Читать книгу Der Schrei - Peter Mussbach - Страница 5
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Оглавление„Was ist mit dir? Du bist auf einmal ganz bleich um die Nase … du schwankst ja! Komm, setz dich, ich helf dir!“
„Es geht schon Marc, bitte …!“
Mit einer eher beiläufigen, aber unmissverständlichen Geste, die den abweisenden Tonfall unterstrich, entzog sich Mrs Miller ihrem Ehemann und trat, sich demonstrativ abwendend, zur Seite. Und Miller hielt wie auf Kommando inne, ließ die Arme zu Boden sinken und spielte einen Moment lang verlegen an der Applikatur seiner Frackhose.
„Das Fieber hat dir zugesetzt, Nathalie, ich wollte dir bloß helfen“, murmelte er und sah sie irritiert an.
„Ich hatte gerade das zweite Gesicht, mein Gott, Frederik ist etwas zugestoßen“, erwiderte sie wie um sich zu entschuldigen, strich sich durchs Haar und tupfte sich mit einem feinen Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Das Taschentuch trug sie in letzter Zeit immer bei sich, zusammengeballt in der rechten Hand, das sollte helfen, ihre plötzlichen Hustenanfälle zu ersticken. Entsetzen blitzte aus ihren graugrünen Augen, ihre Hand zitterte.
„Du und dein zweites Gesicht!“
„Frederik ist etwas zugestoßen, oben in den Bergen!“, insistierte Nathalie. „Du musst sofort Hilfe holen!“
„Beruhige dich, du bist ja völlig überspannt!“
Miller platzte der Kragen, ganz aus dem Stand heraus und ohne irgendwelche Vorzeichen. Mit puterrotem Kopf, der im Kerzenlicht der ausladenden Wohnhalle wie eine No-Maske wirkte, versuchte er zwar noch an sich zu halten, presste seine Lippen aufeinander, als wolle er Trompete blasen, und wippte dabei hin und her, aber das alles half ihm nichts: „Ich halte das nicht mehr aus, Nathalie, es reicht, hörst du!“, brach es aus ihm heraus.
„Ich fleh dich an, Marc, so tu doch was!“
„Erinnerst du dich, vor zwei Jahren, da standen wir auch schon vor unserem Weihnachtsbaum und warteten auf Frederik, der in der Dunkelheit auf seinem Snowmobile unterwegs war und ewig nicht zurückkam? Und du warst in hellster Aufregung. Diese Idée fixe verfolgt dich schon seit Jahren, deine Ängste haben sich verselbstständigt, du bist wahnhaft, und das mittlerweile chronisch. Wenn es nach deinen schwarzen Gedanken ginge, wäre Frederik längst unter der Erde.“
„Hier in den Bergen gerät er zuweilen völlig außer sich und verliert die Kontrolle. Einmal hat er mich auf seinem Mobile mitgenommen, nie mehr wieder, das sag ich dir! Er ist völlig ausgerastet und panikartig von der fahrenden Maschine gesprungen. Gott sei Dank waren wir nicht so schnell, das Ding hat von allein angehalten, es ist in einer Schneewechte stecken geblieben. Mir ist nichts passiert, wie durch ein Wunder … Ich ruf da jetzt an, warte einen Augenblick!“
„Du machst uns lächerlich“, seufzte Miller, als Nathalie vom Telefonat zurückkam. Krachend warf er sich in einen Sessel aus lichtweißem Leder und Aluminiumgestell, das seinem Gewicht gerade noch standhielt, und goss sich kopfschüttelnd Scotch und dann Soda ein, wobei sich das Zischen der Kohlensäure wie zwergenhaftes Gekicher über ihn lustig zu machen schien, was ihn dazu veranlasste, mit der Faust unwirsch auf die Glasplatte zu schlagen. Nathalie nahm auf einem ihm direkt gegenüber stehenden Holzstuhl aus Mahagoni Platz und machte ein Gesicht, als sage sie Garde! Und Miller, der gerade seinen Whisky Soda ex getrunken hatte, ließ irritiert das Glas in der Luft stehen und starrte sie an.
„Weihnachten vor zwei Jahren, gleich nach Frederiks erstem großen Konzert, seinem Durchbruch zur Weltkarriere, hab ich Angst bekommen um ihn, Ikarus ist auch abgestürzt; weil er der Sonne zu nahe kam, hat er die Götter herausgefordert.“
„So lass doch die Götter sein! Frederik wollte nur sein neues Snowmobile ausprobieren und ist losgefahren, als du noch im Bad warst. Lass ihm diese Momente, ich bitte dich! Die letzten Monate waren wirklich nicht leicht für ihn …“
Miller stemmte sich unvermittelt aus dem Sessel und kam auf Nathalie zu. Er zögerte, blieb schließlich direkt vor ihr stehen und blinzelte unsicher. „Komm, lass dir einen Kuss geben“, sagte er endlich kaum hörbar. „Die Rettung ist unterwegs, du wirst sehen, bald steht dein Sohn gesund und glücklich vor dir“, Miller wippte auf den Zehen und schaute hilflos auf seine Frau, die ins Kaminfeuer starrte und fahrig ihre langen Haare durch Daumen und Zeigefinger gleiten ließ.
„Willst du nicht für mich singen?“, fragte er unvermittelt in die Stille. Mit wirbelnder Geste wies er zum Konzertflügel, der unweit des großen Kamins in einem Seitentrakt stand. Durch dessen Glasfront ragte das Matterhorn herein – mächtig im Mondlicht schwebend wie eine Kulisse, ausgeliehen von Cinecittà. „Ich begleite dich, wenn ich darf, einmal im Jahr kannst du mir doch die Freude machen …“
Miller, der immer noch vor seiner Frau stand und nicht wusste, wohin mit seinen Händen, beugte sich tief zu ihr hinunter, als sei dies der Ansatz zu einem Kniefall. Stattdessen aber fasste er unbeholfen nach ihrer Hand, half ihr beim Aufstehen und wollte sie zum Instrument ziehen.
„Lass mich …!“, Nathalie machte sich los, ging zum Fenster, schaute hinaus und versuchte ihre Fassung wiederzugewinnen.
Das Chalet der Millers lag hoch über Zermatt in den Schweizer Alpen – von einem offensichtlich anthroposophischen Architekten entworfen, der jeden rechten Winkel hasste und das Areal so fantastisch in die Felslandschaft eingepasst hatte, dass es von fern praktisch unsichtbar war, obwohl es hohe Mauern umfriedeten. Die aber verliefen nicht wie üblich orthogonal und horizontal, sondern imitierten die schroffen Konturen des Gesteins, vor dem sie aufgerichtet waren – bizarre Wellen und jähe Auf- und Abschwünge, aus jenem Granit, der sich vor Urzeiten hier aufgetürmt hatte.
Weihnachten feierten Millers immer in den Bergen, weitab vom Schuss, wie Miller zu sagen pflegte. Und Nathalie atmete jedes Mal auf, wenn sie aus dem Helikopter stieg; sie hasste den Winter in London, wo die Familie eigentlich lebte. Schon ihrer schwachen Lungen wegen kam sie so oft wie möglich hierher, besonders gerne im Sommer wenn sie sich wochenlang zurückziehen konnte und oft stundenlang unter dem stahlblauen Himmel saß. Dann übermannte sie zuweilen ein ozeanisches Gefühl, ihr Körper zerfloss und sie fühlte sich eins mit dem All.
Frederik war der Einzige, der sie bei ihren Ausflügen begleiten durfte. Er kam aber nur selten mit, denn er hasste es, in den Bergen herumzusitzen und nicht reden zu dürfen.
Miller stand eine Zeitlang wie bestellt und nicht abgeholt im Raum. Dann ging er zu ihr und zog sie zum Flügel. Nathalie, die äußerst widerwillig folgte, gelang es nicht, sich seinem Griff zu entziehen.
„Ich kann jetzt nicht, ich bringe keinen Ton heraus, nachher, wenn Frederik da ist, singe ich, versprochen.“
Miller ließ los und hockte sich schwer atmend auf den Klavierstuhl, wo er mit losen, etwas holprigen Akkordfolgen die Tastatur zu malträtieren begann.
„Das Ding ist verstimmt“, murmelte er, kräuselte seine gefärbten, getrimmten Augenbrauen und lauschte den schiefen Tönen nach. „Wenn ich auch nicht spielen kann“, rief er selbstverliebt, „so hör ich mit meinen siebenundsechzig immerhin noch wie ein Luchs!“
Mrs Miller stand ihrem Ehemann am Ende des Flügels gegenüber und blätterte gedankenverloren in Frederiks Klavier- und Geigennoten. Mit gesenktem Kopf äugte der zu ihr hinüber und improvisierte weiter so gut es ging – nur langsamer jetzt und wärmer im Ausdruck, als wolle er die kalten und dunklen Gedanken vertreiben. In ihrem überlangen cremefarbenen Seidenkleid, das sie ohne jeglichen Schmuck trug, wirkte sie noch anziehender und begehrenswerter als sonst. Mit fiebrigem Prickeln in den Händen ließ er sich zu einigen tollkühnen Arpeggien hinreißen, drückte dabei das linke Pedal, um die flirrenden Töne etwas zu dämpfen, und wagte nicht mehr aufzublicken, um nicht zu viele falsche Töne zu produzieren. Nathalie, die immer noch völlig abwesend in Frederiks Noten blätterte, achtete nicht auf seine Etüden.
Miller blickte plötzlich auf und verlor sich unwillkürlich im Anblick seiner Frau, wobei er in den Anfangstakten von Stille Nacht, Heilige Nacht stecken blieb und die Passage immer wieder wiederholte, mal in Dur mal in Moll. Mein Gott, dachte Miller, was gäbe ich dafür, sie wieder in die Arme nehmen zu dürfen, ihr durchs glänzende Haar zu fahren, mich in ihren Augen zu verlieren und ihren Mund zu küssen, der noch immer so verführerisch ist wie in jener glücklichen Nacht bei dem Sponsorenempfang in der MET, als ich das Glück hatte, sie kennenzulernen, Nathalie, eine gefeierte Opernsängerin und die Frau meiner Träume. Sie hatte sich ebenso prompt in ihn verliebt, erst einige Auftritte abgesagt, ihn dann Hals über Kopf geheiratet und einige Jahre später sogar ihre Karriere an den Nagel gehängt – in diesem Charakterzug der unbedingten Willensstärke erkannte er sich wieder.
Mittlerweile war Nathalie neben ihren Mann getreten, legte ihre Hand auf seine rechte Schulter und ließ ihre Fingerspitzen mit dem Polster spielen, das er in seinen Frack hatte einbauen lassen, um oben herum noch breiter zu erscheinen, als er ohnehin war.
„Bist du wieder mal traurig, wegen mir deine Karriere aufgegeben zu haben?“, murmelte er und hielt abrupt inne ohne aufzuschauen.
„Es war wegen Frederik, Marc, was redest du?“
„Du könntest doch einmal mit Frederik gemeinsam auftreten, du weißt, wie gern er dich begleitet. Jedes Mal, wenn ich euch beiden zuhöre, bin ich, wie soll ich sagen, irgendwie in einer anderen Welt!“ Miller war ins Träumen geraten, legte seine Hände in den Schoß, wendete sich ab und ließ seinen Blick so rasch über jede einzelne Elfenbeintaste der Klaviatur nach links gleiten, als spiele er einen rasanten chromatischen Lauf virtuos hinunter in die schwarzen Tiefen der Bassregion, wo ihm augenblicklich wieder Frederik in den Sinn kam.
„Nein, wirklich“, lachte Nathalie auf, „mit meinem Sohn sollte ich auftreten … wer will hier wen lancieren, würden die Leute denken. Und außerdem, ich will keinen Stress mehr! Ich konnte Stress noch nie ertragen.“
„Ihr musiziert so wunderbar zusammen, da denkt keiner an einen PR-Gag. Du wirst sehen, Frederik wird das für eine grandiose Idee halten.“
„Du und deine Sicht auf die Dinge! Ein Comeback, einfach so? Du glaubst doch nicht, dass ich mich auf den ganzen Firlefanz einlasse, den Frederik da um die Ohren hat. All die Fototermine, die Interviews, womöglich auch ein Werbeclip ... nein danke! Du kennst den Musikmarkt von heute nicht, der ist mittlerweile industriell ebenso durchorganisiert wie alles andere. Wenn du nur ein Auge für Frederik hättest, dann würdest du verstehen. Dieser Markt ist mörderisch, sage ich dir, wirklich menschenverachtend! Es ist schon eigenartig, für einen Hirnforscher von Rang ist in deinem Kopf manchmal wirklich sehr wenig Welt vorhanden. Und wir beide sind auch das reinste Klischee, wenigstens nach außen hin ... der berühmte Neurowissenschaftler und seine verträumte ehemalige Starsängerin, so steht es doch in den Gazetten. In Wahrheit aber bist du derjenige, der sich in seinen Irrlichtern verliert und ich stehe auf dem Boden und bin Realistin.“
„Ja, ja, du und deine Realität und dein zweites Gesicht! Du machst uns beide noch verrückt.“
„Du hast Recht, ganz offenkundig mache ich Frederik manchmal konfus und sogar aggressiv, nur weil ich es nicht schaffe, meine Sorgen vor ihm zu verbergen. Er meidet mich mehr und mehr.“
Miller zog Nathalie behutsam auf seinen Schoß.
„Was sollen wir nur machen?“, Nathalie schlang ihren Arm um seinen Hals. „Irgendwas müssen wir doch tun, Marc!“
„Ich arbeite doch ohnehin schon mit allen Spezialisten zusammen, die es gibt, bessere Ärzte könnte Frederik nicht haben“, sagte Miller nach einer Weile und legte, so behutsam er es vermochte, den Arm um ihre schmale Hüfte.
„Irgendwelche Medikamente, irgendein operativer Eingriff muss Frederik doch damals geholfen haben? Nach dem halben Jahr in Ryans New Yorker Klinik wurde er schließlich als gesund entlassen, wie ihr nicht müde wurdet zu behaupten. Warum macht ihr nicht dieselbe Therapie mit ihm wie damals, als er elf war und alles losging. Ihr habt mir doch versichert, dass er geheilt sei und seine Anfälle nie wieder kämen.“
„Sie kommen aus heiterem Himmel und überfallen seinen Körper so gnadenlos mit Krämpfen, dass es jedes Mal furchterregend ist. Du hast sie ja nicht mitbekommen, damals vor acht Jahren, als du ihn in der Klinik umsorgtest und die Nerven verlorst, weil seine Krankheit für dich eine Chimäre blieb. Denn in der Tat, in den Intervallen erschien er völlig unauffällig. Ryan, Jack und ich versuchten alles, was uns zu Gebote stand, um ihm zu helfen. Aber jegliche Form von Therapie versagte, und die Diagnose blieb im Dunklen. Selbst die Langzeit-Video-EEG-Aufzeichnungen waren völlig unauffällig, und das sind sie bis heute. Und dann, wider aller Erwarten, mit einem Paukenschlag, den offenbar keiner gehört hatte, war der Spuk vorbei, wir waren völlig überrascht … Frederik hatte seine rätselhafte Krankheit abgeschüttelt wie einen bösen Albtraum und keiner wusste, wie und warum.“
„Aber letzten August ist der Azteke wieder über ihn hereingebrochen, nach langer Zeit und so überraschend, dass ich es zunächst gar nicht wahrhaben wollte. Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir es hier mit einer anderen Dimension zu tun haben, Marc, Frederik kämpft gegen das Böse wie der Junge Damien im Film ‚Omen‘ mit dem Antichrist.“
Miller zuckte zusammen, als hätte man ihm mit einer Nadel ins Rückenmark gestochen. Nach einem Moment eiskalter Stille stimmte er seine Tonlage zur atonalen Sachlichkeit hinunter. „Langsam fürchte ich um seine Karriere, Nathalie. Wie will der Junge das nur durchhalten? Und darüber hinaus, wenn die Medien von seinen Anfällen Wind bekommen, dann wehe ihm und uns allen. Die werden ihm noch eine Drogen- und Tablettensucht an den Pelz heften, ich will gar nicht dran denken, was da alles auf uns zukommen könnte …“
Mit einem kräftigen Ruck hob Miller seine Frau hoch und hielt sie noch eine Sekunde, bis er sie sicher auf den Boden setzte. Dann drängte er sich zwischen ihr und dem Klavierstuhl vorbei und eilte zu seinem Scotch, starrte ins leere Glas und goss sich im Stehen nach. Beim Soda zögerte er. Missmutig beäugte er die Flasche, stellte sie schließlich mit lautem Knall auf die Glasplatte zurück und genoss den Whisky pur.
Nathalie Miller war am Flügel stehen geblieben und schaute – beleuchtet wie im Stummfilm – durch die hohe Glasfront aufs Matterhorn.
„Der Azteke macht mir grässliche Angst. So wie Frederik seine Anfälle beschreibt, diese fürchterliche Gestalt, die da auf ihn zugeritten kommt, um ihm das Herz aus dem Leib zu schneiden und ihm den Kopf abzuhacken – der reine Horror! Im Oktober, du warst wieder einmal auf einem Kongress, habe ich zum ersten Mal einen seiner Anfälle miterlebt, ich hab bislang nicht gewagt, es dir zu erzählen. In London war das, bei uns zu Hause nach Frederiks Konzert in der Royal Albert Hall. Lynn Parser und Rudolph Fleischman waren noch zu einem Drink mitgekommen. Ich ging hoch in sein Zimmer, weil ich ein furchtbares Krachen hörte. Frederik stand mit wild aufgerissenen Augen im Flur und erkannte mich nicht. Durch die offene Tür sah ich einen zertrümmerten Stuhl und Chaos überall – er sah aus wie ein wilder Indianer, es war grauenvoll.“ Während sie sich die Tränen abtupfte, brach es aus ihr heraus: „Ich hatte entsetzliche Angst. Unaufhörlich schüttelte er seine langen schwarzen Haare und schlug wild um sich, ohne sich von der Stelle zu bewegen!“
„Wenn ich nur wüsste, womit wir es bei diesem verfluchten Azteken zu tun haben“, unterbrach Miller schmallippig, als wolle er einen Geist zur Strecke bringen.
„Das hab ich mich noch nie zu fragen getraut.“
„Aber ich habe ihn gefragt, Nathalie, immer wieder, er weiß es ebenso wenig. Jack erinnert die ganze Sache mehr und mehr an eine Hysterie . Stell dir das bitte mal vor, eine Seelenkrankheit des letzten Jahrhunderts, an der praktisch nur Frauen erkrankten … Jack steht in letzter Zeit irgendwie neben sich, ist dir das nicht auch schon aufgefallen?“
„Er macht sich eben furchtbare Sorgen! Wenn man hilflos mit ansehen muss, wie Frederiks Zustand sich von Monat zu Monat verschlechtert, greift man schnell zu einem Strohhalm.“
„Wenn es wenigstens eine waschechte Epilepsie mit eindeutigen Grand-mal-Anfällen wäre, aber nein, und jetzt redet Ryan von pseudo-epileptischen Anfällen, was soll das heißen, das ist doch keine Diagnose. Psychogen bedingte dissoziative Anfälle, so ein Unfug, mein Sohn hat doch keine Angststörung oder Depression, das belegen die psychiatrischen Gutachten einwandfrei. Frederik und eine posttraumatische Belastungsstörung, Frederik, das sexuell missbrauchte Kind, ja haben die sie noch alle, all die beschissenen Untersuchungen die letzten Jahre, ich will gar nicht dran denken! Jedes Mal, wenn uns eine neue Technologie zur Verfügung stand, schöpften wir wieder Hoffnung. Aber nein, wiederum nichts, nicht den geringsten Hinweis, es ist wie verhext …!“
Miller sank in sich zusammen und starrte blicklos vor sich hin. „Wenn er wenigstens auf irgendeine Medikation ansprechen würde. Aber selbst psychopharmakologisch ist nichts zu machen. Auch Xanax, sein Alprazolam, auf dem er völlig widersinnig besteht und das er unkontrolliert einnimmt, zeigt keinerlei Effekt.“
„Vielleicht sind es doch übersinnliche Phänomene, die da im Spiel sind, wer weiß? Frederik hat manchmal etwas Ekstatisches an sich, so, als würde etwas in ihn hineinfahren, wie er neulich das 4. Klavierkonzert von Rachmaninov bei den Proms in der Royal Albert Hall gespielt hat, er war wie entrückt … so habe ich das Konzert noch nie gehört, von Arturo Benedetti Michelangeli vielleicht, aber das ist lange her. Vielleicht ist der Azteke ja nichts anderes als die Personifikation einer numinosen Energie, die ihn da erfasst … und du willst mir einreden, es gäbe kein zweites Gesicht? Ihr seid alle blind vor euren Maschinen geworden, ihr Wissenschaftler! Wo Frederik nur bleibt? Es ist ihm etwas passiert, ich bin mir absolut sicher!“