu viele alte Videos von diesem Klassiker, dem Loriot, angesehen, was?“

Chan prustete vor Lachen: „Ja, ich finde diese Szenen immer wieder köstlich! Die kleinen Schwächen der Menschen – wirklich fein beobachtet und meisterhaft wiedergegeben, ein­fach köstlich anzuschauen!“

Alle lachten mit.

In der Küche dampften drei große Kesselpfannen, sogenannte Woks, vor sich hin und ver­ström­ten einen köstlichen, appetitanregenden Duft nach geröstetem Sesam, nach Soja und Sirup, Ingwer und Zwiebeln, Knoblauch, Chili und Cayenne, nach Fisch, Fleisch und Gemüse. Alles war nur kurz, aber heftig in siedendheißem Öl angebraten worden, so daß das Gemüse Biß und Vitamine behielt und Fisch und Fleisch zart und saftig blieben.

Der Tisch war bereits gedeckt – ein großer runder Tisch, dessen mittlerer Teil drehbar war. Auf diesem wurden nacheinander die Schüsseln mit den verschiedenen Speisen abgestellt, so daß jede Schüssel – nach entsprechender Drehung des Mittelteils – für jeden bequem erreich­bar war.

„Robby hat uns schon verraten, daß es heute unser Lieblingsessen – Nang King Niu Wei – gibt“, sagte Long. Das war ein pikant zubereiteter Ochsenschwanz in Sojasoße.

„Ja, und außerdem haben wir einen Bärenhunger, deshalb konnten wir es kaum noch erwar­ten, bis ihr endlich gekommen seid“, ergänzte Jie.

„Jetzt seid ihr ja erlöst von der Warterei“, beruhigte Chan die Kinder, „die Raubtierfütterung kann sofort beginnen. Also bedient euch.“

Sie setzten sich zu Tisch, und Robby, der Haus-Roboter der Familie, erläuterte die Speisen­folge: „Heute gibt es folgende Menü-Auswahl: Schweinefleisch süß-sauer, Fisch mit Zitro­nen­­soße . . . und . . .“ – Robby machte eine kurze Pause, schaute in die Runde, um dann mit einem Augen­zwinkern in Richtung Jiao fortzusetzen – „auf Wunsch einer einzelnen Dame“, und damit meinte er Jiao, „gibt es . . . Ochsenschwanz Nanking; außerdem gibt es grüne Bohnen mit Bam­bus­spitzen und Won-Tan-Suppe. Ich wünsche guten Appetit!“

Alle waren begeistert und bedienten sich der köstlich duftenden und schmeckenden Speisen von den vorbeikreisenden Schüsseln. Robby schien sich über die zufriedenen Gesichter zu freuen und machte lächelnd eine kurze Verbeu­gung.

Genau­genommen waren es eigentlich fünf Roboter, die allen Familien­mit­glie­dern als dienst­bare „Geister“ zur Verfügung standen. Sie hörten alle auf denselben Namen. Das war ein­fach praktischer für die Familie, schon um mögliche Verwechslungen von vorn­herein aus­zu­­schließen, denn die Roboter sahen alle gleich aus.

Sie waren in der Firma von Qiang entwickelt und gebaut worden. Ihre Motorik, ihre Sensorik, ihre „Intelligenz“ und ihre Funktionssteuerung waren im Laufe der Jahre ständig verbessert worden. Inzwischen waren sie fast als perfekt zu bezeichnen. Äußerlich waren sie den Menschen nach­gebildet, und sie bewegten sich auch genau wie diese. Intellektuell waren sie dem Men­schen hinsichtlich eigener Kreativität noch unterlegen, aber bezüglich Geschwin­digkeit und Präzision, „Gedächtnisleistung“ und „Konzentration“ schon deutlich überlegen. Sie verfügten über die Fähigkeit, die menschliche Sprache zu verstehen – auch Sätze mit „äh“, Satzbrüche und Versprecher – und sich auch selbst so zu artikulieren. Neben Deutsch verstanden sie Eng­lisch, Französisch, Spanisch, Russisch, Japanisch und Chinesisch, und sie konnten aus allen diesen Sprachen ins Deutsche übersetzen. Das war ihr Standard-Sprachschatz, selbst­ver­ständ­lich konnte jede weitere Sprache im Bedarfsfall sofort „nach­geladen“ werden. Eigene Gefüh­le konnten sie noch nicht entwickeln, aber immerhin waren sie mit ihrer Wahr­neh­mungs­­­fähigkeit bereits in der Lage, zwischen verschiedenen Gemüts­lagen des Menschen zu differenzieren und entsprechend „einfühlsam“ zu reagieren.

Da die Wangs fünf Roboter im Haus hatten, stand im Bedarfsfall jedem der fünf Familien­mit­glieder je einer zur selben Zeit für Dienstleistungen zur Verfügung. Sie machten praktisch alles, was so an Hausarbeit anfiel – und sie kochten vorzüglich! Sie hatten tausend Rezepte im „Kopf“, die im Laufe der Jahre durch die Familie ständig verfeinert und entsprechend einpro­gram­miert worden waren. Angebranntes oder noch ungares Essen, zu stark oder zu wenig gewürzt – das alles gab es bei ihnen nicht, es war immer von gleich guter Qualität.

„Und? Was habt ihr heute so erlebt?“, fragte Qiang, während er nacheinander seine drei Kinder prüfend anschaute.

„Och“, fing Long an, „ich habe ziemlich viel gelernt heute, weil wir morgen eine Prüfung in Bio haben.“

Er sprach ein sehr gutes, fast schon akzentfreies Deutsch, obwohl er erst seit etwa fünf Jahren in Deutschland lebte. Bis zu seinem neunten Lebensjahr war er in China aufge­wachsen, und nur im letzten, dem neunten Jahr, als schon klar war, daß die Familie nach Deutschland über­siedeln würde, hatte er, zusammen mit den Geschwistern, zur Vor­berei­tung auf den Wechsel schon Deutschunterricht bekommen. Die Eltern hatten bereits vorher berufliche Kontakte nach Deutschland und im Rahmen dieser Tätigkeiten begonnen, die deut­sche Sprache zu lernen.

„Was für Themen bearbeitet ihr denn gerade in Bio?“, wollte Qiang wissen.

„Wir behandeln zur Zeit die Vererbungslehre von Mendel“, antwortet Long, „ein wirklich inte­res­­san­­tes Thema. Ich werde es auch als Vortragsthema wählen.“

Jeder Schüler mußte in jedem Fach einmal pro Halbjahr einen Vortrag zu einem selbst­ge­wähl­ten Thema aus dem behandelten Stoffgebiet halten. Man hatte damit sehr gute Erfah­run­gen gesammelt, denn auf diese Weise lernten die Schüler frühzeitig, selbständig ein Thema vertieft zu erarbeiten und dann in möglichst freier Rede coram publico vorzutragen. Und so war es inzwischen in allen Schulen des Landes zur Selbstverständlichkeit geworden.

„Es ist ja eigentlich schon verwunderlich, daß die Kinder, obwohl von denselben Eltern ab­stam­­­mend, trotzdem doch sehr verschieden sein können“, konstatierte Long. „Die Ursachen da­für herauszufinden, stelle ich mir fast so spannend wie einen Krimi vor – und der Mendel hat mit seinen Versuchen dafür die Grundlage geschaffen und entsprechende Regeln, die später nach ihm benann­ten Mendelschen Regeln, formuliert.“

„Wieso? Was hat der für Versuche gemacht?“ wollte Jiao wissen.

„Der hat in einem Klostergarten ganz systematisch eine große Reihe von Kreuzungen ver­schie­dener Erbsen­rassen durchgeführt und ausgewertet. Seine Beobachtungen, wie sich die unter­­schied­lichen Merkmale der Erbsenrassen, also zum Beispiel die Wuchsform, die Blü­ten­­farbe oder die Gestalt und Farbe der Samen, auf die jeweiligen Nachkommen ver­teilten, hat er 1865 in einem Buch veröffentlicht. Seine Ergebnisse zeigten unter anderem die Häu­fig­keits­­verteilung bei der Vererbung der unterschiedlichen Merkmale in einem ganz bestimm­ten Zah­len­­verhältnis, beispielsweise 1:2:1 oder 3:1, je nachdem, ob es sich um intermediäre oder domi­nant-rezessive Vererbung handelt.“

„Was muß ich darunter verstehen?“ fragte Jiao.

„Das zu erklären würde jetzt hier sicher zu weit führen, dazu müßte ich länger ausholen“, er­widerte Long.

„Ja toll – sehr interessant!“ unterbrach ihn Jiao etwas unwirsch, wobei sie besonders das „sehr“ betonte. „Ich verstehe zwar im Moment nur ‚Bahnhof‘, aber du kannst ruhig weiter dozieren. Auf mich brauchst du ja keine Rücksicht zu nehmen!“ Und es klang fast schon ein wenig be­leidigt.

„Das lernst du auch alles noch in der Schule, mein Kind“, versuchte Chan ihre Tochter zu ver­trösten. „Hab nur etwas Geduld.“

Jiao schien etwas genervt und verdrehte demonstrativ die Augen.

„Naja, ich will hier auch gar nicht in die Details gehen“, fuhr Long fort. „Jedenfalls gelten die Gesetzmäßigkeiten der Vererbung für die ganze belebte Natur und damit eben auch für den Menschen, wie man durch Familien- und insbesondere auch Zwillingsforschung schon lange weiß. Auch beim Menschen gibt es dominante und rezessive Merkmale. Das zeigt sich be­son­ders deutlich bei bestimmten Krankheiten oder Abnormitäten, aber auch bei charakte­ris­tischen Äußerlichkeiten oder Angewohnheiten.“

„Deine Angewohnheiten sind manchmal ganz schön lästig!“ platzte Jiao wieder dazwischen. „Von wem hast du die?“

Alle lachten.

„Zweimal darfst du raten!“ rief Jie lachend.

„Also, wenn ich mir unsere Familie so anschaue, dann habe ich den Eindruck, daß wir Drei“, und damit meinte Long seine Geschwister und sich, „uns ja auch erkennbar unterscheiden – und zwar nicht nur äußerlich, sondern auch im Wesen, daß wir aber andererseits teilweise unüber­sehbar deutliche Ähnlichkeiten zu unseren Eltern aufweisen. Ich denke zum Beispiel, daß ich ganz offensichtlich eher nach Paps komme“, sagte Long, „während Jiao deutlich mehr von Mam geerbt hat. Bei Jie kann ich bisher keine klare Dominanz zur einen oder anderen Seite ent­decken, er hat wohl von euch beiden ungefähr gleich viel mitbekommen.“

Jiao kicherte: „Du bist ein Mischling, kleiner Bruder!“

„Du bist selbst ein Mischling!“ wehrte sich Jie vehement.

„Ihr braucht euch gar nicht zu streiten!“ unterbrach Long die beiden. „Mischung ist ganz normal! Oder vielmehr: Das ist ja gerade das Normale! Genau das ist nämlich von der Natur beab­sichtigt, es ist praktisch das Grundprinzip der Evolution! . . . Da fällt mir übrigens gerade ein Gedicht vom alten Goethe ein, das wir in diesem Zusammenhang in der Schule gelernt haben. Wollt ihr’s hören?“

„Ja, gerne“, bat Chan sofort.

„Offenbar hat sich der alte Dichterfürst auch schon mit genau dieser Thematik befaßt, jeden­falls läßt das sein folgendes Gedicht vermuten:

Vom Vater hab ich die Statur

des Lebens ernstes Führen,

vom Mütterchen die Frohnatur

und Lust zu fabulieren.

Urahnherr war der Schönsten hold,

das spukt so hin und wieder;

Urahnfrau liebte Schmuck und Gold,

das zuckt wohl durch die Glieder.

Sind nun die Elemente nicht

aus dem Komplex zu trennen,

was ist denn an dem ganzen Wicht

Original zu nennen?‘“

Qiang und Chan klatschten beifällig in die Hände, denn sie freuten sich, daß er das Gedicht so schön aufgesagt hatte, während Jiao und Jie noch etwas nachdenklich schienen.

„Du siehst also, kleiner Bruder“, belehrte Long seinen jüngeren Bruder, „man hat schon viel, viel früher festgestellt, daß die Erbanlage jedes Kindes immer von beiden Elternteilen be­stimmt ist; es gibt immer wieder neue Vermischungen. Deshalb sind die Menschen ja so verschieden! Auch innerhalb einer Familie, obwohl da die Unterschiede sicher nicht ganz so groß sind.“

Long war für seine vierzehn Jahre ein guter Beobachter. Er hatte beim Betrachten von Famili­en­fotos schon relativ früh festgestellt, daß er eine sehr große Ähnlichkeit mit seinem Vater hatte, was ihm überdies auch Freunde und Bekannte gelegentlich bestätigten. Und diese Tatsache trieb ihn immer wieder um. So ertappte er sich beispielsweise immer öfter dabei, Ausdrucks­weise, Gestik und Gebärden seines Vaters ganz offenbar zu imitieren. Aber imitierte er sie willentlich? Oder agierte er vielmehr unwillkürlich aus sich selbst heraus und stellte gewisser­maßen erst im nachhinein durch Selbstbeobachtung fest, daß er sich genau­so ver­halten hatte, wie es sein Vater in dieser Situation getan haben würde? Er wußte es nicht. So sehr ihn diese Frage beschäftigte, er fand keine Antwort darauf. Immerhin war dieser, für ihn unbefriedigende Umstand Motivation genug, sich stärker in die Thematik der Vererbungslehre einzuarbeiten – immer in der Hoffnung, die Ursachen für diese Evidenz eines Tages doch noch zu ergründen.

Sie unterhielten sich noch eine Weile weiter über dies und das, obwohl es inzwischen schon halb elf geworden war. Mit dem Essen waren sie längst fertig, und der Tisch war von Robby bereits abgeräumt.

„So, jetzt ist es aber schon ziemlich spät“, sagte Qiang schließlich, „es wird Zeit für euch zum Schlafen­gehen. Morgen früh um sechs ist die Nacht vorbei, also hopp, hopp ins Bett.“

Sie wünschten sich eine gute Nachtruhe, und die Kinder gingen auf ihre Zimmer.

„Wie sieht deine Planung für morgen aus?" fragte Qiang seine Frau, nachdem die Kinder draußen waren.

„Ich habe morgen vormittag zwei Vorlesungen, und danach will ich die Beiträge unseres heuti­gen Symposiums noch ein bißchen für mich aufarbeiten, damit ich die Dinge nicht so schnell vergesse“, antwortete Chan.

„Ja richtig! Ihr hattet ja heute euer Symposium! Erzähl doch mal; wie war’s? Was kam dabei heraus?“

Chan seufzte: „Ach, weißt du, es war natürlich für mich heute ein sehr interessanter Tag. Aber es war auch sehr anstrengend, den ganzen Tag über konzentriert zuzuhören, den geistig an­spruchs­vollen Vorträgen und Diskussionsbeiträgen zu folgen. Und entsprechend müde bin ich jetzt, um nicht zu sagen: völlig groggy. Deshalb wäre ich dir sehr dankbar, wenn du dich mit deinen Fragen vielleicht bis morgen gedulden könntest.“

„Selbstverständlich, mein Schatz. Ich will dich natürlich nicht quälen. Es hat auch Zeit bis mor­gen.“ Er beugte sich zu ihr hinüber, küßte sie auf beide Wangen und fragte, während er sich wieder zurücklehnte: „Um welche Thematik ging es eigentlich heute noch mal?“

„Es ging – kurz gesagt – im wesentlichen um die Frage des Bewußtseins: Was ist Bewußt­sein? Läßt es sich durch eine mathematische Formel beschreiben? Oder hilft vielleicht die Quan­tenphysik dabei weiter? Ist Bewußtsein überhaupt eine Größe, die objektiver wissen­schaftlicher Erkenntnis zugänglich ist? Ist die Erschaffung eines künstlichen Bewußtseins denkbar? Und so weiter. An diesem Thema arbeiten wir ja schon seit langer Zeit, wie du weißt.“

„Ja, sicher, und es ist höchst interessant und wissenschaftlich bestimmt sehr anspruchsvoll, da­von bin ich über­zeugt. Ich bin schon sehr gespannt auf eure Erkenntnisse. Und vor allem auch auf die Umset­z­barkeit dieser Erkenntnisse in technische Lösungen. Das würde unsere Ro­boter­­entwicklung weiter deutlich voran bringen. Wann, glaubst du denn, könnte es soweit sein?“

„Das läßt sich heute leider noch nicht so genau abschätzen, soweit sind wir einfach noch nicht. Wir haben da noch einen besonderen Knackpunkt. Wenn wir den gelöst haben, dann sehen wir klarer. Aber der hängt eben nicht nur von uns ab, wie du weißt. Wir arbeiten in unse­rem interdisziplinären Team ja eng mit unseren Kollegen in der Hirnforschung zusam­men, und die haben das Problem leider auch noch nicht richtig im Griff. Unsere Arbeit ist aber letztlich abhängig von ihren Ergebnissen, baut gewissermaßen auf ihren Erkennt­nissen auf. Durch die Teamarbeit sind wir immerhin auf dem jeweils neuesten Stand ihrer Erkennt­nisse, kön­nen sie partiell sogar durch eigene Beiträge unterstützen und auf diese Weise die ganze Entwicklung forcieren, aber wir können sie natürlich nicht überholen.“

„Ja, ich weiß. Wir müssen uns noch gedulden, obwohl ich gerne viel schneller vorankommen würde.“ Er machte eine kurze Pause. „Immerhin bin ich heute wenigstens geschäftlich einen großen Schritt voran­gekommen. Wir sind uns ziemlich einig in den Fragen der Geschäfts­übernahme, es gibt nur noch marginale Punkte, die wir in den nächsten paar Tagen auch geklärt haben werden. Ich bin sehr zufrieden mit dem heutigen Tag. Aber müde bin ich jetzt auch.“

„Ja, ich auch.“

„Ach, übrigens, das muß ich dir doch noch schnell erzählen . . .“

„Was denn?

„Der Güssen hat doch allen Ernstes behauptet, er hätte mich neulich auf der Leipziger Messe gesehen. Dabei war ich doch dieses Jahr gar nicht dort! Der hat Gespenster gesehen, anders kann ich mir das nicht erklären.“

„Na, dann hat er sich eben getäuscht. Das kann ja mal passieren.“

„Das habe ich ihm auch nahezulegen versucht. Ich habe ihm klar und deutlich gesagt, daß ich dieses Jahr nicht auf der Messe war. Aber er sagte, er könne Stein und Bein schwören, daß er mich gesehen hat.“

„Dann hast du vielleicht einen Doppelgänger?“

„Hmmm . . . Das wäre die einzige plausible Erklärung, wenn er sich nicht wirklich verguckt hat. . . . Aber Doppelgänger? Zum Verwechseln ähnlich? Ich weiß nicht. . . . Allerdings tun sich die Europäer ja bekanntlich etwas schwerer, Asiaten zu unterscheiden. Insofern wäre eine Verwechslung schon leicht möglich.“

„Hat er deinen Doppelgänger nicht angesprochen? Denn dann hätte sich das Mißverständnis doch sehr schnell aufgeklärt.“

„Er hat mir erzählt, er habe mich an einem chinesischen Ausstellerstand gesehen, wie ich gerade telefonierte. Da wollte er nicht stören, deshalb habe er gewartet, bis ich das Telefonat beende. Aber dann sei ich plötzlich hinter dem Stand verschwunden. Daher habe er keine Gelegenheit gehabt, mich zu begrüßen.“

„Na, wie auch immer, wir können es heute nicht mehr aufklären. Gehen wir mal davon aus, daß er sich getäuscht hat.“

„Was anderes bleibt uns sowieso nicht übrig. Mich irritiert nur, daß er so felsenfest davon überzeugt war, mich gesehen zu haben, und eine Verwechslung kategorisch ausschloß.“

„Aber es kann nur eine Verwechslung gewesen sein! Also haken wir es ab und gehen ins Bett.“

„Okay. Ich will nur noch kurz die Nachrichten anschauen, dazu bin ich heute den ganzen Tag noch nicht gekommen.“

Robby hatte die Aufforderung verstanden, sandte ein Signal an den MEC, den Media Con­trol­ler, und im Nu war der Nachrichtenkanal eingeschaltet. Das war nur einer aus einer Vielzahl unterschiedlicher Themen-Kanäle, die man per Fernsteuerung aus dem WorldNet abrufen konn­te. Das Bild wurde auf einem groß­formatigen Flachdisplay, das wie ein Gemäl­de an der Wohn­zimmerwand hing, dargestellt.

Gerade wollten sie sich auf das Sofa setzen, als Chan durch das Fenster den Mond erblickte und spontan ausrief: „Ach, schau mal, der Mond, wie schön klar und hell der scheint! Komm, laß uns noch einen Moment auf die Terrasse gehen.“ Sie nahm ihren Mann bei der Hand und zog ihn hinter sich her.

Beim Hinausgehen sagte Qiang noch zu Robby: „Also, kannst nochmal ausschalten, wir sehen uns die Nachrichten etwas später an.“

„Kein Problem“, antwortete Robby lakonisch, während er sich freundlich lächelnd verbeugte. Und es war mit TV on demand in der Tat kein Problem, denn wann immer man einen Kanal anwählte, erhielt man das gewünschte Programm jeweils von Anfang an – so, als würde das Programm genau und ausschließlich für diesen einen Teilnehmer ausgestrahlt. Man konnte das Programm auch jeder Zeit anhalten, zurückspulen und nach beliebiger Zeit wieder starten, als hätte man das Programm auf dem eigenen Videorecorder gespeichert – hatte man aber nicht. Das war gar nicht nötig. Die Übertra­gungs­kapazität des WorldNet war so immens, daß Millionen von Programmen in Form digitaler Datenpakete simultan übertragen werden konn­ten.

Nachdem Robby das Programm abgeschaltet hatte, erschien wieder das Landschafts­gemäl­de von Guilin auf dem Bildschirm. Chan liebte diese phantastische und manchmal schon ein wenig verwunschen und geisterhaft anmutende Landschaft in China so sehr, daß dieses Bild fast immer gemäldegleich dargestellt wurde, wenn das Display nicht gerade als „Kino­lein­wand“ genutzt wurde. Aber natürlich konnte auch jedes andere gewünschte Bild statt dessen darge­stellt werden wie etwa die ebenfalls von Chan geliebten Peonienbilder chine­sischer Künstler oder eigene Fotos.

Auf der Terrasse angekommen, atmete Chan zwei-, dreimal tief durch und schwärmte dann: „Hm . . . Gute, frische Luft, das tut gut! Spürst du es auch?“

Qiang atmete ebenfalls tief durch und sagte dann: „Ja . . . Ich glaube schon, daß die Luft hier bes­ser ist als in Nanjing.“

„Das glaube ich auch“, pflichtete Chan ihm bei. „Aber heute erscheint sie mir besonders gut. Und sieh mal den Sternenhimmel. Es ist ganz klare Sicht heute.“

Qiang legte seinen Arm über ihre Schultern, schaute erst zum Mond und dann zu ihr, die wohl gedankenversunken im Mondlicht zu träumen schien. Nachdem er sie so eine Weile liebevoll von der Seite betrachtet hatte, drehte er sich ihr ganz zu, nahm sie in beide Arme und schaute ihr in die Augen, in denen sich das Mondlicht silbern spiegelte. „Du bist wunder­schön!“ flüster­te er leise, drückte sie noch etwas fester an sich und küßte sie auf die Stirn. „Deine Lippen sind irgendwie unbeschreiblich verführerisch, erotisch“, säuselte er weiter und küßte sie zärt­lich auf den Mund. Und während er sie weiter liebkoste, auf die Wangen und auf die Ohr­läpp­chen küßte, und sie mit tiefem Einatmen förmlich aufzusaugen schien, sagte er: „Du riechst so aufregend gut.“ Dann sah er ihr wieder in die Augen und sagte: „Ich liebe dich. Ich liebe dich sehr.“

Sie schmiegte sich an ihn und entgegnete: „Ich fühle mich sehr wohl bei dir. Ich brauche deine Nähe.“ Dann schauten sie beide wieder zum Mond, die Köpfe aneinandergeschmiegt.

Es war still ringsherum. Nur das plätschernde Geräusch des Bächleins in ihrem Garten war zu hören und hin und wieder der Ruf eines Käuzchens in der Ferne. Der Garten war zwar nicht besonders groß, aber es war doch immer wieder für jeden Besucher verblüffend, wie hier auf vergleichsweise kleinem Raum verschiedene Gestaltungselemente, wie künstlich angelegte Teiche und Bäche, künstliche Hügel aus Erde und Felsgestein, sichtbegrenzende Mauern, Torbögen, verschlungene Wege und Brücken, ein kleiner Pavillon sowie zahlreiche Bäume, Bambushecken und Blu­men, die jeweils eine ganz bestimmte Bedeutung für die Chi­nesen haben, zu einem in seiner Vielfältigkeit wohl-ausbalancierten, harmonischen Gesamt­kunstwerk arrangiert wurden, das den geneigten Betrachter zu Versenkung und Beschau­lichkeit einlud. In jedem Winkel des Gartens ergaben sich wieder neue Perspektiven, neue Eindrücke. Aber von keinem Punkt aus konnte man den Garten vollständig überblicken. Das gab ihm scheinbare Größe und hielt den Besucher in neugieriger Erwartung auf den nächsten Blickwinkel.

Chinesische Laternen beleuchteten den sich durch den Garten schlängelnden Weg, spiegel­ten sich auf der Wasseroberfläche von Teich und Bach silbrig-gelblich wider und luden den Be­trach­ter zu romantisch verklärter Stimmung ein.

Nachdem sie so eine Weile, eng aneinander gekuschelt, träumend in den Garten geschaut hatten, unterbrach Chan die traute Zweisamkeit: „Mir wird allmählich kalt.“

„Es ist doch nicht kalt“, entgegnete Qiang, „es ist sogar sehr mild heute. Aber du bist wahr­schein­lich sehr, sehr müde, sonst könntest du nicht in meinen Armen frieren.“

„Da magst du recht haben. Komm, laß uns wieder reingehen. Morgen ist auch noch ein Tag.“

Sie gingen ins Wohnzimmer, wo Robby schon auf sie wartete und fragen zu wollen schien, ob er die Nachrichten wieder einschalten sollte. Qiang nickte ihm kurz zu und prompt lief die Sen­dung. Sie machten es sich auf dem Sofa gemütlich. Und während Qiang die Bilder der Nach­rich­ten verfolgte, kuschelte sie sich fest an ihn und schloß die Augen.

Nachdem er die Nachrichten zu Ende gesehen hatte und aufstehen wollte, bemerkte Qiang, daß seine Frau bereits schlief. Behutsam hob er sie auf und trug sie hoch zum Schlafzimmer im Ober­geschoß.

„Danke“, murmelte Chan verschlafen, die unterwegs doch aufgewacht war.

Wenig später waren sie im Bett.

Qiang konnte nicht gleich einschlafen, ihm gingen noch so viele Gedanken durch den Kopf. Aber er fühlte sich behaglich wohl und zufrieden. Die Familie lebte nun seit etwa fünf Jahren in Deutschland und hatte sich seither bestens akklimatisiert. Sie fühlten sich wohl hier in Ulm, auf­genommen von der Gesellschaft, anerkannt und geachtet, ja geschätzt. Neben ihrer beruf­lichen Beanspruchung pflegten sie regelmäßige gesellschaftliche Kontakte. So waren insbe­son­dere ihre ein- bis zweimaligen Einladungen pro Jahr an einen ausgewählten Kreis von Hono­ratioren der Stadt aus Politik, Wirtschaft, Forschung und Lehre schon zur festen Regel geworden. Es waren von allen Beteiligten immer wieder sehr gern wahrgenommene Gelegen­heiten der Kontaktpflege und des Informations- und Meinungsaustausches. Ja, und das aller wichtigste für ihn war natürlich die Tatsache, daß seine Geschäfte so erfolgreich liefen. Vor fünf Jahren hätte er das noch nicht einmal zu träumen gewagt, jetzt schlief er mit der Gewiß­heit darüber und einem seligen Lächeln ein.

Das Familiengeheimnis

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