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Obernbayern
Оглавление„Was für ein Sommer“, durchfährt es ihn. Er kann noch nicht richtig sprechen, aber fühlt, wie er denkt: Er ist noch ein Kind. Denken und Fühlen gleichzeitig.
Sein Sommer heißt „Warms“, da ist das „S“ vom Sommer drin, wenn es warm ist. Und warm kann es schon im April sein, selten im Oktober, „es sei denn, man wohnt in Oberbayern“, erklärt ihm Tante Emmi, „da gibt es den berühmten Altweibersommer im Oktober.“
„Meine Güte, wer hätte das gedacht, schon Ende September, nein, um Gottes Willen, es ist ja schon Anfang Oktober …, wie die Zeit vergeht!“, sagt seine Mutter beim Mittagessen wie aus heiterem Himmel und tupft sich mit der Serviette kapriziös die Schläfen. „Wo die ersten, nicht mehr zu übersehenden Falten vom vielen Reiben nur schlimmer werden“, warnt sein Vater, der manchmal schrecklich ehrlich sein kann. – Ehrlich ist er selber auch. Aber instinktiv vermeidet er es, seiner Mutter alles zu sagen, obwohl er noch gar nicht richtig sprechen kann.
„Sie erträgt Direktheit nur in homöopathischen Dosen“, scherzt Tante Emmi mit ihm, während sie bei einem Waldspaziergang Unfug treiben. Sie weiß, dass er kein Wort versteht, aber dasselbe denkt. – „Du willst am liebsten nach Oberbayern, nicht wahr?“, juckst sie. „Oh ja“, antwortet er begeistert, „alte Weiber!“ – „Nein, bitte, das sagt man nicht, Sommer mit alten Weibern, nun also!“, Tante Emmi ist nicht mehr zu halten. Er auch nicht: „Bayern oben Bayern … Obernbayern!“
Obernbayern! – „Du erinnerst dich nicht, das darf doch nicht wahr sein, nun ja, es ist ja auch schon ein paar Jährchen her!“, sagt sein Vater amüsiert, während die Mutter ihm noch etwas Gulaschsuppe nachlöffeln lässt, die es dienstags oder donnerstags als Mittagssuppe gibt, wenn es Ende April noch oder Anfang Oktober schon kalt ist. Er sitzt und staunt: Obernbayern! Eine wirklich komische Geschichte, aber – beim besten Willen – die ganze Geschichte sagt ihm nichts, es ist ewig her, er kann sich einfach nicht mehr an sie erinnern; für ihn bleibt das Ganze eine Geschichte. „Aber ‚alte Weiber', das sagt dir doch sicherlich noch etwas, oder nicht“, hakt seine Mutter nach, wobei sie achtlos dem Ersten Dienstmädchen die Rosenthal-Terrine in die Hände drückt, damit die Suppe in der Küche noch einmal richtig heiß gemacht wird: „Nicht warm, verstehen Sie?“, sagt sie dem Dienstmädchen kalt, „heiß, nicht warm!“ Sein Vater lacht immer noch: „Obernbayern … Obernbayern!“ Und jetzt ist auch die Verzweiflung in seinem Lachen zu hören, wie so oft in letzter Zeit.
„Vielleicht ist es kein Zufall, dass ich mich an die alten Weiber im Sommer nicht mehr erinnern kann – eine wirklich trockene Angelegenheit, da muss man lachen. Aber vielleicht ist es besser so“, sagt er sich, „da steckt irgendetwas Kaltes drin“, und zieht sich den Pullover über.