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„Um Gottes Willen!“

Nathalie Miller warf ihre Hände in die Luft und starrte mit aufgerissenen Augen zum Helikopter, der gerade mit einem riskanten Manöver auf dem weißen H des Landeplatzes aufgesetzt hatte, von dem im heftigen Schneesturm nur noch der Querstrich als überdimensionales Minuszeichens übrig geblieben war. Sobald der Rettungshubschrauber sicheren Bodenkontakt hatte, sprang Frederik mit einem Satz aus der Maschine, strauchelte und landete bäuchlings im Schnee. Da verlor sie endgültig die Fassung.

„Um Gottes willen, Frederik …!“, rief sie ihrem Mann nach, aber Miller, der seinem Sohn entgegeneilte, konnte sie im dumpfen Donnern der Rotorblätter nicht hören.

Ein gewaltiges Unwetter war urplötzlich über die Landschaft hereingebrochen und hatte den Vollmond verschluckt – für Nathalie ein untrügliches Zeichen, das das zweite Gesicht bestätigte. Und als sie dann zum Telefonhörer griff und ihr mitgeteilt wurde, dass Frederik tatsächlich verunglückt sei, nahm sie diese Nachricht so gefasst entgegen, dass Miller ein Schauder über den Rücken lief. „Ich wusste es!“, hatte sie nur gesagt und ihn angesehen, als existiere er nicht.

Die großen Fluter, die den Landeplatz umstanden, strahlten ohne Effekt in den stockfinsteren Himmel und ließen – trotz zusammengekniffener Augen – nichts als weißes wirres Flimmern vor schwarzem Hintergrund erkennen. In ihren Pelzmantel mit hochgeschlagenem Kragen gehüllt, hielt sich Nathalie schützend die Hände vor den Mund und starrte zu ihrem Sohn, dem sein Vater umständlich aufhalf. Unter ihrem Mantel wehte das überlange Seidenkleid hervor und provozierte den Eindruck, sie schwebe über der Schneelandschaft, wo sie doch tatsächlich mit Stöckelschuhen im tiefen Schnee stakte, die sie bei all der Aufregung vergessen hatte, gegen festes Schuhwerk einzutauschen.

Mit einem Mal riss sich Frederik von seinem Vater los und rutschte die letzten Meter seiner Mutter in die Arme.

„Schön, dich zu sehen!“, raunte er ihr ins Ohr. Und sie, der Tränen übers Gesicht rannen, schien alles um sich herum vergessen zu haben.

„Nun los, hoch ins Haus“, schrie Miller. „Nathalie wird sich noch den Tod holen!“

„Ja, ja doch“, konterte Frederik, „wir gehen ja schon!“

„Ach, da sind Sie ja endlich. Doktor …?“

„Rank“, sagte der Notarzt, der in die Runde getreten war.

„Gehen Sie mit Nathalie schon mal voraus, Rank, ich

folge mit Frederik“, befahl Miller und stieß Rank Richtung Aufgang zum Chalet.

„Okay Sir … übrigens, die Landung wäre beinahe schief gegangen, haarscharf an der Katastrophe vorbei. Wie Sie für diesen Landeplatz überhaupt eine Genehmigung bekommen haben, ist mir ein Rätsel.“

„Ihrem Sohn ist nichts passiert, Mrs Miller“, sagte Rank, der sich bei ihr untergehakt hatte und sie mit Bedacht die schneeverwehten Stufen vom Landeplatz hoch zum Chalet zurückführte. Nathalie, die wortlos neben ihm herging, wirkte gelöster, ja entspannter und nahm eine um die andere Stufe zügiger und sicherer. „Er hat wirklich Massel gehabt, keinerlei Verletzungen, scheint alles okay soweit“, beruhigte sie der Arzt.

„Und seine Hände … was ist mit seinen Händen?“ Nathalie blieb stehen und drehte sich zu Frederik um, der in einiger Entfernung hinter ihr mit Miller die breiten Treppen hoch stapfte und seine Hände salopp in den Anoraktaschen stecken hatte. „Mit seinen Händen ist alles in Ordnung, keine Bange.“

„Also, das wär’s, Rank!“

Sichtlich erleichtert lachte Miller so penetrant auf, dass unangenehme Schlagechos durch die weite Vorhalle hin und her sausten. Rank kratzte sich irritiert am Ohr und verabschiedete sich. Aber Miller hielt ihn am Ärmel zurück und begann zu flüstern: „Sagen Sie, hat Frederik irgendwas gesagt? Hat er erzählt, was passiert ist und vor allem wie?“

„Nein. Der Unfall muss ziemlich heftig gewesen sein, das Snowmobile war nur mehr ein Schrotthaufen, aber ihm ist nichts passiert, er war voll da, als wir ihn gefunden haben, Sir, aber erzählt hat er nichts. Nichts Wichtiges jedenfalls. Er hat nur rumgealbert und wollte ganz einfach nach Hause, schließlich sei Weihnachten, hat er gesagt. Er hat eine Gehirnerschütterung und eine transitorische Amnesie. Also erst mal Ruhe, passen Sie auf ihn auf. Sollte sich sein Zustand verschlechtern, rufen Sie an.“

„Willst du noch Tee, Darling?“

„Ja, mit viel Rum, Nathalie, nur nicht so sparsam wie gerade!“

Frederik fläzte sich auf einer großen weichen Couch neben seiner Mutter und schaute abwesend durch die Glasfront auf die illuminierte Bergwelt, in der sich das Unwetter so schnell wieder verzogen hatte, wie es gekommen war. Jetzt schneite es nur noch wenige dicke Flocken und die schroffen Bergzüge, die im Mondlicht schwebten, machten Nathalie Angst, als sie Frederiks Blick folgte. Aber sie vermied es über ihr zweites Gesicht auch nur ein Sterbenswort zu verlieren, atmete stattdessen tief ein, begann sofort zu husten und unterdrückte die bellenden Atemstöße mit ihrem Taschentuch, das sie fest auf die zusammengepressten Lippen drückte.

„Die Lungenentzündung hat dir ganz schön zugesetzt, aber man darf ja nichts sagen“, übertönte Frederik die Szene, strich sich kopfschüttelnd die langen schwarzen Haare aus seinem markanten Gesicht, räusperte sich wie angesteckt, nahm einen großen Schluck von seinem Tee und ließ sich in die Kissen zurücksinken.

„Lach nicht, wenn ich das jetzt sage, Nathalie, aber wie wär’s, wenn wir mal gemeinsam ein Konzert geben würden, das wär doch megageil, oder?“

„Wie kommst du denn darauf, habt ihr euch etwa abgesprochen? Genau das hat Marc auch vorgeschlagen, als du unterwegs warst.“

„Weiß gar nicht, was da oben passiert ist, hab einen totalen Filmriss … was hast du, Nathalie? Du bist ja plötzlich ganz bleich.“

„Lass mich einen Augenblick! … Was hast du da gerade gesagt? Das ist wirklich unheimlich!“

„Was ist los mit dir?“

„Das Ganze ist eine Schnapsidee, zu der ihr euch offenbar heimlich verabredet habt, dein Vater und du. ‚Weltstar Frederik mit seiner Mutter am Bein!‘ Nein wirklich, ich seh schon die Headlines vor mir.“

Nathalie lachte gekünstelt auf, strich mit den Fingerspitzen über den Seidenstoff ihres Abendkleids, als seien da Falten, zupfte es wie beiläufig etwas über die Schulter und ließ ihren Blick zu Boden sinken – vom Saum bis zu den Knien war das Kleid völlig verschmutzt. Das Schneewasser war zwar getrocknet, hatte aber graue Schlieren und hässliche Flecken hinterlassen.

„Ich glaube, ein solches Comeback sollten wir vergessen, mein Lieber. Ich werde mich doch nicht lächerlich machen. Außerdem hast du im Augenblick ohnehin viel zu viel um die Ohren. Wenn ich an dein erstes sogenanntes Doppelkonzert denke … du am Klavier und an der Stradivari gleichzeitig, einmal live, einmal als Hologramm, ob das nicht doch zu viel Technik wird? Ich kann mir das nicht so richtig vorstellen, aber Lynn meint, die Performance wird exorbitant, so wenigstens hat sie sich am Telefon ausgedrückt …“

„Nein, nein, Jack, das kannst du ihm alles gleich selber sagen, einen Moment, ich geb ihn dir …“

Mit mächtigen Schritten kam Miller durch die Wohnhalle und ging mit ernster Miene zu Frederik und Nathalie. „Ja du kannst dir vorstellen, wie erleichtert wir alle sind. Was? Du willst ihn sofort sehen, wie soll das denn bitte gehen?“

Miller blieb stehen und blickte sorgenvoll zu seinem Sohn.

„Nein, nein, soweit alles in Ordnung im Augenblick. Glaub mir, du musst dir wirklich keine Sorgen machen, er liegt neben Nathalie auf dem Sofa und trinkt schon wieder Rum aus Teetassen. So, jetzt geb ich ihn dir, ich skype dich inzwischen an, dann können wir alle gemeinsam noch ein bisschen plaudern. Nathalie wird staunen. Ist meine Weihnachtsüberraschung.“

Voller Vergnügen reichte Miller seinem Sohn das Mobile und ging zu einem in die blanke Felswand eingelassenen Bücherregal, wo er die Brille auf seine klobige Nase setzte und sich an einer ihm offensichtlich wenig vertrauten technischen Anlage zu schaffen machte.

„Hallo Jack ... wie, ja, es geht bestens, glaub mir, Glück gehabt! Nein, mir fehlt nichts, nur ein neues Snowmobile. Aber im Ernst, total schade, dass du Weihnachten nicht mit uns feiern kannst. Das erste Mal ohne dich … aber sag mir, wie geht es mit dem Herzen? Kannst du nicht wenigstens über Silvester ein paar Tage rüberkommen? … Ach, wie schade, ja, ich verstehe, die lange Reise. Wie, was … du musst mich unbedingt treffen, so schnell wie möglich und unter vier Augen? Was ist los mit dir Jack, soll ich mich beamen oder was? … Aber ja doch, die nächsten Konzerte werd ich morgen absagen … nein, du musst dir keine Sorgen machen.“

Plötzlich zuckte Frederik zusammen und begann am ganzen Leib zu zittern, als hätte er einen Stromschlag erlitten. Völlig überraschend war Jack Hunters Konterfei in der Wohnhalle aufgetaucht und schwebte – wie ein durchsichtiger Riese, der mal eben hereinschaut – mitten im Raum. Nathalie sprang auf und starrte entgeistert auf die Erscheinung und Frederik, auf der Couch hinter ihr, verdrehte leichenblass die Augen und presste sich die Hände an die Ohren, als höre er die Sirenen singen.

„Na, was sagt ihr jetzt, ihr beiden, merry christmas!, das ist meine Weihnachtsüberraschung für euch“, konnte er seinen Vater noch hören, dann sank er zurück und wurde ohnmächtig. „HSS, das neue Holographic Skype System, gestern eingetroffen und schon installiert“, rief Miller ekstatisch, klatschte in die Hände wie ein dickes Kind und blinzelte auf das technische Wunderwerk, ohne Frederik zu beachten. „Jack, du siehst aus wie ein echter Flaschengeist, man könnte meinen, du bist es wirklich, aber wenn man in dich hineingreift, merkt man, dass du nur eine Chimäre bist.“

„Frederik“, schrie Nathalie, die sich umgedreht hatte und ihn da liegen sah, erschrocken auf.

„Bringen Sie sofort ein feuchtes Tuch, Timothy, ich hole Frederiks Tabletten!“ schrie Miller seinem Butler zu, der gerade Champagner servierte. „Bleib du bei Frederik, ich bin gleich wieder da.“

„Frederik, was ist, hörst du mich überhaupt?“, schrie Jack, der als überdimensionales Hologramm entsetzt auf seinen Schützling herabblickte.

„Timothy, so lassen Sie die blöden Lappen und schalten Sie sofort das verdammte Gerät aus. Nun machen Sie schon, was stehen Sie noch so dumm rum?“

„Ich kann das Gerät nicht bedienen, Mr Miller hat es erst heute Morgen installieren lassen. Es sollte eine Überraschung sein, wo Mr Hunter doch dieses Jahr nicht mit uns feiern kann.“

„Die Überraschung ist gelungen, Timothy, schalten Sie das verdammte Ding aus, irgendwie, diese Technik macht uns noch alle verrückt!“

Nathalie sprang auf, rauschte zur Bücherwand und griff nach einer schwarzen Box, die sie so vehement auf den Granitboden knallte, dass es krachte und die Funken sprangen. Schlagartig wurde es dunkel.

„Was ist denn jetzt schon wieder? Timothy, nun tun Sie schon was, sind Sie noch da?“

„Ja.“

„Warum funktioniert das verdammte Notstromaggregat nicht? Haben Sie Streichhölzer?“

Hilflos stolperte Nathalie mit weit ausgestreckten Armen durchs Dunkel. „Frederik, so sag doch was!“ Und als sie keine Antwort bekam, blieb sie im Finstern stehen und wusste nicht weiter.

Der Schrei

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