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LA LIBERTÉ 1

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„Sie haben den Punkt getroffen Mrs Craft, es gibt nur diese zwei Möglichkeiten. Entweder wir reißen das Steuer herum und kriegen die Dinge wieder in den Griff oder wir müssen weg, zu einem anderen Planeten, so einfach ist das. Stephen Hawking gibt uns noch 200 Jahre. Bis dahin sollten wir die notwendigen Technologien entwickelt haben, um für den Ernstfall gerüstet zu sein.“

„An dieser Technologie wird schon gearbeitet, Mr Sueton?“

„Davon können Sie ausgehen! Alles andere wäre fahrlässig, denn die Zukunft des Menschen liegt im Weltraum. Das sich rasant beschleunigende Wachstum der Weltbevölkerung, die begrenzten und zur Neige gehenden Ressourcen, die Wasserknappheit und nicht zuletzt der Klimawandel werden für uns alle zur Bedrohung. Und es wird schwierig, das Überleben des Superorganismus Mensch die nächsten hundert Jahre sicherzustellen, geschweige denn die nächsten tausend, da hat Hawking völlig recht.“

„Muss man so pessimistisch sein?“

„Was heißt pessimistisch, im Augenblick sieht es doch nicht gerade rosig aus auf unserem Planeten! Das hat nichts mit dem allgemeinen Geschwätz vom Weltuntergang zu tun. Wenn ich nur an den Irrsinn mit dem Mayakalender denke, wird mir schlecht. Der 21. Dezember 2012 liegt hinter uns, und siehe da, wir leben noch, nichts ist passiert. Die Leute hätten sich besser mit anderem beschäftigt, als in die Keller ihrer Villen Bunker einzubauen, Wasser zu horten und Fresspakete für ein paar Jahre zu kaufen, um dem Weltende zu entkommen. Es gab ja schon eine regelrechte Apokalypse-Industrie. Renommierte Wissenschaftler haben schon lange vorher gegen diese Spintisiererei gewettert, denn der Kalender der Mayas endet nicht 2012, ganz im Gegenteil. Er sagt eine neue Ära voraus, er kündigt das Erscheinen eines Gottes und nicht die Ankunft der Engel der Offenbarung an. Aber egal, die Welt ist in Angst gefangen, und manche glauben, ihr letztes Stündlein hätte geschlagen. Etliche meiner Kollegen schüren diesen Psychoterror noch und behaupten, der Zug sei längst abgefahren, und provozieren diese kruden Fantasien.“

„Sie machen da nicht mit?“

„Ich halte das für völlig übertrieben. Denn noch können wir reagieren. Schauen Sie sich die leidige Klimadiskussion an: Ob der Klimawandel nun vom Menschen verursacht ist oder nicht, ist doch vollkommen einerlei – es wird wärmer und der Mensch heizt mit an. Das ist alles. Er könnte dagegenhalten, indem er die ständig wachsende CO2-Emission endlich reduziert. Aber nein, er erfindet sich den sogenannten Emissionshandel, um ein ruhiges Gewissen zu bewahren, macht weiter wie bisher und setzt auf Wachstum um jeden Preis.“

„Was schlagen Sie vor?“

„Manche Thinktanks propagieren eine Weltregierung, den Zusammenschluss aller Völker dieser Erde, repräsentiert von wirklichen Experten und nicht von politischen Schwachköpfen. Im Augenblick aber bewegen wir uns in die entgegengesetzte Richtung. Die Welt bricht auseinander und droht im ökonomischen Chaos zu versinken oder von Glaubenskriegen zerrieben zu werden. Der internationale Terrorismus hält uns in Atem, die Kluft zwischen Okzident und Orient wächst. Dieses Phänomen nennt man heute übrigens ‚asymetrische Kriegsführung‘, als gäbe es die nicht schon seit der Antike. Uns droht ein neues Mittelalter.“

„Ein neues Mittelalter? Wir leben doch in Zeiten der Globalisierung – die Welt wächst zusammen, ob sie will oder nicht.“

„Die einzigen, welche die Globalisierung wirklich geschafft haben, sind die Finanzhaie und ihre Programme der Hochfrequenz. Und diese Borderline-Typen repräsentieren den wahren Terrorismus, der die Staaten kaltblütig erwischt, sie in ihren Grundfesten erschüttert, und damit das Wiedererstarken des Nationalismus und der Ultrarechten provoziert. Nein, die Welt fällt auseinander, eine Weltregierung wird es nicht geben, eine global offene Gesellschaft, die friedlich das Erdenrund bevölkert, wie sie sich manche Philosophen erträumt haben. Wie sollte das gelingen? Eine schöne Idee, aber doch eher was fürs Kinderbuch!“

„Und die Rolle der Demokratie, Mr Sueton, unterschätzen Sie nicht deren Potential?“

„Die westliche Demokratie steckt in einer fundamentalen Krise, die wir unbedingt im Auge behalten müssen. Dieses System ist in die Jahre gekommen, es ist schwerfällig und träge geworden, und angesichts der Probleme, die den Globus erschüttern, nachgerade hilflos und völlig ineffizient in seiner Reaktionsfähigkeit. Der Politiker denkt vom Frühstück bis zum Mittagsessen; er zerredet die Dinge, weil er die Orientierung und Kompetenz verloren hat, trägt die Maske der Professionalität, ist aber faktisch nur am Machterhalt interessiert und selbstverständlich am Profit. Daher die allgemeine Korruption! Der öffentliche Raum zerfällt in diffuse Freiheitschimären und die Leute versuchen im Internet zu überwintern. Nichts hat mehr Bedeutung oder gar Bestand. Rette sich, wer kann, lautet die Devise. Früher waren die Menschen zwanghaft und dem Staat untertan, der ‚autoritäre Charakter‘ dominierte. Heute sind sie eher psychotisch, jawohl, sie jagen besinnungslos hinter jedem medialen Lebensangebot her und vergessen dabei das Eigene, das an ihnen vorüberzieht. Wir haben eine Gesellschaft von Irren, die sich unters Solarium und in Beautyfarmen flüchten, auf den Laufbändern ins Nichts hetzen und sich Schamlippen und Penisse korrigieren lassen. Oder die Brüste wegoperieren, wenn sie ein Krebsgen haben. Aber das Schlimmste von allem ist: Solche Konsumroboter lassen sich perfekt kontrollieren, aus dem System der Demokratie ist ein subtiler Überwachungsstaat geworden – das Leben verkümmert im Reglement.“

„Und andere Staatsformen?

„Nun ja, da wird’s komplizierter.“

„Wie meinen Sie das?“

„Autokratie und Oligarchie sind doch verpönt, wenigstens im Westen.“

„Ja und?“

„Diese Systeme nennen wir Diktaturen, und solche hatten wir im letzten Jahrhundert ja genug, um es mal sarkastisch zu sagen. Sie führten in den Untergang, ins absolute Desaster. Heute aber betrachten manche das Phänomen mit ganz anderen Augen: Länder wie China, Singapur oder Teile Südamerikas werden vom Westen nachgerade beneidet. Denn autokratisch regierte Gesellschaften sind wesentlich flexibler und erscheinen angesichts der globalen Vermassung adäquatere und potentere Gesellschaftsordnungen zu sein. Das hat mit Kommunismus nun wirklich nicht mehr viel zu tun, auch wenn sich die chinesische Führung noch so nennt.“

„Probleme über Probleme, die Sie da schildern, Mr Sueton! Man hat das Gefühl, dass wir vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen ...“

„Wir erleben gerade den globalen Umbruch der menschlichen Kognition, also die Veränderung von Wahrnehmung, Informationsverarbeitung, Emotion und Handeln, Sprache, Kreativität, Lernen, Gedächtnis, Urteilen und Bewerten. Die Konsequenzen dieser stummen, ja scheinbar unbewussten Revolution werden völlig unterschätzt, denn der Mensch verliert seine soziale Kompetenz und im besten Sinne des Wortes seine Gesellschaftsfähigkeit. Aus dem steinzeitlichen Jäger und Sammler ist eine einsame autistische Monade geworden und der soziale Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält, wird brüchig. Darauf gilt es zu reagieren, sonst droht der Kollaps des sozialen Miteinanders …“

„Stell endlich das Gerede ab, Frederik, diese Stimme macht mich verrückt, so was von penetrant.“

„Ist doch interessant.“

„Das mag alles ganz richtig sein, aber immer derselbe Singsang, nur vom Gezwitscher der Moderatoren-Tussi unterbrochen, da kriegt man ja Kopfschmerzen!“

Patrik drückte wütend die Austaste des Radios und starrte missmutig auf den Highway. Er war ziemlich groggy, sein Gesicht angespannt und aschfahl.

„Für dich sind das vielleicht olle Kamellen. Aber die Tatsache, dass die am interstellaren Raumflug arbeiten war mir neu! Wohl zu einem geeigneten Exoplaneten, oder wie?“

„Wie soll denn das funktionieren, da stirbst du doch, bevor du angekommen bist. Außerdem kriegt man es im Weltall automatisch mit Aliens zu tun, auch davor warnt Hawking. Ich hab seine Interviews gelesen. Wenn die auf die Erde kämen, könnten wir einpacken, hat er gesagt. Dann erginge es uns so wie den Ureinwohnern Amerikas bei der Ankunft von Columbus. Seitdem sind die Indianer praktisch ausgerottet oder überleben als Mestizen.“

„Mal halblang“, unterbrach Frederik. „Aber wie siehst du denn die Dinge? Als Hacker hast du doch eine ziemlich rigide Haltung, oder?“

„Mit dir werd ich mich auf politische Debatten einlassen, nein, nein, das lass ich lieber! Aber passieren wird was, irgendwas liegt in der Luft – oder besser unter der Erde. Schau dir mal einen Supervulkan an wie den im Yellowstone-Park. Früher dachte man, es dauert Jahrtausende, bis der wieder explodiert. Doch jetzt weiß man, dass es manchmal nur zehn Jahre dauert, bis das Magma in der Tiefe zusammenströmt und urplötzlich so viel Druck erzeugt, dass der Laden in die Luft fliegt. Du siehst, manchmal geht’s viel schneller, als man glaubt.“

„Wie auch immer, Junge ... The Truth ist ein richtig klasse Sender. Er ist das Gegenteil von CNN oder BBC World, denn er kämpft gegen die allgemeine Verblödung an und schenkt den Leuten reinen Wein ein, Aufklärung statt Verschleierung, er legt Zusammenhänge offen, präzise und nachvollziehbar, er bringt Bewegung in die festgefahrenen Verhältnisse und weckt die Leute auf. Kein Wunder, dass er von allen Seiten bekämpft wird. Aber keiner kommt an den Konzern so richtig ran. Die Journalisten haben wirklich Zivilcourage, das muss man ihnen lassen.“

„Der Sender ist okay, er arbeitet ja auch mit Al Jazeera zusammen und hatte seine Hände offenkundig im Arabischen Frühling mit drin. Wer da wohl dahinter steckt? Es ist ein Rätsel. Man kriegt nichts raus. Eine amerikanische Lady soll involviert sein, interessant, oder?“

Patrik schaute einen Moment zu Frederik, der ein Pokerface aufgesetzt hatte und pseudointeressiert durchs Fenster in die verschneite Landschaft sah – Lynn würde ihn umbringen, wenn er quatschte.

„Ist doch interessant, oder?“, wiederholte Patrik. „Ein so gigantisches Unternehmen und keiner weiß, wer es leitet und finanziert. Die Leader müssen ziemlich clever sein und perfekt im Undercover. Respekt!“

„In The Truth bin ich schon mehrfach aufgetreten, für karitative Projekte ohne Gage im TV und Livestream im Internet. Für Haiti hab ich nach dem Wahnsinnserdbeben ein Open-Air-Konzert gespielt, mitten in Port-au-Prince auf einem großen Platz, ich allein am Klavier. Die Veranstaltung wurde weltweit übertragen und die Spendengelder sprudelten. Während des Konzerts gab es Videos von Erdbebenopfern zu sehen, die noch kurz vor ihrem Tod ihr Mobile auf das Hochhaus hielten, das gleich darauf über ihnen zusammenbrach und sie zermalmte, unglaubliche Bilder.“ Patrik explodierte. „Hör auf, du nervst. Warum lässt du dich auf so was bloß ein? Die Leute ticken doch nicht richtig, die sich zu Hause einen derartigen Sozialkitsch reinziehen – und diejenigen, die aus lauter Sensationsgeilheit einen solchen Irrsinn produzieren, erst recht nicht, denen müsste man das Handwerk legen!“

Patrik hatte verdammt miese Laune: Er war todmüde, gleichzeitig völlig überdreht und fühlte sich schlichtweg beschissen. Auch der Highway nervte, immer stur geradeaus durch endloses Flachland, das unter knietiefem Schnee jegliche Kontur verloren hatte. Gerade waren ihm für einen Moment die Augen am Steuer zugefallen. Aber die Gedanken, die ihm panikartig durch den Kopf schossen und sein Adrenalin befeuerten wie Salven aus Maschinengewehren, hatten ihn sofort wieder hellwach gemacht. Seine Hände umkrampften das Lenkrad und die blonden Haare waren unter einer schwarzen Baseballkappe versteckt, als wolle er nicht erkannt werden.

Letzte Nacht hatte er kein Auge zugemacht. Wie auch? Der Angriff auf seinen Computer hatte ihn in hellen Aufruhr versetzt. Erst hatte er noch Frederik vom Boden hochgezogen und auf die Couch gehievt, auf der er sofort eingeschlafen war. Dann war er in den Keller geeilt und hatte stundenlang seine Anlagen durchgecheckt, aber solange er seine Programme auch analysierte, er hatte keinerlei Hinweis für eine Infektion, keinerlei Malware, weder Virus noch Trojaner, gefunden. An dem Pinnwand-Code und der http-Adresse, an der er sich abgearbeitet hatte, lag es also nicht. Über die war keiner in seine Maschinen eingedrungen. Dann hatte er sicherheitshalber Frederiks Mobile noch mal auf Schadstoffsoftware hin überprüft, so wie es vor ein paar Stunden seine Sicherheitssysteme per Infrarot schon mal gemacht hatten, und wiederum nichts Auffälliges gefunden. Das Mobile war es also auch nicht. Und trotzdem, da steckte jemand in seinem Computer und trieb ein böses Spiel mit ihm: Völlig unerwartet tauchte immer wieder Einsteins Foto mit der herausgestreckten Zunge auf seinen Monitoren auf, legte die Maschine lahm und machte sich über ihn lustig.

Wie nur hatte er sich dieses verdammte Affentheater eingehandelt? Patrik stockte – die einzige Erklärung, die blieb, war nah des Fantastischen: Da musste sich jemand direkt in den Infrarot-Sendevorgang zwischen Mobile und Computer eingeklinkt haben und zwar so, als hätte er sich auf ein Brett geschwungen und wäre mir nichts dir nichts über die Infrarotwellen in seinen Computer gesurft. Patrik lachte laut auf und schüttelte den Kopf. Er hatte schlichtweg keine Ahnung, wer dieses irre Spiel mit ihm trieb. Womöglich noch das FBI. Dann konnte er einpacken. Die hatten ja erst vor ein paar Monaten einige seiner Kollegen eingesackt. Waren plötzlich an deren Tür erschienen und hatten sie zu lebenslänglichem Kittchen abgeführt. Was war ihm übrig geblieben, als die Flucht nach vorn anzutreten. Ihm, dem Rooter von Anonymous, dem man ganz offensichtlich auf die Spur gekommen war. Was, bitte, blieb ihm anderes übrig, als mit dem Ausgeflippten neben ihm auf dem Beifahrersatz zu diesem verfluchten Internat zu fahren, wenn er herausfinden wollte, wer ihn da so foppte und herausforderte.

„Bist schlecht drauf, Patrik! Wegen mir muss die Reise nicht sein, wirklich nicht, stell dir vor, wir hätten uns nie getroffen, dann würdest du jetzt gemütlich in deinem Keller sitzen und ungestört deiner Arbeit nachgehen, statt zu diesem bescheuerten Internat zu gurken. Aber wie auch immer, du hast gedrängt und willst dahin, ich nicht! Und noch eins: dass La Liberté eine Dependance in Virginia hat, das wüsste ich, glaub mir. Hast du Superprofi eigentlich schon mal dran gedacht, dass sie deinen Computer manipulieren und dir weismachen wollen, dass dort des Rätsels Lösung liegt? Vielleicht wollen die uns ja nur von New York weglocken?“

„So, da vorne fahren wir jetzt links ab, mir reicht’s auf der Asphaltgeraden. Ich brauch jetzt Abwechslung, sonst penn ich noch am Steuer ein. Wir fahren nach Front Royal und von dort aus rechts in die Appalachen, in die Blue Ridge Mountains, dann Richtung Süden durch die Berge zum Shenandoah-Nationalpark, da muss deine Klitsche ja liegen, hübsch im Verborgenen. Also auf zum Blue Ridge Parkway und zum Skyline Drive!“

„Skyline Drive?“

„Sagte ich doch. Da gibt es einen Weitblick über die Berge, du wirst sehen! Hab vorhin gegoogelt, Wahnsinnsbilder!“

„Und warum sollen das blaue Berge sein?“, fragte Frederik und schlug Patrik aufmunternd auf die Schulter.

„Die sind manchmal so tief blau wie in einer Polarnacht der Arktis. Sieht irre aus, total unwirklich. Aber ich glaub, das Wetter spielt nicht mit, da oben, siehst du, da braut sich was zusammen.“

„Willst du da etwa hoch?“

„Front Royal, da ist ja schon das Ausfahrtschild!“

Der Schrei

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