Читать книгу Der raumlose Raum - Peter Mussbach - Страница 7

Im Kinderzimmer

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„Träumt sie etwa von einem anderen, einem ungeahnten Leben?“ Er denkt an seine Mutter. „Vater will ein anderes“, glaubt er, ist sich aber nicht sicher. Sein Kopf kreiselt. „Meine Eltern?“ – er ist verwechselt worden!

Als die Gedanken endlich in seinen Gefühlen versinken, fühlt er sich ganz unvermittelt eigentümlich beschwingt. Die angenehme Dunkelheit, welche sich in seinem Zimmer vor ihm ausbreitet, belebt der Lichtscheinhauch einer fernen Straßenlaterne, welche draußen in den vom Nachtwind leise bewegten Zweigen vor sich hin schaukelt. In sanft schimmernder Wellenbewegung spielt der Raum mit seinen Proportionen und Konturen, eröffnet ihm raumlose Landschaften, die in zartem Wechsel beinahe unmerklich ihren Charakter verändern: Nähe und Ferne paaren sich, drinnen ist draußen und draußen drinnen. Er macht sich auf den Weg; dorthin will er.

Er hat noch nicht ein paar Schritte getan, als er hinter sich die bramarbasierende Stimme seines Großvaters hört, der, als er sich erschrocken umwendet, in der jetzt weit geöffneten Zimmertüre aufragt und mit ausfahrenden Gesten ihm von wilden Jagden berichtet. „Merkwürdig“, denkt er, „was macht mein ‚schiefer' Großvater hier?“ – Hat seine Mutter ihm ihren Vater nachgeschickt, um ihn zurückzuhalten?

Der Großvater erzählt ihm von seinen Kasperlepuppen, die ihm den Schlaf geraubt hätten: Selbst er, der Großvater, hätte es zunächst für unmöglich gehalten, so entfährt es dem aufgebrachten Alten mit schwerem Atem, aber die Gretel und der Teufel hätten an der weit ausschwingenden Lampe gehangen und sich über ihn – den Witwer da unten allein im Bett – lustig gemacht und dabei auch noch demonstrativ wild Zärtlichkeiten ausgetauscht, so dass die Lampe beinahe aus ihrer Verankerung gerissen und ihm auf den Kopf geflogen wäre. Wenn, Gott sei Dank, nicht im letzten Augenblick das Krokodil gekommen wäre und von der Kommode aus warnende, ja flehende Zeichen nach oben zu Gretel und Teufel und Himmel hin gemacht hätte, um das Allerschlimmste zu verhüten. Als plötzlich, für ihn vollkommen überraschend, um sein Bett herum ein wahrer Veitstanz verrückt kostümierter Affen losgegangen wäre, die ihn daran hätten hindern wollen, das Bett fluchtartig zu verlassen, was doch die letzte Möglichkeit gewesen wäre, dem Inferno zu entkommen. In Panik habe er sich aufgerichtet, mit buchstäblich zu Berge stehenden Haaren, als er mit einem Male den Paradiesvogel auf sich herabstürzen sah. Dessen mörderischer Attacke habe er zwar mit einem verzweifelten Satz zur Seite gerade noch ausweichen können. Aber dann – mit gefrorenem Blut in gefrorenen Adern – sei er in seinem Bett erstarrt, weil eine Armee aus Mickeymausfiguren in Ritterrüstungen vom Fußende des Bettes gespenstisch mechanisch über die Bettdecke gegen ihn vorgerückt kam und ihn dazu gezwungen habe, sich mit unbeholfenen Sätzen ans Kopfende seines Bettes zurückzuziehen, wobei er sich, nicht nur als Großvater, lächerlich vorgekommen sei, weil er beinahe sein Gesicht verloren hätte. Denn unter seinem völlig zerwühlten Kopfkissen heimtückisch versteckt, habe ein Nilpferd auf ihn gewartet, um ihm, dem Großvater, einen halben Todesstoß zu versetzen und ihn mit seinen wilden Hauern in den Hintern zu beißen. Vor Schmerz habe er aufgeheult, was die Gretel augenblicklich mitleidsvoll dazu veranlasste, sich den anzüglichen Fängen des Teufels zu entreißen, um sich – im freien Fall von der Lampe wie eine weltberühmte Akrobatin – nach unten in seine Arme zu werfen. Sofort habe die Gretel angefangen, herzzerreißend zu weinen, um urplötzlich und vollkommen überraschend, ekstatisch aufzulachen und ihn so inbrünstig an die Brust zu nehmen, wie er, der Großvater, es in seinem ganzen langen Leben von keiner Frau je hätte sich erträumen dürfen.

Der raumlose Raum

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