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Riesenrad

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Es nieselt und trotzdem herrscht Hochstimmung. Er ist gerade mal vier Jahre alt und hat seine „Alleinstadtexpeditionen“ noch eine (lange) Weile vor sich – er hat noch keine Ahnung, was das Wort überhaupt bedeutet: Alleinstadtexpedition.

Für Anfang Oktober – warms in Obernbayern beim Altweibersommer – ist es noch angenehm lau draußen. Alles drängt auf den Marktplatz, weil dort Kirchweih ist und die Altstadt tanzt. Selbst die älteren Häuser halten mit.

Ruckartig fällt das Getriebe des Riesenrads seinem Treibriemen in die Arme und los geht's: „Am liebsten immer, immer nur Riesenrad, immer wieder“, spuckt er aufgeregt in die kleine bunte Gondel, die eigentlich zu einer Barocktheatermaschine gehört, wie Tante Emmi ihm erklärt, aus der sie von einem lustigen Riesen herausgeschraubt und mit vielen anderen ihresgleichen zu einem Riesenrad zusammenmontiert wurde. Jetzt wirbeln die aufgeregten Gondelhäuschen wunderlich blinkend im aufrechtem Bogen durch die Luft und alle Mitfliegenden, die sich krampfhaft festhalten, damit sie nicht hinaus in den Himmel geschleudert werden, quietschen und johlen, weil sie vor lauter Bauchkitzeln Pusteln kriegen und rasch jede Orientierung verlieren und ins Ungewisse fortgerissen werden, als sei das Ganze eine einzige, nie enden wollende Reise ins Nirgendwohin.

Wahnsinn im vertikalen Taumel: Start nach oben in die Wolken, aberwitziger Flug über Dächer und sich rasch entfernende, staunend offene Mäuler drunten, freier Fall, der einem den Atem nimmt, so dass im Bauch Mücken und Schwalben tanzen, und dann, wie bei der versuchten Landung eines großen Vogels, eines Storchs zum Beispiel, sofort wieder nach oben, in einen offenen heiteren Himmel, als wäre der Landeplatz für den Riesenvogel doch nicht der richtige gewesen.

Wenn jetzt noch das Riesenrad zu einem riesigen Rad würde, könnte man im süßesten Taumel über die Welt rollen, in wunderbaren Schleifen auf und nieder torkeln und infolge der tollen Dreherei bis übers Gebirge kommen, aus purer Lust über alle schroff hochragenden Gipfel hinweg, wie mit Siebenmeilenstiefeln andere Länder besuchen, ohne sich die Sohlen aufzureißen.

„Jedes Glück hat einmal ein Ende“, brüllt ihn seine Mutter entnervt an. Sie ist erschöpft und ihr ist übel. Außerdem möchte sie nicht so weit weg. Andere Länder sagen ihr sowieso nichts, Italien vielleicht, aber dann nur im Bikini! – „Schluss jetzt!“, ruft sie mit blassem Gesicht und zerrt ihn schon nach dem dritten Mal Taumelvertikale aus dem Riesenrad, woraufhin er in einen Schreiwutanfall verfällt, weil sie gerade schon Obernbayern hinter sich gelassen haben und in fremde geheimnisvolle Landschaften vorgedrungen sind. „Immer zurück und ewig dableiben“, schleudert er seiner Mutter ins Gesicht. „Nach Hause jetzt“, kreischt sie zurück, „jetzt reicht es mir mit dir!“

Bei dem Gezeter bleiben unwillkürlich manche der drängelnden Kirchweihgänger stehen und blaffen seine Mutter an, „dass man mit kleinen Kindern nicht so umgehen darf“, was ihre Explosion zur Folge hat: Sie verpasst ihm eine saftige Ohrfeige, dass die Nase blutet, und fordert wutentbrannt die Besserwisser dazu auf, „ihre Nasen nicht in fremder Leute Angelegenheiten zu stecken!“

Als er mit seiner rotroten Nase dasteht wie ein trauriger Clown und die Welt nicht mehr versteht, die ihm verbieten will, mindestens zehn Mal Riesenrad zu fahren, weil es ihm gut tut – viel besser zum Beispiel, als mit seiner Mutter Kirschkuchenessen zu üben wie in England, nur weil sie gerade in der Zeitschrift Andere Länder Andere Sitten davon gelesen hat, dass man dort den Kuchen mit Messer und Gabel verspeist – wird ihm wieder einmal klar, dass mit seiner Mutter nicht gut Kirschen essen ist.

Morgen wird er es alleine versuchen, dann fährt er hundert Mal Riesenrad und kann nicht mehr zurückkommen, weil er schon viel zu weit davon gerollt ist, um den Weg nach Hause noch finden zu können.

Der raumlose Raum

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