Читать книгу Der raumlose Raum - Peter Mussbach - Страница 10
Doppelt
ОглавлениеTante Emmi hat gerade ein lustiges Photo entdeckt: „Und morgen habe ich wieder Geburtstag, meinen sechsten Geburtstag“, sagt er stolz. „Und hier bist du noch ziemlich klein“, sagt Tante Emmi und zeigt ihm das Bild.
Gemeinsam sind sie auf sein Drängen hin im Keller dabei, den Erinnerungsschrank zu durchwühlen und zu plündern, denn sein Erinnerungsschloss hat er noch nicht im Kopf, so weit hat er sich bislang nicht vorgewagt.
„Mein „Errrrinnerungsschrrrank“, sprudelt es halsbrecherisch aus ihm heraus, während er selbst auf wackeligen Beinen unterwegs ist: „Das wird besser werden“, stichelt seine Mutter, „wenn du endlich in der Schule bist, in der Schule lernt man richtig laufen, weil man dort auch Sport machen muss.“ – Er aber will keinen Sport machen: „Kletterstange ist scheiße“, schreit er, „sich wie ein Affe nach oben ziehen tut weh, so ohne Boden unter einem!“
Natürlich kennt er das Photo. Er hat es manchmal schon zwischen den Fingern gehabt. „Es ist ein seltsames Photo“, denkt er, als er es jetzt wieder in der Hand hält und unsicher betrachtet: Das Photo wirkt irgendwie unheimlich, als hätte es ein Geheimnis, ein gemeines Geheimnis – ein leeres Geheimnis. „Das Photo ist ...“, murmelt er und starrt vor sich hin, „so ein Dunst und Gespenster.“ – „Leer?“, fragt Tante Emmi nach, als könnte sie Gedanken lesen, „da bist du doch drauf, mit deinen Eltern.“ „Ja“, antwortet er traurig, „als Teddybär!“
Erstaunt nimmt sie ihn in die Arme, wobei das Photo, das er jetzt hinter ihrem Rücken mit beiden Händen fest hält, unter seinen Tränen verschwimmt, so dass er nichts mehr erkennen kann. „Ja“, schluchzt er, „auf dem Photo ist schon was drauf, aber man sieht alles und nichts.“ „Keineswegs, mein Dicker: rechts steht dein Vater“, beruhigt Tante Emmi und wiegt ihn sanft, „und links deine Mama, und du stehst hier, in der Mitte zwischen deinen Eltern, wo soll denn da ein Teddybär sein?“ „Doch, da ist ein Teddybär“, ruft er wütend, „ich, der Teddybär!“
„Nein doch, erinnerst du dich nicht, deinen Teddy hattest du doch damals im Sommer schon verloren. Alle haben dich nach deinem heiß geliebten Teddybär gefragt, den du immer mit dir rumgeschleppt hast, du aber wolltest plötzlich von Teddybären nichts mehr wissen, und den Neuen, den ich dir schenkte, hast du einfach verschenkt, das war nicht nett von dir.“ „Ich kann Teddybären nicht leiden“, sagt er ernst und fährt mit seinem kleinen Zeigefinger fahrig über das Bild: „Ich will nicht wie Teddybär zwischen Vater und Mutter rumhängen, mit den Ekelhosen, da, sieh, wo es doch so warms ist.“ „Das sind aber schöne Hosen, du“, versucht Tante Emmi ihn aufzuheitern, „das sind ganz feine Hosen, die sind sicher von Bleyle.“ „Blleille … das kratzt!“ Er schüttelt sich und rubbelt an seiner trockenen Haut: „Die kratzen und sind immer zu warms!“ „Deine Eltern schauen lustig aus, wie sie da im Photo stehen!“ Tante Emmi lächelt ihm aufmunternd zu und will ihn ablenken. „Nein, i wo, die sind steif, steif wie Puppen!“, wehrt er sich verzweifelt. „Aber nein“, erwidert Tante Emmi, „so schau doch hin, wie sie stolz lachen!“
Als er sich das Gesicht seiner Mutter ganz nahe vor Augen hält, „wie bei einer Großaufnahme“, sagt Tante Emmi und schmunzelt, kommt zum Kratzen noch ein unheimliches Frösteln hinzu: „Kaltwarm ist das Photo“, ruft er entsetzt, „irgendwie dazwischen, Tante Emmi, warms wie Hautkratzen und kalts wie Mamapapa – ich bin nicht der auf dem Bild da, das musst du doch sehen! – Wie alt bin ich da eigentlich?“, fragt er nach einer Weile unvermittelt und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht, „wann war das bloß?“ Tante Emmi kann sich daran auch nicht mehr so genau erinnern, und beide einigen sich darauf, dass er damals auf dem Photo genauso alt ist wie ein Knirps, welcher zum ersten Mal in seinem Leben einen Satz fehlerfrei sagen kann, zum Beispiel: „Es ist warm!“ oder: „Es ist kalt!“ – „Warmskalts“ kommt selten vor.
„Kann man sich überhaupt an etwas genau erinnern, Tante Emmi?“ – Tante Emmi lacht: „Wie schön sie lacht“, denkt er, während er ihr in ihr offenes Gesicht schaut und am liebsten ihr Herz drücken würde, weil sie so „schnuckelig“ ist. Tante Emmi zögert einen Moment und denkt nach: „Ja, ich erinnere mich jetzt“, antwortet sie ihm ruhig, „schnuckelig, ja richtig, schnuckelig ist damals dein Lieblingswort gewesen, erinnerst du dich nicht auch? Schnuckelig war für dich doch alles, was warm ist, so wie dein Sommer von April bis Oktober; Altweibersommer, sagt dir das nichts mehr?“ Er versteht nicht: „Heute, mit dir“, juchzt er, „ist es schnuckelig, besonders schnuckelig, denn draußen ist es warm und mit dir auch … mit dir ist es immer warm, auch im Winter oder im Keller – also ist es doppelt schnuckelig, nicht wahr, einfach doppelt!“
„Ja“, scherzt Tante Emmi, „wie das Photo, das ist auch doppelt!“ „Was meinst du damit, warum ist das Photo doppelt, es ist doch nur eins und hat keinen Zwilling?“ – „Doppelt, weil sich in jedem Photo damals und heute vermischen, die Vergangenheit mit der Gegenwart: Wenn du das Photo anschaust, dann hast du ein Photo in der Hand und eines im Kopf, also ein doppeltes Photo: Ein Hand- und ein Kopfphoto gleichzeitig.
Lange schaut er das Bild an und versucht sich zu erinnern: „Also, ich weiß nicht“, sagt er, „mein Kopf sagt nichts, da ist kein Bild. Bei mir ist nichts doppelt, das Bild ist allein, ohne Zwilling und leer, nur hier in der Hand.“ „Aber hier“, sagt Tante Emmi und gibt ihm ein anderes Photo, „daran erinnerst du dich doch, da sind wir beide drauf und schwimmen in deinem Waldsee.“ „Ja, klar“, antwortet er begeistert und quietscht, „das Bild hier ist doppelt!“
Mit Tante Emmi spielt er besonders gerne, vor allem Welt und Leben, wie Tante Emmi es schelmisch nennt – das kann man nicht mit allen spielen, eigentlich nur mit Tante Emmi.