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Wenn Onkel Kurt nicht wäre

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„Alleinausflugsexpedition!“

Onkel Kurt lacht auf: „Das ist wieder mal bezeichnend für dich, alleine durch die Welt gondeln und nachher noch fragen, ob es wirklich die Welt war ... Prost mein Lieber, auf dein Wohl!“ – „Prost, Onkel Kurt, bei einem Gläschen lässt es sich doch freier assoziieren! Aber sag deinen Kollegen nichts davon!“

Onkel Kurt hat den Analytiker an den Nagel gehängt und ist Segelfluglehrer geworden: „Jetzt kannst du mir alles erzählen, es wird nichts gegen dich verwandt!“, scherzt er, „wie alt warst du damals eigentlich bei deiner ersten Expedition?“ „Mit fünf ging's los, mit zehn oder elf hat's mich schon gelangweilt!“, sagt er und nimmt einen tiefen Schluck Bier.

Manchmal ist Onkel Kurt ein toller Kumpel, mit dem man phantastisch nachdenken und spinnen kann: „Weißt du, Onkel Kurt, ich schaue immer genau hin, wenn ich jemandem zuhöre, und verstehe, weil ich sehe, was ich höre! – Das habe ich von den beiden alten Einarmigen in der Altstadt gelernt, da fällst du nicht mehr so schnell auf jemanden rein und schaust genau hin.“

Unwillkürlich hält er inne. – „Es ist doch verrückt“, fährt er nach einer Weile fort, „wenn ich mich an etwas erinnere, dann läuft das bei mir über das Wort und über den Blick, das heißt das Bildwort – irgendwie gleichzeitig, mit einem Blick von außen nach tief innen sozusagen und sofort wieder zurück in die Welt der Töne und Geräusche, da kann man sich manchmal sogar mit dem Wind unterhalten.“

„Wenn Du so willst, gibt es in mir eine Bibliothek unzähliger Schreibhefte, in welchen ich meine Erinnerungen sofort wiederfinden kann, wenn ich eine bestimmte von ihnen brauche, ohne Schlagwortkatalog, denn es sind ja meine Hefte, die ich mit meinen Erinnerungsanekdotennotizen vollgeschrieben habe, da weiß ich, wo ich nachschlagen muss. Und … jetzt wirst du lachen, Onkel Kurt: Diese Bibliothek ist natürlich die Bibliothek eines Schlosses, in dessen weitläufigen Räumlichkeiten ich meine Erinnerungsbilder ablegen kann – die Bilder meiner „Abenteuer der weiblichen oder männlichen Tat“ zum Beispiel, die würde ich am liebsten auf dem großen Konzertflügel ablegen, der im Musikzimmer steht, mit der rechten Hand eine aufreizende Melodie spielen und gleichzeitig dabei meine prickelnden Skizzen, Zeichnungen oder Photographien mit der aufgeregten Linken durchwühlen und betrachten.“

Gleichzeitig“, schmunzelt Onkel Kurt, „gleichzeitig also eine Zettelbibliothek und ein Schloss zum Sicherinnern! Du willst immer alles! – Kennst du die Gedächtniskunst, die Mnemosyne, über die vormals die Philosophen räsonierten?“, fragt er, der ernst geworden ist.

„Ja, richtig doch, ja, die Gedächtniskünstler“, ruft er aus, „die haben doch im Wesentlichen zwei Arten von Kunstfertigkeit postuliert, sich im Sicherinnern zu üben: Entweder gibt es für den Wissenschaftler einen ewig langen Zettelkasten, in welchem der Mann des logos, des Wortgeistes also, seine kostbaren Erinnerungen ablegt, nachdem er sie zunächst scheinbar wirr auf Karton oder Papier kritzelt, um diese Blätter dann im Zettelkasten so zu ordnen, dass er sich mit raschem Griff jederzeit ihrer wieder vergewissern kann.“

„Oder aber man trägt zudem auch ein Schloss in sich, zum Beispiel, wenn man Künstler ist, also eher ein Augenmensch als ein Wortmensch. Und im Schloss findet so einer dann – seiner inneren Anschauung gemäß – jene Räume wieder, die nur darauf warten, wo er seine Erinnerungsbilder und Bücher abzulegen und zu stapeln gedenkt: Die Hefte kommen natürlich in die Bibliothek, die Bilder an die Wände, in Kommoden, neben die Bar mit ihren in Glasregalen schwebenden Flaschen und Karaffen und auf den Konzertflügel. – Bald hängt alles voll und überall stapelt es sich.“

„Die Bilder also an der Wand und die Bücher in der Bibliothek, eine tolle Ordnung“, sagt Onkel Kurt beeindruckt, „das hätte ich von dir nicht erwartet!“ „Das kannst du von mir auch nicht erwarten“, murmelt er vergnügt, „denn meine Bibliothek steht im Keller, da vermutet sie keiner und findet sie niemand!“ „Im Keller also, na gut, aber bitte nicht im Schlafzimmer, da hat man doch anderes zu tun als zu lesen, oder etwa nicht?“ Onkel Kurt lacht Tränen: „Ich glaube, in deinem Schloss herrscht ein ziemliches Chaos, die Bibliothek im Keller und die kitzligen Bilder auf dem Flügel, wo jeder sie finden kann, eine verkehrte Welt, alles offen und nicht heimlich – wunderbar! Und die Bilder deiner Träume, wo liegen die denn herum? Jetzt sage mir bloß nicht, im Schlafzimmer!“

„Nein, natürlich nicht, mein Lieber“, antwortet er verschmitzt. „Traumbilder gehören zum Traum, der träumt! Das sind nicht meine Bilder, die gehören mir nicht. – Und apropos „Schlafzimmer“: Meine heißen Bilder liegen auf dem Flügel, das weißt du doch! Und wenn du es unbedingt wissen willst: Sex mache ich ohnehin lieber im Freien, weil man sich da bis in alle Ewigkeit hin ausdehnen kann!“

Ein Zimmer jedoch, von dem er auch seinem Onkel nicht genau verraten will, wo im Schloss es sich befindet, ist ein verborgenes Zimmer, ein Zimmer, dass es vielleicht gar nicht gibt: „Rate mal was da drin ist, Onkel Kurt, da wirst du sicher nicht so schnell drauf kommen!“ „Nun, also, mach es kurz und lass mich nicht so lange hängen“, drängt Onkel Kurt neugierig.

„Dort bewahre ich meine Zukunftserinnerungsbilder auf, jetzt sagst du nichts mehr, oder!“ – „Bitte?“ Onkel Kurt lächelt ihn ungläubig an. „Zukunftserinnerungen?“, fragt er augenzwinkernd nach, „was soll das denn für ein Erinnerungsraum sein?“ „Nun, dort hätte ich alle Skizzen und Zeichnungen von Erlebnissen gestapelt, die mir später einmal widerfahren werden!“ „Später einmal!“, Der Onkel schaut ihn verdutzt an. „Ja“, antwortet er, „ja, das ist der „Deja-vu-Raum“, damit ich später nicht auf den Kopf falle, wenn ich mir denke, das hast du doch schon einmal erlebt.“

„Zukunft, Vergangenheit oder Gegenwart – alles wirkt in mir ohnehin durcheinander … schon als Kind konnte ich mich manchmal gar nicht mehr daran erinnern, ob ich mich nun im Morgen, im Gestern oder im Heute befinde: Alles ist gleichzeitig!“

Der raumlose Raum

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