Читать книгу Der raumlose Raum - Peter Mussbach - Страница 18
Der Flughafen
ОглавлениеDraußen scheint die Sonne. Der Himmel ist klar. Weit oben zieht ein Kondensstreifen einen weißen Faden durch die blaue Luft. Bei weit geöffneten Fenstern sitzen Tante Emmi und er in seinem Kinderzimmer und spielen sein Lieblingsspiel, das er nur mit ihr spielt, mit niemand anderem: Tante Emmi hockt auf seinem kleinen Schreibtisch, erzählt ihm Geschichten, die sie erlebt hat, am besten die neuesten, die ihr gerade erst passiert sind und beobachtet ihn von oben dabei, wie er unten am Boden mit seinen Spielsachen die Geschichte spielt, indem er sie nachspielt, mitspielt oder manchmal sogar vorspielt, woraufhin Tante Emmi ihn sofort zurückpfeift und lachend zu verstehen gibt, ihr doch bitte zuzuhören, er sei es doch schließlich, der die Welt kennen lernen will und drängt. Insgeheim allerdings hat er Angst davor, erwachsen zu werden, was er aber nicht zugeben will; lieber baut er sich seine eigene Welt, auch wenn sie von Tante Emmi ist.
„Viele Menschen sind abgekapselt von der Welt“, sagt Tante Emmi bedacht, „als hätten sie ihre innere der äußeren Realität geopfert – und schließlich verkleben sie zwischen ihren Illusionen. Die glauben partout mitten im Leben zu stehen, straucheln aber schnell, wenn der Wind sie von hinten kalt erwischt. Zum Glück werden sie vom Wirtschaftswunder aufgefangen, verdienen zum Trost viel Geld, um im Luxus zu überwintern, immerhin haben sie viel hinter und nichts vor sich.“
„Ich will keinen Porsche fahren!“, ruft er. „Und warum nicht?“, fragt Tante Emmi. „Weil ich auch nicht Rechtsanwalt werden will. Das aber ist egal“, sagt Vater, schlussendlich arbeitet man doch nicht zum Spaß, dafür hat man ja sein Privatleben: Zwei bis drei Monate, sagt er immer, und du hast als Anwalt schon wieder so viel verdient, dass du dir glatte drei Wochen Karibik leisten kannst und einen Porsche dazu; wenn du unbedingt willst, kann der Porsche auch ein Cabriolet sein, mit einem offenen Dach und einer süßen Mieze drunter.“ „Das Dach machst du hoffentlich vorher zu, bevor du sie vernaschst“, hatte sein Vater Jahre später hinzugefügt, wenn er wieder auf das Thema gekommen war.
Mit Tante Emmi baut er an seinem Großflughafen, der unter seinen Händen auf den Mustern des Kinderzimmerteppichs mit Holzklötzchen und Legosteinen Gestalt annimmt, weil dort, so hat ihm Tante Emmi verraten, die neue Geschichte spielt, die sie gerade letzte Woche erst erlebt hat, als sie und ihr Mann mit dem Flugzeug in den Urlaub fliegen wollten.
Nicht lange und der Flughafen ist in Betrieb, mit den Trassen allgemeiner Logistik, den gesonderten Strecken für Notarztwagen und Feuerwehrfahrzeuge und supermodernen Passagierhallen, die weitläufige Architektur mit bequem kurzen Wegen verbunden. Selbst die An- und Abfahrtswege, welche in engster Verzahnung zu den nächstliegenden Schnellstraßen und Autobahnen rasche Anschlussmöglichkeiten bieten und häufig bei Planungsarbeiten vergessen werden, hat er von Anfang an mit bedacht. Daneben hat er imposante Start- und Landebahnen angelegt, die hinsichtlich Dimension und Technologie zukunftsweisend sind: Man kann sogar auf dem Rücken landen!
Im Flughafen herrscht reger Betrieb, die Menschen sind heiter, sie amüsieren sich, denn sie fliegen ja weg und können vorher noch einkaufen, was das Herz begehrt, weil alles Teure billig ist. Pausenlos wird gestartet und gelandet, und, wer wieder zurückkommt, weil er muss, fällt seinen Lieben, die ihn gesenkten Haupts zurückholen, weil man sie zurück gelassen hat, angespannt in die Arme, als hätte man sich eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Nur die Taxen kommen nicht durch, das hat er übersehen: „Verdammt! er hat die „Scheißtaxis“ vergessen!“
Er schreit den Taxifahrer an, wenigstens jetzt, die letzten Meter Gas zu geben, der Weg scheint endlich frei; doch ehe der entnervte Mann beschleunigen kann, hat sie der Höllenverkehr wieder eingeholt, und taumelnd, wie besoffen quietschen und rutschen die Taxen Funken schlagend die Fahrbahn entlang, bis sie sich traubenartig ineinander verkeilen und nichts mehr geht!
Mit einer hektisch-verächtlichen Geste blättert er einen enttäuschten Fünfzigmarkschein über den Beifahrersitz nach vorne in die Luft, als könnte der Taxifahrer, der siebzig verlangt, etwas dafür, dass er auf seinem eigenen Flugplatz die Zufahrtswege für die „Scheißtaxis“ vergessen hat, springt aus dem Wagen, verrenkt sich übel dabei, weil kein Platz ist und will losstürmen, als überall um ihn herum ebenfalls die Wagentüren aufgerissen werden, denn jeder ist zu spät, bleibt kopflos im allgemeinen Gedränge stecken und droht im Abgas zu ersticken; „Verdammt!“
Wie geknebelt starren manche vornehm auf ihre Dugena und tun so, als wäre nichts. Andere wollen und können sich einfach nicht mehr beherrschen, so nahe dem Ziel, das sie noch erreichen wollen! Wieder andere müssen nach dem Morgenkaffee einfach nur dringend pissen, da ist es logisch, dass die Hölle losbricht, weil den Leuten der Kragen platzt, oder einer sich vielleicht unvorsichtigerweise eine Zigarette anzündet und alle Spannung, welche in der Luft liegt, zum Explodieren bringt.
Die Leute beschimpfen sich, bespucken sich mit Zoten und werden handgreiflich, so dass er sich unversehens in einer Massenschlägerei wiederfindet und Tante Emmi nicht mehr hören kann, welche ihn verzweifelt zu warnen und zurückzurufen versucht. Panisch taucht er unter, die Fetzen fliegen, sein Flugzeug kann er vergessen, was soll er machen!
Da greift er zum Äußersten, packt sich die Menschärgeredichnichtfigur, als die er sich in all dem Chaos unten im Flughafen zwischen den Taxen kauern sieht, und lässt sich als Spielfigur – von eigener Hand sicher und fest geführt – in hohem Bogen zum Flugsteig hinüber fliegen, wo er der Stewardess, welche die Flugscheine abreißt, dreist vors Gesicht tritt und ihr gegenüber – den souveränen Geschäftsmann spielend, der kein Anwalt ist – gehörig auftrumpft, um endlich in sein Flugzeug zu kommen. Vollkommen unbeeindruckt aber teilt die Schöne ihm mit, dass es keinen Abflug gibt, über die Gründe müsse sie leider schweigen: „Das Flugzeug fliegt nicht“, sagt sie und entfernt sich ins Ungefähre.
„Diese uniformierte Pissnelke von Stewardess,“ entfährt es ihm, während er sich wie ein Stenz zu Tante Emmi hin umwendet, welche richtig toll aufgemacht, sich über alle Herzen auf den gemeinsamen Urlaub mit ihm in Amerika freut; beide wollen nur verreisen, ins Ausland nämlich, nach Amerika, was soll daran besonders sein, vielleicht kann man dort ja auch heiraten.
„Es gibt noch eine letzte Maschine nach Amerika“, ruft die Stimme einer engelsgleich anmutenden Stewardess, die in ihrem Rücken hoch oben auf einer Empore – zur vollkommenen Überraschung aller Reisewilligen – erschienen ist: „Wir können sie vielleicht noch erreichen, unsere Maschine“, hört man ihre Stimme von oben, „wenn wir uns alle beeilen, also: Mir nach, auf nach Amerika!“
Gemeinsam mit allen anderen stürzen sie los, Tante Emmi und er mittendrin. Man läuft, so schnell es geht, manche helfen einander sogar und greifen sich unter die Arme, alle kommen sie die endlos sich verzweigenden Gänge in dem Gewühl noch relativ zügig entlang, dann aber fängt man hier und da schon an, sich gegenseitig zu behindern, weil einem der Atem ausgeht, und – unversehens, aber überhaupt nicht überraschend – werden aus Reisenden urplötzlich Reisemonster, denen die Masken ihrer neu erkauften, aber immer verkrampften Selbstgewissheit unfreiwillig im Getümmel von den Nasen rutschen. Gerade noch will er versuchen, einer Dame im Pelz, die ihren jammernden Pekinesen fest unter den Arm klemmt und beinahe erwürgt, den Chaneldiamantohrring zurückzugeben, der ihr gerade vom Ohrläppchen gerutscht ist, als er ohne Vorwarnung von ihr mit spitzen Ellenbogen derart gemein zur Seite gestoßen wird, dass er an die Wand schleudert und sich übergeben muss.
Viele, die hinter ihnen zurück geblieben sind, haben offenbar aufgegeben oder liegen verletzt am Boden; andere, welche gerade noch mithalten konnten, gehen jetzt, manch einer widerlich blau angelaufen und verdrehten Auges, in die Knie, während die Stärksten unkontrolliert um sich schlagen und wie aus Absicht den Nebenmann im Gesicht treffen, als hätte der es nicht schon längst verloren. Noch auf dem Boden speit man auf den brandneuen Bogner-Regenmantel des Nachbarn oder sticht, sich zur Seite werfend wie eine Furie mit spitzen Stöckelschuhen nach des anderen Fersen, als sei er Achill. Gebisse treten hervor, Perücken fliegen und legen banale Wahrheiten bloß, zerfetzte Seidenanzüge knistern in Fetzen elektrisch, rinnende Wimpertusche ersetzt Weinen, der Pekinese jault fürchterlich auf, der scharf faulige Mundgeruch überall nimmt überhand, und diejenigen, welche zwar nicht ohnmächtig, aber nur noch halben Sinnes sind, halten verzweifelt am Gedanken fest, es doch noch schaffen zu können, scheinen aber vergessen zu haben, dass man nach Amerika nicht zu Fuß kommt.
Als er sich wie in einem Wunschfilm überraschenderweise doch noch seinem Flugzeug gegenüber sieht, ist dieses auf der Startbahn rollend schon längst nach Amerika unterwegs. Während er, mit der Nase an die Glasscheiben des Flughafenbusses gepresst, festhakt, der immerhin im Höchsttempo den Flieger nach Amerika noch erreichen will.
Im Bus bricht Vandale aus. In wahnhafter Raserei versuchen die Reisenden alles zu bewerkstelligen, um ihr Ziel in letzter Sekunde doch noch zu erreichen: Sie beißen einander, Beine, an denen noch die letzten Fetzen der französischen Mode hängen, ragen blutend in die Luft, der Pekinese ist zum Gremlin geworden und springt den Kopflosen über die entblößten Schultern, schwächere Frauen befinden sich im Schwitzkasten irgendeines Amerikaadepten, knallenge Männerseidenhemden platzen auf und schießen die Perlmuttknöpfe ins eine oder andere Auge – der entsetzliche Gestank im Wageninneren erinnert an Viehtransport und die Gesichter, Gliedmaßen, Körper verkommen zur Unkenntlichkeit – Bacon.
Draußen startet die Super Constellation über den Ozean und durch die jetzt zersplitternden Fensteröffnungen springen die Letzten wie toll nach draußen dem Flugzeug nach, welches längst gestartet ist und sich ihren ermattenden Blicken in ewige Weiten entzieht.
Zu Tode erschöpft liegen sie, die letzten Mohikaner, auf der im Winterschneerieselregen vereinsamten Startbahn, wie Müllsäcke, lassen alle Hoffnung fahren und warten darauf, entsorgt zu werden.