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Das Kasperle

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„Der Sonntag geht beschissen los, wie beinahe jeder Tag die Wochen zuvor, ich sehe jetzt alles klar vor mir.“ – Er legt seine Beine auf den Schreibtisch, zündet sich noch eine Zigarette an und lässt den Diaprojektor laufen: Jetzt sieht er das Bild als Film. Am Nachmittag wird das Photo gemacht werden – Teddy zwischen Eltern.

„Insgeheim bin ich froh, dass ich meinen Teddybären nicht mehr im Arm halten muss“, sagt er sich, während er da so allein im Bett liegt und keine Lust auf Frühstück hat. „Den habe ich gestern im Gartenabfall weggeschmissen, so schnell kommt mir keiner mehr ins Bett!“

Ein Teddybär muss alles mit sich geschehen lassen: Morgens wird er auf den Boden geschmissen, wenn man aufstehen muss und in die Schule hetzt, weil man wie immer zu spät ist. Da liegt er dann erst einmal, bis das Zweite Dienstmädchen aufräumt und ihn unachtsam wieder aufs frisch bezogene Bett wirft, wobei sie ihm noch schnell die Schultergelenke verdreht, damit er niedlich aussieht.

Dann sitzt er womöglich den ganzen Tag dösig mit sich rum, um am Abend, beim Schlafengehen, von der Mutter nervös betatscht zu werden, wobei das blöde Steifftier sich von ihr auch noch grunzende Kinderlaute anhören muss. Damit er, der sich schon längst unter seiner Bettdecke vergraben hat, seinen niedlichen Teddy nicht in die Arme zu nehmen vergisst, endlich einschläft und keine dummen Fragen mehr stellt. „Und unseren Teddyteddy will unser Kleiner heute wieder nicht in seinem Bett haben, unseren Teddy … didsi … tatzi“, flötet die Mutter dem Wuschelohr zu und lässt ihn steif über die Bettdecke hüpfen. Dann springt er wütend auf, um sich zu wehren, hat aber schon seinen Teddybären ins Gesicht gedrückt bekommen. Was zur Folge hat, dass das Licht ausgeht.

„Da habe ich ihn lieber begraben, meinen Teddy!“ – Er erinnert sich an alle Einzelheiten, „und Tante Emmi beobachtet die heimliche Beerdigung zu allem Überfluss auch noch von oben hinterm Fenster – na Servus!“

Der Teddy aber hatte keine Chance mehr, er wollte keinen Teddy mehr um sich haben, er musste unter die Erde, auch wenn er von Margarete Steiff noch so liebevoll zusammen genäht worden war. Wenn er ehrlich war, er hatte noch nicht einmal richtig nachgesehen, ob der Teddy auch wirklich tot ist. Lebendig aber hätte er ihn keinesfalls ins Gartenabfallgrab gesteckt, niemals! Vor ein paar Wochen hat er in seiner Schlossbibliothek Edgar Allan Poe entdeckt, nein, niemals hätte er das getan, seinen Teddy lebendig begraben, da sei Poe vor!

„Ich muss ein Kasperle werden“, durchfährt es ihn, „das ist die einzige Chance, die ich habe: Entweder immer ein Teddybär bleiben oder als Kasperle zur rechten Zeit entkommen, wenigstens vorübergehend, mal sehen, was danach kommt! – Ein Kasperle ist nicht dumm! Es weiß sich zu wehren. Und wenn es denn sein muss, dann auch mit der Pritsche – gegen das Krokodil, den Kinderarztprofessor oder den Polizisten zum Beispiel: Kasperle sind direkt und ehrlich! Dagegen kann keiner was machen, Kasperle sind eben so. Und wenn es heiter und aufgeräumt um die Ecke gebogen kommt, oder unvermutet von unten auftaucht wie der Teufel, dann wundert sich nicht nur der Teufel. Dann tanzen die Puppen – und der Teufel auch. Dann tanzen Teufelspuppen! – Das Beste aber ist, dass das Kasperle immer gewinnt: Im Kasperletheater siegt immer das Gute. Das ist das Gute am Kasperletheater.

Ich liege also morgens im Bett und langweile mich. Ich könnte die Szene filmen, so deutlich sehe ich alles vor mir. Was mir heute Abend im Stadtpark passieren wird, davon habe ich natürlich keine Ahnung. Irgendwie beschleicht mich das verdammte Gefühl, in der Falle zu sitzen. Gott sei Dank ist der Scheißteddy weg, denke ich und freue mich höllisch: „Jetzt kann mich keiner mehr gängeln, hänseln oder greteln!“

Ab sofort bin ich Kasperle, das morgens in seinem Bett liegt. Jeder glaubt, es sei der Teddybär. Das Kasperle aber hat sich einfach als Teddybär verkleidet und kann in Ruhe, ohne sich verstecken zu müssen, darüber nachdenken, was es tun wird, um sich aus der Falle zu befreien und im rechten Moment das Teddybärfell vom Kasperlekörper zu schütteln.

Da liege ich also im Teddybärkostüm kasperleartig im Bett und denke nach. Jetzt ist mir gar nicht mehr langweilig. Ganz in Gedanken stecke ich das Kasperle auf meinen plötzlich sehr aufgeregten Zeigefinger und balle die anderen, die unter seinem rotgrüngelbblau gewürfelten Filzkleid versteckt sind, zur Faust zusammen, und recke mein Kasperle hoch in die Luft, wie es neulich Vater mit seinem Zeigefinger Mutter gegenüber gemacht hat: Leck mich am Arsch! – Das aber macht Kasperle als Kasperle besser: Man muss die Leute nicht sofort beleidigen, die es ohnehin nicht bemerken, weil auf dem Zeigefinger der Kopf vom Kasperle steckt.

„Am Besten wäre es vielleicht gewesen, wenn ich ein Gremlin statt ein Kasperle hätte werden können, dann wäre möglicherweise alles einfacher gelaufen“. – Er schaltet den Diaprojektor aus, steht auf und geht hinüber zu seiner Gremlinpuppenteddybärwand, auf die er lange keinen Blick mehr geworfen hat. – Gedankenverloren betrachtet er all die Filmphotos, welche er aus Zeitungen und Magazinen ausgeschnitten hat. „Meine Güte“, er lacht auf, „was für ein Quatsch, der Gremlin war damals doch noch gar nicht auf der Welt, den gibt es ja noch gar nicht, der wird erst viel später erfunden, im Kino nämlich“ – grinsend schüttelt er den Kopf. „Trotzdem“, denkt er, „gesetzt den Fall, es hätte den Filmgremlin schon gegeben, was wäre dann gewesen, mit mir als Gremlin?“

Der Gremlin ist ein modernes Wesen, der ist einfach strukturiert und hat nur zwei Seiten, charakterlich und überhaupt, der fackelt nicht lange: Entweder ist er kuschelsüß und herzzerreißend niedlich oder aber – dann nämlich, wenn er falsch behandelt wird – furchtbar böse. Gremlins haben eben nichts anderes als zwei Gesichter, das ist das Langweilige und Moderne an ihnen. Die zahlen es den Leuten heim. Wer auf den Gremlin nicht geachtet hat, der kriegt die Hölle ins Haus. Und das kann heute leicht passieren, denn ein Gremlin hat keine Bedienungsanleitung auf der Brust kleben. Und wenn man ihn wie einen Teddybären behandelt, folgt die Strafe auf dem Fuß.

Im Grunde aber sollte es nicht schwer sein, dass ein Gremlin kuschelsüß und niedlichniedlich bleibt.

Regel 1: Dusche deinen Gremlin nie!

Regel 2: Füttere ihn um Gotteswillen niemals nach Mitternacht!

Das wenigstens muss man sich merken, obwohl einem der Kopf nach anderem steht. Denn einerseits ist es allgemein verboten, fett zu sein und das auch noch öffentlich zur Schau zu stellen. Andererseits muss man ja auch nicht wie jeder Amerikaner mit Zitronenarsch sechsmal am Tag duschen.

Wenn man dem Gremlin aber nach den TV-Spätnachrichten zum Beispiel noch Tüten voll bunter Smarties in den Rachen stopft, nur weil er niedlich ist und ruhig bleiben soll, erlebt der Gebührenzahler sein blaues Wunder. Dann verwandelt sich der Gremlin in Windeseile zu Mister Hyde als wären die Bonbons ein Chemietrank gewesen – flüssige Smarties eben.

Jetzt macht der Gremlin Randale! Er läuft Amok und ist so gar nicht mehr der niedlich Kuschelige. Er greift an und beißt dir ins Bein wie ein wild gewordener Hund; oder er sitzt im Kühlschrank und frisst dir die Tiefkühlkost weg; oder er lässt die Computer und damit auch die gesamte Haustechnik abstürzen und geht an die Flachbildschirme, die schon explodieren, während er sie dir – ahnungsloser Smartiesspender – an den Kopf wirft. Manchmal kann es auch vorkommen, dass die Dinge dabei so außer Kontrolle geraten, dass es blitzt und staubt bevor die ganze Villa brennt. Dafür aber können Gremlins nichts: Sie sind nur falsch bedient worden – also Kurzschluss und Hausbrand. Dann kann man auch nicht noch rasch in Psychologie Heute nachlesen, wie man es besser hätte machen sollen, weil das Licht ausgegangen ist. Jetzt ist es klüger, schleunigst das Haus zu verlassen, statt hektisch nach einer Taschenlampe zu suchen, um die Wahnsinnsartikel auch noch auswendig zu lernen. Mit dem Gremlin ist es so eine Sache – er ist gefährlich kuschelig, besonders für solche Zeitgenossen, die auf nichts mehr achten, noch nicht einmal auf ihr Gegenüber.

„Im Grunde bin ich dankbar, dass ich kein Gremlin geworden bin, das hätte nicht zu mir gepasst“, denkt er, als er zurück zu seinem Schreibtisch geht. „Als Kasperle kann man nicht verlieren! Ein Kasperle zerstört nichts und das Leben bleibt lustiger, denn die Bösen verraten sich selbst und das Gute siegt, dagegen können selbst der Professor oder der Polizist nichts ausrichten, wenn sie glauben, das Kasperle malträtieren oder verhaften zu müssen.“

Ein Gremlin ist das pure Gegenteil einer Marionette, die nur das macht, was ihre Strippenzieher wollen, die sich übers schlechte Wetter freuen, weil man sie oben in den Wolken nicht erkennen kann. Das ist gut so, vor allem für die Marionette, die ja nicht wissen darf, dass sie an Fäden gezogen wird, sonst würde sie sich umbringen – einfach die Fäden zerschneiden und leblos zu Boden sinken.

Der raumlose Raum

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