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Der Kampf mit dem Ritter

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Zu dritt haben sie ein Kasperletheater gegründet, das heißt, Benjamin, Christian und er. Und heute ist ihr großer Tag. Davon aber wissen sie noch nichts.

Durch die Vorhangschlitze drängt die nicht zu bändigende Sonne in die gespenstische Villenwohnhalle, so dass der kühle Fünfzigerjahreluxus unwirklich in nachtschwarze und gleißendhelle Orte unterteilt ist wie in lauter Himmel und Höllen. Es klopft, rüttelt, quietscht und hämmert und klingt manchmal schief: „Wieder daneben gehauen!“ „Scheiße!“ hört man hier und dort oder: „Autsch, mein Daumen!“

Christian, Benjamin und er sind gerade dabei, ihr Kasperletheater zusammenzuzimmern, was ihnen heute nicht so recht gelingen will, denn sie sind höllisch aufgeregt wegen der Premiere ihres neuen Stückes, da trifft man den Nagel nicht immer auf den Kopf – irgendwie alles schief! Warum ihm sein „schiefer“ Großvater, der Vater seiner Mutter, in den Kopf kommt, er hat keine Ahnung. Außerdem ist man erst fünf, da darf man doch aufgeregt sein.

Seit ein paar Monaten spielen sie auf Geburtstagsfeiern anderen Kindern ihre Geschichten vor, die sie bei ihm im Keller zuhause einstudieren dürfen, „denn sie spielen ja nur“, sagt seine Mutter lächelnd und tut so, als hätte sie keine Ahnung, während sie schon das Schlimmste vermutet.

Schon nach den ersten Vorstellungen sind sie überall eingeladen: „Einmal etwas anderes“, sagen die Eltern. Und Benjamin, der kleinste von ihnen, lispelt dasselbe: „Mal etwas anderes, statt immer nur Topfklopfen, die Reise nach Jerusalem oder Schlagsahne, in welcher Form auch immer“ – zum Lachen komisch und unschlagbar gut imitiert er die Eltern, die sie eingeladen haben, so dass man glaubt, sie vor sich stehen zu sehen. Benjamin hat eine Karriere vor sich.

Der Vorhang geht auf! – Das Kasperle ist allein und erzählt von seiner schlaflosen Nacht. Es geht ihm schlecht, sagt es, sehr schlecht, weil ihn der König und die Königin eingesperrt haben, und das Kasperle nicht weiß, warum? Pausenlos, die ganze Nacht über, hat es nachgedacht, was es wohl ausgefressen hat, aber ihm, dem Kasperle, ist nichts Besonderes eingefallen.

Das Kasperle liegt in seinem Bett und hat Schiss in der Buchs, weil der König oder zumindest die Königin etwas gegen ihn im Schilde führen, das Gefühl hat das Kasperle wenigstens. Denn hoch über ihm, dem Kasperle, turnt der Teufel an der hin und her schwingenden Kinderzimmerlampe und hat zu allem Unglück auch noch die arme Gretel im Würgegriff fest im Arm, die er dem Kasperle gestohlen hat, weil sie die Frau vom Kasperle und sein Liebstes ist, was der Teufel hasst, weil er die Liebe hasst, sonst wäre er nicht der Teufel.

„Die wollen mich fertig machen“, ruft das Kasperle den Kindern zu, wobei es immer wieder aus den Augenwinkeln nach oben schaut und panische Angst bekommt, der Teufel könne jeden Augenblick mit einem tollkühnen Aufschrei des Triumphes nach unten stürzen und die Gretel für immer mit sich in die Hölle hinab reißen. – „Irgendetwas stimmt hier nicht“, denkt das Kasperle, erzählt es aber nicht weiter. Das Stück, in welchem das Kasperle am Anfang so lange im Bett liegen muss, geht mit dem Teufel zu, der auch noch die Gretel in seinen Fängen hat, das ist nicht das Stück, das sie einstudiert haben: „Gut, dass ich nicht schlafe!“, ruft das Kasperle, „und alles mitbekomme, jetzt heißt es wachsam sein!“ „Hilfe!“, rufen die Kinder, weil drüben auf der Kommode ein riesiges Krokodil erscheint! „Hilfe!“, ruft das Kasperle und richtet sich entsetzt auf: „Das Krokodil spielt doch gar nicht mit, keine Ahnung von einem Krokodil!“

Plötzlich reißt das Krokodil seinen ungeheuren Rachen auf und zeigt dem Teufel seine scharfen Hauer. Trotzig, mit einem abfälligen, lang gedehnten „Paahhh“ zwischen den schwarzschwarzen Zähnen hindurch fletscht der Teufel zurück und baumelt ausgelassen weiter mit der Gretel unter der Zimmerdecke an der Lampe, die bei allem Hin und Her in so ekelhaftes Quietschen gerät, dass es den Kindern unten im Zuschauerraum durch Mark und Bein fährt und sie sich die Ohren zuhalten müssen, die Augen offen.

Mit einem Mal lässt der Teufel sich und die Gretel vollkommen überraschend fallen und klemmt, nach einem wilden Aufschrei im Publikum, mit den Kniekehlen wie ein weltbekannter Akrobat kopfüber an einem der Lampenarme und hält die Beine der Gretel in Händen. Höhnischhöllisch lachend lässt er ihren Kopf wie einen fetten Köder immer wieder haarscharf am triefenden Maul des Krokodils links und rechts vorbei fliegen, so dass es dem Krokodil bei aller Kopfdreherei schnell schlecht wird: „Na, du Fresserchen“, ruft der Teufel gemein nach unten, „so beiß doch zu, du kleines Fresserchen.“ Jetzt muss das Kasperle etwas unternehmen, das weiß das Kasperle! Das Krokodil, das ihm offensichtlich helfen wollte, schafft es nicht: Vom vielen Kopfdrehen sitzt es jetzt genickstarr da und schielt vor sich hin, wie Christian, wenn er erregt ist.

Als er aus seinem Bett springen und selber angreifen will, erhebt sich – wie aus dem Nichts heraus – ein wahrer Affentanz hunderter winziger Mickeymausritter um sein Bett herum, so dass dem Kasperle nichts anderes übrig bleibt, als sich sofort wieder ins Bett zu flüchten und sich unter der Decke zu verkriechen. Wie durch Watte hört er die warnenden Rufe vom Seppel, von Christian gespielt, der hinter dem erstarrten Krokodil auf der Kommode aufgetreten ist, um ihn vor einem Ritter zu warnen, der gleich kommen wird. – Ungläubig schaut das Kasperle unter der Decke hervor und glaubt, es hätte sich verhört: „Was für ein Ritter?“, ruft es verdutzt dem Seppel zu, „ein Ritter spielt doch gar nicht mit!“ und kriecht aus seinem Versteck.

Plötzlich rauscht es dem Kasperle eiskalt an der Mütze vorbei. Als es sich umwendet, um zu schauen, was ihm da gerade am Ohr vorbei geflogen ist, sieht es einen böse schillernden Metallparadiesvogel am Himmel gerade eine heftige Steilkurve drehen und als Höllenvogel mit beißend bunt leuchtendem Angriffsschnabel wieder auf sich zu stürzen, währenddessen völlig unangekündigt die Mickeymausritterarmee in gemein geordneter Angriffsformation vom Fußende her heranrückt: „Angriff von oben und unten gleichzeitig, das ist gemein“, schreit das Kasperle verzweifelt, „ich bin im falschen Film, jetzt muss ein Gremlin her!“ Mit mehreren hektischen Sätzen rutscht es ans Kopfende des Bettes und klopft panisch auf das Kissen, nur damit wenigstens ein Nilpferd auftaucht, um es den Mickeymäusen zu zeigen. Nilpferde aber sind im Stück ebenso wenig vorgesehen wie ein Krokodil oder ein Höllenparadiesvogel. Deshalb lassen sie auch auf sich warten, weil sie alle im Zoo ihren Nachmittagsschlaf halten und nicht wissen können, dass wenigstens eines von ihnen andernorts dringend gebraucht wird.

Das Kasperle und er sind verzweifelt: „Wie soll das ausgehen, wenn keine Hilfe kommt?“ Da geschieht ein Wunder! Denn wider alle Erwartung kann sich die Gretel in einem vom Teufel unbeobachteten Moment losreißen: Wild entschlossen, aber böse vom Teufel verhext, fliegt sie mit weit ausgebreiteten Armen auf ihr Kasperle zu, wobei sie den übergroßen Schatten des Riesenvogels, welcher aus der gleichen Richtung niederstürzt, im letzten, alles entscheidenden Moment überholt und ihr Kasperle zur Seite reißt, damit es nicht vom Mörderschnabel des Höllenvogels ins Jenseits befördert wird. Ihm vergehen die Sinne; er wird ohnmächtig. „Angriff von allen Seiten!“, kann er gerade noch rufen. Dann sinkt er in sich zusammen wie eine Marionette, deren Fäden gerissen sind.

Die Gretel fühlt sich kalt an, als er in ihren Armen liegt. So recht geborgen fühlt er sich nicht. Als er endlich aufwacht ist es totenstill. Auch den Kindern unten hat es die Stimme verschlagen.

Dankbar richtet er sich auf und will der Gretel gerade einen dicken Kuss auf die Backe drücken, als ihm der kalte Schreck durch die Glieder fährt. Denn hoch oben über sich sieht er einen schwarz glänzenden Ritterhelm in den Wolken blitzen, und unten sieht er sich in den mächtigen eisernen Pranken des Riesen gefangen.

„Endlich habe ich dich wieder in meinen Armen, mein lieber Kleiner, es ist schon so lange her!“, hört er die donnernde Stimme über sich, von der er sicher ist, sie schon einmal gehört zu haben. Er gibt auf – aus der eisigen Umarmung eines Ritters kann sich selbst ein Kasperle nicht befreien. Plötzlich entdeckt er Christian neben sich, der wie ein todesmutiger Bergsteiger am schier undurchdringlichen Eisenschuppenpanzer des Ritterriesen hinauf an ihm vorbei klettert und in den Wolken verschwindet, während Benjamins Stimme ihm von dort zuruft, jetzt bloß nicht aufzugeben.

Unter dem lauten und schrecklichen Knirschen der Rüstung hebt ihn der Ritter langsam hoch, als wolle er sich vergewissern, auch das richtige Kasperle in Händen zu halten, während er zugleich seinen unmenschlichen Riesenhelm aus dem schwarzen Dunst von oben herab beugt. Dabei kommen ihm Christian und Benjamin ebenfalls entgegen, sitzen sie doch tollkühn auf den glänzenden Schultern des Monsters und rufen ihm aus Leibeskräften ein „Achtung, Achtung, Achtung!“ zu, weil sie ihn vorwarnen wollen, jetzt mit allem zu rechnen!

Schon kann er die rotrot verschleierten Augen des Wahnsinnigen durch die schmalen Schlitze des Ritterhelms glühen sehen, als es seinen Freunden im geeigneten – und wahrscheinlich letzten Augenblick – gelingt, dem Mann, der sich, soweit es sein Panzer erlaubt, herabbeugt, den mondgroßen Ritterhelm von den mächtigen Schultern zu stemmen. Wie ein böser Drache rutscht er vom Kopf des Riesen und stürzt als eisiger Meteorit einen tödlichen Schweif hinter sich herziehend, mit entsetzlichem Pfeifen und Schwirren haarscharf an seinem kleinen Köper vorbei in die Tiefe, wo er schließlich gleichsam zeitlupenartig zerschellt und mit Furcht erregendem Getöse explodiert.

Als er sich neugierig wieder nach oben wendet, weil er wissen will, wer sein Ritter ist, kann er gerade noch das blau aufgedunsene Gesicht seines „schiefen“ Großvaters erkennen, der wie eine Eisengliederpuppe mit ohrenbetäubend lautem Krachen und Donnern in sich zusammenstürzt.

In all dem Lärm, den der kollabierende Ritter veranstaltet, vermeint er noch die röchelnde Stimme des Vaters seiner Mutter zu vernehmen, der ihm sterbensenttäuscht zuruft, dass es eine Schande sei, hinterrücks ein Kasperle anstelle des niedlichen Teddybär geworden zu sein und der Mutter das Schlimmste nicht erspart zu haben: „Zwei tote Kinder und das dritte kommt ihr abhanden, das überlebt meine Tochter nicht“, kann er den Ritter jetzt deutlich hören, ehe die Gläser in den Vitrinen platzen und die Fenster bersten. Dann sieht er nur noch grauen Dampf.

Endlich fällt der Vorhang. Nach Atem ringend und vollkommen erschöpft sitzen alle drei, Christian, Benjamin und er auf dem Boden in den Ruinen ihres Kasperletheaters: „Mein Großvater“, entfährt es ihm nach langer Zeit, immer noch atemlos und außer sich,

„das hätte ich nie vermutet, er wollte doch immer nur mein Bestes, wenigstens hat das Mutter immer behauptet!“ – „Glück gehabt!“, ruft Benjamin und beginnt vor Glück zu weinen. „Wir haben es geschafft! Gemeinsam haben wir deinen Ritter besiegt, jetzt kannst du aufatmen!“, sagt Christian und umarmt ihn.

Der raumlose Raum

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