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Ein getrocknetes, leicht eingerolltes Ahornblatt

Villefranche-sur-Mer, Frankreich

Uff, ich wache auf, mir ist plötzlich warm geworden, so warm, dass ich aus meinen Träumen aufgewacht bin, meine Stirn ist nass. Ich fühle mich unwohl, warm. Der Platz neben mir ist leer, es liegt niemand mehr auf dem Handtuch. Ich sehe mich nach allen Richtungen um, aber ich kann Andra nicht sehen, die mit weit geöffneten Armen da steht und mir entgegen lacht. Ach, sie ist sicher wieder im Wasser, der Delfin, aber dort ist auch nichts zu sehen.

Ich rufe laut: Andra! Mein Schrei verhallt im Nichts.

Eben liegt Andra in ihrem schwarz-weißen Badeanzug noch neben mir. Jetzt ist der Platz leer. Ich bin das letzte Souvenir hier am Strand, das eben einmal eingeschlafen ist. Langsam realisiere ich, dass ich wohl etwas länger eingeschlafen bin. Ich bin meiner Müdigkeit zum Opfer gefallen. Ich habe mich wohl eingeseptembert in den Schlaf.

Ach, ich sinke wieder auf mein bunt gemustertes Handtuch zurück. Ich zolle meinem Handtuch noch einmal allen Respekt, dass es das alles so tapfer aushält. Hut ab. Danke, mein allerliebstes, mein bestes, mein schönstes Handtuch aller Handtücher. Fast möchte ich sagen, es ist ein kleines Weltmeisterhandtuch im Aushalten. Ja, weil du das alles aushältst und weil du das alles ausgehalten hast und schon so lange, lange geschwiegen hast, für so langes Schweigen, so, so lange schon, ja dafür hast du dir einen Orden verdient, was? Einen Orden? Dafür hast du eine Goldmedaille verdient! Eine Goldmedaille für Marathonaushalteschweigen?

Und die verleihe ich dir jetzt feierlich. Ich blinzele ein wenig und öffne nur ein klitze-, klitzekleines bisschen mein obenliegendes linkes Auge, dass ich so gerade etwas neben mir erkennen kann. Müde hebt sich mein Arm langsam in Richtung Steine und ich hebe einen neben mir liegenden weißen, leicht glitzernden, mittelschweren Stein auf, einen mit einem Loch drin, gebohrt von einer Steinbohrermuschel, die in mühsamer Kleinarbeit den Stein an dieser Stelle einfach aufgegessen hat. Einen Stein einfach aufessen, einen Stein, das ist nicht zu fassen! Und den lege ich als Dankeschön behutsam auf das Handtuch, wenn auch mit einem müden Arm. Welch eine Ehrung! Ein Stein mit einem Loch mittendrin. Dabei denke ich mir listigerweise aus, dass das Handtuch ja nicht weiß, was eine Goldmedaille ist, wenn es zuhören und zusehen könnte, würde es vielleicht wütend werden, weil es sich nur um einen kleinen, weißen, leicht glitzernden, mittelschweren Stein handelt, auch noch sinnloserweise mit einem Loch mittendrin, das in mühseliger Kleinarbeit von einer Steinbohrermuschel einfach hineingefressen wurde. Welch eine Ehrung! Von einer simplen Steinbohrermuschel, genau an dieser Stelle, nicht eben einen halben Zentimeter weiter links oder zwei Zentimeter weiter rechts, nein, genau da hat sich die Steinbohrermuschel an dieser Stelle zu schaffen gemacht und hat den Stein einfach aufgegessen. Einmal ganz abgesehen davon, dass es hier am Strand Abertrillionen dieser Steine gibt und weitere Trillionen Löcher in den Steinen, alle von Steinbohrermuscheln in listiger, mühsamer, zeitaufwendiger, jahrelanger Arbeit, Tag und Nacht gegessen und gegessen, bis schließlich dieses Loch entstand. Warum sollte dann also ausgerechnet dieser kleine, weiße, leicht glitzernde, mittelschwere Stein mit dem Steinmuschelloch eine Goldmedaille sein?

Ich lächle ein wenig und spüre eine leichte, aber doch deutliche Überlegenheit meinerseits dem Handtuch gegenüber. Es versetzt mich schon in eine etwas privilegierte Situation. Hatte ich doch eben erst noch das Handtuch mit der Goldmedaille für Weltmeistermarathonaushalteschweigehandtücher in der Disziplin des Weltmeistermarathonaushalteschweigens ausgezeichnet. Ich hingegen in meiner kleinen bescheidenen Daseinsform bin noch nie derart geehrt und ausgezeichnet worden. Oder habe gar eine Goldmedaille verliehen bekommen oder sonst irgendeine Auszeichnung für etwas erhalten. Nun gut.

Ich glaube, nun fühlt sich mein mich über viele, viele Jahre hinweg begleitendes, weit gereistes, leicht ausgeblichenes und schon etwas ausgewaschenes Handtuch doch schon etwas geehrt. An seinen Rändern sind bereits die einzelnen Fäden zu sehen. Ich könnte sie zählen! Aber ich tue es nicht. Fast sieht es so aus, als seien die Fransen an den Rändern absichtlich eingesetzt, um das Handtuch etwas lieblicher zu gestalten. Die Fransen haben ihr Spiel mit dem Wind aufgenommen und tun ihr Nämliches, nämlich flattern. Ja, etwas berühmt fühlt es sich schon an, das Handtuch, jetzt nach all diesen Strapazen - eine Ehrung, eine Goldmedaille. Es ist mittlerweile ein etwas stärkerer Wind aufgekommen und ich bin der Goldmedaille dankbar, dass sie mein Handtuch so fest im Griff hat, sodass es von den Böen nicht weggepustet werden kann. Denn sonst müsste ich jetzt aufstehen und meinem geliebten Handtuch hinterher springen und es wieder einfangen, wo ich mir doch vorgenommen habe, hier eine Weile im Sinkschlaf zu verweilen, um mich auszuruhen. Angeregt durch so viel Ehrung wollte es sich mir nichts, dir nichts von mir lossagen. Das ginge dann doch etwas zu weit, nach all diesen Jahren der Zweisamkeit. Die Goldmedaille hat das Handtuch fest im Griff, sodass sich die Aufregung und der Schaden dann doch noch in Grenzen halten. So kann ich auf meinem Zweithandtuch ruhigen Gewissens weiter im Sinkschlaf verweilen, ohne mir über irgendetwas Sorgen oder Gedanken machen zu müssen.

Ein braunes, getrocknetes, leicht eingerolltes Ahornblatt kommt angeflogen und möchte unbedingt und nachdrücklich sich einfach unter meinem mit viel Ehrung ausgezeichneten, bunt gemusterten Handtuch verstecken, oder es will sich zum Winterschlaf verkriechen, ohne mich vorher darüber informiert oder gefragt zu haben. Geschweige denn das Handtuch gefragt zu haben. Das geht dann doch etwas zu weit. Ich beobachte aber den unerhörten Vorgang fast heimlich und ganz genau! Ich blinzele mit meinem obenliegenden Auge ganz leicht, so dass mir das Vorhaben des braunen, getrockneten, leicht eingerollten Ahornblattes nicht entgehen kann. Das braune, getrocknete, leicht eingerollte Ahornblatt hat sich sicherlich gedacht, mich in meinem Sinkschlaf heimlich zu überlisten und sich von mir ganz unbemerkt unter meinem bunt gemusterten, etwas ausgewaschenen Handtuch zu verstecken. Das geht dann doch etwas zu weit. Langsam strecke ich meinen müden Arm nach der Goldmedaille aus. Das unentrinnbare Schicksal des braunen, getrockneten, leicht eingerollten Ahornblattes scheint unabdingbar vorgezeichnet zu sein, bis in seine letzte Konsequenz. Mit der unter mir liegenden Hand fasse ich vorsichtig mein bunt gemustertes Handtuch an. Mit der oberen Hand greife ich fest nach der Goldmedaille. Mit einem Schwupps ziehe ich völlig unerwartet und plötzlich an meinem bunt gemusterten Handtuch. Da liegt der Störenfried in seiner vollen Pracht. Völlig schutzlos ist das braune, getrocknete, leicht eingerollte Ahornblatt meinem Willen jetzt ausgeliefert. Seiner vollkommenen Zerstörung ins Auge sehend, unentrinnbar. Ich hebe mit fester Hand die Goldmedaille und drücke sie in leidenschaftsloser Gleichgültigkeit auf das braune, getrocknete, leicht eingerollte Ahornblatt. Es ist vollbracht. Der Störenfried ist ein für alle Mal ausgelöscht und vernichtet, unwiederholbar, ein einzigartiger Vorgang in der Geschichte des kommenden Europas.

Zufrieden und doch etwas hochmütig, streife ich mein hochdekoriertes Handtuch genüsslich, ja, mit etwas Genugtuung glatt, lege die Goldmedaille an ihren vorbestimmten Platz und lege mich nach diesem unerhörten Vorfall wieder auf meinem Zweithandtuch zur Ruhe.

Da schieben sich gerade zwei Zeiten zart und leise, aber doch deutlich vernehmbar, übereinander. Sie liegen übereinander, weil sie nichts mehr trennen kann - voneinander. Die eine Zeit ist da, die andere auch, aber sie ist auch noch nicht weg. Die eine will von der anderen noch nicht so recht etwas wissen. Die eine nimmt die andere noch nicht ernst genug. Die eine Zeit spielt vorsichtig mit der anderen, sie probiert sich an ihr aus, wie sie ihr denn stehen würde, die andere Zeit. Ich würde sagen, die Zeit ist in einer akuten Septemberlaune, die wärmenden Strahlen der Sonne sind noch deutlich vernehmbar, doch auch ist die unentrinnbare Kälte mehr zu ahnen als zu spüren, die da zweifellos auf die Zeit zukommt.

Ich wache auf, strecke und recke mich, mir ist so, als könne ich ganz Paris umarmen, groß und wahr ist mir. Ich täte jetzt gerne Dinge, die in der Tat groß, wahr und schön sind, vielleicht violett oder rot und besonders grün sind, ein schönes, sanftes Grün. Ganz so grün, als könnte es ein weicher Pullover sein, auch so, als könnte es eine weiche Hose sein oder auch ein hellgrüner Rock, ein blasses, grünes Kleid, weich und sanft.

entre dos tierras

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