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„Ein Scheißwetter ist das hier oben, verdammt noch mal! Der Schneesturm wird immer stärker, man sieht ja gar nichts mehr. Am helllichten Tag. Von wegen Blue Ridge Mountains. Hat die Kiste überhaupt Winterreifen?“

„Was weiß ich. Muss im Herbst ein bunter Traum sein. Nur Laubwälder – Indian Summer in den Appalachen. Weißt du eigentlich, woher das Wort kommt?“

„Klar doch, mit Indianern kenn ich mich aus. Les Appalaches, so haben die europäischen Eindringlinge die Indianer doch genannt, die in diesen Bergen zu Hause waren. Und der Indian Summer war alles andere als ein Traum hier, denn da haben die Appalachen vor Wintereinbruch ihre letzten Attacken geritten, nichts war bunt, da war alles rot von Blut.“

„Was du alles weißt! Hey, siehst ja auch aus wie ein Halbblut.“

„Was soll der Quatsch. Ich bin Engländer. Und sorry, wenn ich noch mal davon anfange, du hetzt einem Irrbild hinterher, du Superprofi. Sei ehrlich, da ist doch noch was ganz anderes, was dich an der Sache so irre macht, das spür ich doch.“

„Und wenn es so wäre?“

„Dann sag es, vielleicht interessiert es mich ja. Pass auf, du fährst wie ne Sau!“

„Ich bin Hunters Sohn, Frederik! Und deshalb interessiert mich eben, was hier so vor sich geht!“

„Was bist du? Du spinnst wohl, halt an!“

„Ich halt jetzt nicht an, bin doch nicht bescheuert und bleib auch noch im Niemandsland im Schneetreiben stecken!“

„Sein Sohn? Jack war kinderlos!“

„Von mir durfte niemand wissen! Für Hunter war ich so gut wie tot, er hasste mich bis aufs Blut. Ich hab ihn vor Jahren mal furchtbar enttäuscht, an mich wollte er einfach nicht erinnert werden, verstehst du?“

„Kein Wort.“

Frederik verstummte. Er war wie vor den Kopf geschlagen. Und Patrik hatte zu erzählen begonnen, wobei er mit steinerner Miene das Gaspedal durchtrat. Frederik krallte sich am Sitz fest und wagte nichts zu sagen.

„Für Mona, meine Mutter, war die ganze Sache von Anfang an nicht einfach. Sie hatte sich Knall auf Fall in Hunter, den Chef des Unternehmens verliebt, in dessen privatem Forschungslabor sie als MTA arbeitete. Und als sie merkte, dass ihre Liebe erwidert wurde und Hunter ihr auf den Rundgängen durch die Firma immer wieder Avancen machte, war es schnell um sie geschehen. Mona wurde schwanger. Hunter war damals gerade vierzig und eine Koryphäe auf seinem Gebiet. Er forschte über die neurobiologischen Grundlagen des Bewusstseins, mehr kann ich dir nicht sagen. In jedem Fall war Mona, die jüdischer Abstammung war und aus einer Medizinerfamilie kam, die Gott sei Dank schon 1934 aus Nazi-Deutschland in die Staaten emigrieren konnte, damals gerade mal 22 und hatte sich fest vorgenommen, noch mal die Schulbank zu drücken, um Medizin zu studieren. Sie wollte unbedingt Neurologin werden. Aber daraus wurde nichts. Sie heiratete Hunter und gab alle Karrierepläne auf. In seiner Villa über den Bergen von San Francisco, nahe seiner Laboratorien, wurde ich geboren. Das wollte Hunter so. Eine Hausgeburt stand für ihn außer Frage. Er hatte ein Faible für ‚natürliche Vorgänge‘, so wenigstens erzählt es Alice, die damals schon unser Hausmädchen war.“

„Vorsicht Patrik, verdammt, ras nicht so!“

„Mona starb bei meiner Geburt. Das war, wie du dir vorstellen kannst, ein schwerer Schlag für ihn. Und in der Folgezeit setzte er alles daran, dass es mir an nichts fehlte. Mir aber fehlte Mona, das sagte zumindest Alice, und mit Hunter kam ich nicht klar. Ich hätte ihn regelrecht abgewehrt, schon dann, wenn er nur in meine Nähe gekommen sei, hätte ich zu schreien und wüten begonnen. Alle waren völlig hilflos und ratlos. Und wenn Hunter versuchte, mich auf den Arm zu nehmen, um mich zu beruhigen, lief ich blau an und wurde so zornig, dass sich das Blut im Hals staute und ich ohnmächtig wurde. Stell dir vor, Hunter muss für mich als Baby ein Monster gewesen sein, ich hatte panische Angst. Du kannst dir nicht vorstellen, was er alles unternahm, um mich zu gewinnen. Aber es nützte nichts. Im Gegenteil. Alles wurde nur immer schlimmer.“

„Pass auf, sag ich, da vorne sind Schneewehen!“

„Und dann, als ich gerade mal sechs Monate war, passierte etwas Ungeheuerliches. Alice hat es mir in allen Details erzählt.“

„Ja und? Jetzt mach’s nicht so spannend.“

„Eines Tages, es war im Park mitten im Hochsommer, insistierte Hunter darauf, mich wieder mal auf den Arm nehmen zu dürfen. Nach langem Hin und Her hatte er es geschafft. Da hab ich ihm so derb ins Gesicht geschlagen, dass ihm die Augenbraue platzte und Blut floss. Vor lauter Wut hat er mich fallen lassen und ich hab mir die Hüfte gebrochen. Das ist der Grund, warum ich manchmal rechts etwas nachhinke, wenn ich übermüdet bin.“

„Ich hab’s gesehen, als ich hinter dir hergegangen bin, bevor du in die Subway abgetaucht bist.“

„Das war das Ende. Hunter wollte nichts mehr von mir wissen. Schon mein Anblick war ihm widerwärtig. Alice hat mich in meinem Zimmer versteckt, wenn er abends nach Hause kam, denn Hunter wollte mich loswerden. Egal wie. Hunter ist ein unsicherer Charakter. Wenn etwas nicht nach seinem Willen geht, beginnt er an sich zu zweifeln und will mit dem Kopf durch die Wand. Das ist nicht ungefährlich für die anderen. Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, wenn Alice mich nicht eines Tages heimlich zu ihrem Stiefbruder Robert Gedney nach Rangeley gebracht hätte, wo ich aufgewachsen bin.“

„Wo, um Gottes Willen, liegt Rangeley?“

„In Maine, hoch oben im Norden von New York. Tiefste Provinz, aber wunderbare Natur. Da war ich glücklich. Da gab es auch den Indian Summer. Dafür ist der Landstrich ja berühmt. Alice hatte die Sache perfekt eingefädelt. Erst nachdem sie mich zu Robert gebracht hatte, erzählte sie Hunter von der Geschichte, natürlich ohne Robert zu erwähnen, er sollte nicht wissen, wo ich war. Nur dass es da jemanden gab, der mich adoptieren wollte, hat sie ihm gesagt. Hunter fiel ein Stein vom Herzen, er hat den Papierkram mit den Behörden genial hingeeiert, frag mich nicht, wie er das geschafft hat, und alles war paletti. Und sie selbst tauchte bei Robert nie mehr auf und löschte meine Erinnerung an sie. Wie gesagt, ich war ja damals erst ein paar Monate alt. Robert war mein Vater, das war für mich sonnenklar. Er hatte Alice hoch und heilig versprechen müssen, mir kein Sterbenswörtchen zu verraten. Mein Vater sei unberechenbar und ein Monster, er hätte mich beinahe umgebracht, hat sie ihn gewarnt. Und als ich älter war und was über meine Mutter wissen wollte, hat er so allerlei erfunden, um nicht mit der Wahrheit herauszurücken. Heute denk ich manchmal, Robert hatte Angst, dass ich erfahren könnte, wer mein wirklicher Vater ist. Er dachte, ich dreh dann durch und bring ihn um. Der kannte mich schließlich. Vor ein paar Wochen ist er gestorben.“

„Kraft hast du, Patrik, das muss man sagen. Und noch mehr innen als in den Muskeln. Was hat Robert eigentlich gemacht?“

„Er war Ornithologe.“

„Ist ja toll! Sagt dir Olivier Messiaen was? War ein französischer Komponist.“

„Na klar! Robert hat Messiaen bewundert. Wir haben seine Musik oft zusammen gehört, eine Musik nur aus Vogelstimmen, verrückt. Einmal haben wir draußen vor unserem kleinen Landhaus im Garten gesessen und im Radio Oiseaux exotiques gehört und die Vögel haben dazu gepfiffen. Wir haben uns nicht eingekriegt vor Lachen. Ist so ziemlich das Einzige, was ich an klassischer Musik kenne. Was ist eigentlich dein Lieblingskomponist, du bist doch vom Fach?“

„Schumann.“

„Kenn ich nicht. Musst du mir bei Gelegenheit mal vorspielen. Mit Robert war ich viel in der Natur unterwegs, das war fantastisch. Wir durchstreiften wilde unberührte Landschaften, strichen durch endlose Wälder, die mir bald zur Heimat wurden. Wir schliefen in supereinsamen Hütten oder fuhren im Boot wochenlang auf Flüssen und Seen dahin und zelteten am Ufer und machten Lagerfeuer. Da gab es Murmeltiere, über die ich manchmal so lachen musste, als wären sie Clowns. Und Alpakas und Puffins, die aussehen wie kleine vorwitzige Papageien. Am Atlantikstrand beobachteten wir Krabbenpanzer die hintereinander hermarschierten wie ne römische Legion beim Angriff. Da hab ich mich natürlich eingereiht und lauthals dem Feind gedroht. Auch die Namen der Gräser kannte ich bald, sogar die lateinischen Namen. Das Wunderbarste aber, was ich dort erlebte, war ein Schwarm aus tausenden von Vögeln. Wie die alle durch die Luft sausten, gleichzeitig von einer Bewegung ergriffen – eine riesige pulsierende Wolke aus schwarzen Punkten … werd ich nie vergessen. Noch heute bin ich, so oft ich kann, irgendwo draußen in der Natur. Die Zeit mit Robert hat mich geprägt!“

„Und jetzt hockst du als Naturvogel für gewöhnlich in deinem Keller in Harlem rum, das widerspricht sich doch, oder?“

„Robert hat mir nicht nur was von Vogelstimmen beigebracht, Frederik, sondern auch von Gerechtigkeit und Freiheit.“

„La Liberté!“, rief Frederik und stieß Patrik albern in die Seite.

„Robert war ein waschechter Linker, wenn du es genau wissen willst. Und vormals Professor für Ornithologie an der Columbia University in New York. Seine Kollegen haben gegen ihn gestänkert und ihn gemobbt, und die Universität hat ihn schließlich vor die Tür gesetzt. Das Thema Freiheit ließ ihn nicht los. Oft erzählte er mir von Thoreau und seinem Widerstand gegen die korrupte Staatsmacht und die Sklavenhalterei. Und natürlich von Wilhelm Reich, einem Schüler Freuds, dem Sexual- und Naturforscher, der schon 1933 die Massenpsychologie des Faschismus schrieb und deswegen aus der Kommunistischen Partei Deutschlands ausgeschlossen wurde. Reich glaubte an den befreiten Menschen und entdeckte eine alles umfassende Energie, die er Orgon nannte. Deshalb war er sogar mit Einstein in Kontakt. Der aber wollte von der Sache nichts wissen. Reich haben sie auch ins Kittchen gesteckt wie Thoreau. Und Reich ist dort gestorben, kurze Zeit später an einem Herzinfarkt. Er hatte bei uns praktisch um die Ecke gewohnt, wo er in der Natur und in seinen Labors forschte. Das alles hat Spuren in mir hinterlassen. Freiheit und Gerechtigkeit spielen auch für den Hacker eine große Rolle! We do not forgive. Expect us!“

„Eine Sache haben wir gemeinsam, Patrik!“

„Und die wäre?“

„Du bist genauso besessen von dem, was du tust. Aber eins versteh ich noch nicht. Warum bist du am Christmas Eve mit Alice vor Jacks Haus gestanden, als sein Sarg rausgetragen wurde? Du hattest doch keine Ahnung von ihm.“

„Letzten September hat Alice mit mir Kontakt aufgenommen. Völlig überraschend, ich bin aus allen Wolken gefallen. Robert hatte ihr meine Adresse gegeben. Alice und ich haben uns ein paar Mal getroffen. Heimlich in irgendwelchen Cafés. Sie wirkte gehetzt und war manchmal ganz verzweifelt und hat geweint. Sie hat mir die ganze Geschichte erzählt, stell dir vor. Irgendwas schien sie umzutreiben. Offenbar war es Hunter, vor dem sie Angst hatte. Aber Konkretes hab ich aus ihr nicht rausgekriegt. Nur einmal erwähnte sie, dass sich Hunter in den letzten Monaten böse verändert habe. Er sei unbeherrscht und schnell aggressiv geworden und habe sie bei jeder Kleinigkeit angeschrien. Dann wieder sei er aus heiterem Himmel in Weinkrämpfe verfallen, was sie so an ihm noch nie erlebt habe. Hunter sei ein anderer geworden, Dr. Jekyll und Mister Hyde, jawohl, so hat sie sich ausgedrückt. Durch Zufall hat er ein Telefonat von Alice und mir mitbekommen und sei völlig durchgedreht. Er hat sie an die Wand gedrückt und ihr gedroht, sie solle den Kontakt zu mir sofort abbrechen, sonst könne er für nichts garantieren. Kein Wunder, dass sie panische Angst vor ihm bekommen hat. Aus Hunter sei ein Monster geworden, ich solle ihr helfen, hat sie mich angefleht.“

„Das glaub ich nicht. Ich kenne Alice besser als du, so was würde sie nie sagen. Jack ein Monster, dass ich nicht lache, Jack war ein Gentleman. Auch ihn kenn ich wahrlich besser als du. Und außerdem, Jack und Alice waren ein Herz und eine Seele, irgendwie symbiotisch all die Jahre. Da fiel kein böses Wort.“

„Du musst es ja wissen“, schrie Patrik auf einmal. „Ob du mir nun glaubst oder nicht, geht mir am Arsch vorbei!“

Frederik schwieg und schaute abwesend ins Schneegestöber, das vor den Halogenscheinwerfern tobte. Mittlerweile war es stockfinster geworden.

„Vor drei Tagen, ich hatte ein paar Wochen nichts mehr von ihr gehört, rief Alice wieder an“, fuhr Patrik nach einer Weile fort. „In der Nacht nach Christmas Eve, so gegen zwei. Sie sagte nichts, weinte nur, sie nannte noch nicht mal ihren Namen. Natürlich wusste ich sofort, wer am Telefon ist. Ich hab mich auf die Socken gemacht. Und dann haben wir uns getroffen, während Hunters Sarg aus dem Haus getragen wurde, nachts auf der Straße in Eiseskälte am Washington Square Park. Alice, du und ich.“

„Verdammt, wir rutschen, gleich passiert was!“, schrie Frederik und krallte sich ins Sitzleder.

„Scheiße, wir sind mitten im Blizzard!“ Patrik versuchte den Wagen wieder unter Kontrolle zu bringen. Dann aber brach er aus, kam von der Straße ab und fegte ins weiße Nichts.

Der Schrei

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