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„Wow, das ewige Eis … so klar hab ich die Arktis bislang noch nicht gesehen, man erkennt ja selbst im Mondlicht praktisch jeden Spalt … da, da unten rechts, sieh mal, diese Formation dort, sieht doch aus wie Mister Jack Hunter persönlich, ein riesiges Gesicht wie aus Nazca-Linien geformt , diesen riesigen Scharrbilder in der Wüste von Peru …“

Ava und Frederik klebten mit ihren Nasen am Kabinenfenster und schauten gebannt in die wolkenlose Tiefe, die im fahlen Mondlicht so unwirklich heraufleuchtete wie ein raumloser Raum unterm Vergrößerungsglas.

„Landebahnen für Außerirdische, bis zu mehreren hundert Metern große Figuren, die als Linien von den Nazca-Indianern in das Wüstengestein eingeritzt wurden, ich bin mal drübergeflogen, ist wirklich eindrucksvoll, überdimensionale Figuren wie Affen, Kolibris oder Spinnen, die nur aus der Luft zu erkennen sind. Eine wird sogar Astronaut genannt, na bitte! Damals bekam man offenbar ab und zu mal Besuch von anderen Sternen. Heute rufen wir hilflos ‚Hallo, ist da jemand?‘ durch unsere Radioteleskope ins All, aber niemand antwortet. Klarer Fall: Die wollen einfach nichts mehr mit uns zu tun haben, die Aliens, die haben die Schnauze voll vom Menschen!“

„Nichts als Eis! Und es hört und hört nicht auf. Kein Schwanz zu sehen, noch nicht mal ein Außerirdischer!“

„Früher war die Erde mal ein einziger Eisball, da war es wesentlich ungemütlicher“, kommentierte Ava trocken, hatte auch schon die Hand unter seinem Sweatshirt und begann ihm so langsam und zart den Rücken zu kraulen, dass es auf der Haut knisterte.

„Hey, sag bloß, der Globus ein einziger Eisball“, lächelte Frederik total unter Strom, „das haben wir doch hoffentlich hinter uns? Warum hörst du auf? Mach doch weiter …!“ Demonstrativ krümmte er den Rücken und zog die Schultern etwas nach vorne, hielt still und redete zögernd weiter:

„Obwohl, zu warm ist auch beschissen. Ende des Jahrhunderts ist das Eis weg, behaupten manche, fast alles ist bereits angetaut, hab ich neulich gelesen.“

„In den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts war es genauso warm wie heute. Und vor 5000 bis 8000 Jahren war die Eisfläche noch weitaus geringer als jetzt, es war nämlich drei Grad wärmer.“

„Was willst du damit sagen?“

„Dass sich die Dinge ändern, will ich sagen. Die Natur folgt dem permanenten Wechselspiel ihrer Kräfte und beileibe nicht unserer Hybris und Willkür. Welche Wahnvorstellung den Menschen wohl heimsuchte, als er glaubte, er hätte sie im Griff?“

„Die Natur hat immer Recht, hat Debussy mal gesagt“, fuhr Frederik dazwischen, „der Mensch hat die Natur bislang noch gar nicht wahrgenommen, hat er behauptet!“

„In jedem Fall hätten wir besser daran getan, beizeiten mit ihr im Einklang zu leben. Stattdessen haben wir unseren Planeten an den Rand seiner Kapazität gebracht und zwingen ihn in die Knie. Und der wehrt sich und reagiert, das ist doch völlig natürlich, schließlich ist die Biosphäre ein lebendiger Organismus. Und dass es jetzt wärmer wird, ist demzufolge auch kein Wunder!“ Ava umfasste Frederiks Hüfte und zog ihn langsam an sich. „Zuviel Kohlendioxid und Methan in der Atmosphäre, da wird es eben wärmer. Und wir heizen den Vorgang mächtig an und fackeln uns noch ab.“

Ava hielt inne, schaute Frederik mit ihren Mandelaugen frech ins Gesicht und verzog die Lippen zu einem Kussmund. Dann setzte sie sich auf ihn. „Der menschliche Superorganismus ist Teil der Natur und folglich ihren Gesetzmäßigkeiten unterworfen wie jeder andere Organismus auch. Das merkt man doch schon, wenn man dem Superorganismus nur ins Auge schaut und ihn an die Hose fasst ... Aber im Ernst!“, Avas Stimme machte einen weiten Sprung die Tonleiter hinunter: „Es ist doch lächerlich, dass manche Idioten sich freuen, ans Öl da unten ranzukommen. Kann denen doch gar nicht schnell genug gehen, bis alles Eis geschmolzen ist …“

Ava hatte sich derart in Rage geredet, dass sie sich verschluckte und wütend wurde. „Apropos“, hustete sie, „am Anfang der Erdgeschichte gab es kein einziges Sauerstoffatom in der Atmosphäre, erst das Leben selbst hat mit seiner Photosynthese für seine Existenzbedingungen gesorgt, sonst könnten wir gar nicht atmen, ach was, was rede ich, sonst wären wir in aller Ewigkeit überhaupt nicht entstanden!“

„Mein Gott“, stöhnte Frederik auf, „du machst mich ganz schwindlig! Lass uns doch mal drüber nachdenken, wie die Ewigkeit so aussieht, was hat sie für ein Gesicht? Sieht sie lustig aus oder traurig, was meinst du? Frederik beugte sich nach dem Champagnerglas, tunkte seinen Finger hinein und ließ ihn Ava lutschen. „Wie soll ich mir die Dame vorstellen, Baby?“

„Vielleicht ist die Ewigkeit ja auch ein Mann, wer weiß“, flüsterte sie und versank in ihm.

„Wie lange haben wir noch?“, fragte Frederik, der, vom Heißhunger überfallen, etliche Sandwichs in sich hineinstopfte.

„Eine knappe Stunde. Schade, ich könnte ewig mit dir so durch die Gegend gondeln.“

„Ist schon krass mit uns, verrückte Gespräche und verrückte Liebe, und das alles auch noch in schwindelerregender Höhe, fehlt nur noch ein elektrisches Klavier hier an Bord, muss mit Marc mal reden ... Warum hast du eigentlich nicht angerufen?“

„Es ging nicht, Darling, ich hatte einfach keine Zeit, keine Stunde, glaub mir, ich saß in Houston fest.“

„Aber aus Zürich hättest du dich wenigstens melden können.“

„Du tust ja so, als ob ich nichts mehr von dir wissen wollte. Nein, nein, ich musste mich um meinen Vater kümmern, der unbedingt einen alten Schulfreund noch mal besuchen wollte. Ich habe Vater schon seit langem versprochen, ihn auf der Reise nach Zürich zu begleiten. Er ist über achtzig wie sein Freund, der nicht mehr reisen kann, aber Gott sei Dank noch total fit im Kopf ist. Er war früher Kernphysiker am CERN und hat sich sein Leben lang am Standardmodell der Teilchenphysik abgearbeitet.“

„Hicks!“, rief Frederik albern und rülpste, als wäre ihm vom vielen Champagner Kohlensäure aus dem Magen hochgeblubbert.

„Hey, als Musiker kennst du dich ja verdammt gut aus.“

„Hatte im Internat Kosmologie als Pflichtfach und Physik sowieso! Da staunst du, was?“

Frederik trank stolz wie ein Kind den Rest Champagner aus der Flasche und wischte sich mit bloßem Unterarm über den Mund. „Jetzt haben sie das Higgs-Teilchen ja endlich gefunden. Mit dem Large Hadron Collider, dieser ultra Protonenkanone, haben sie es so richtig urknallen lassen und das Teilchen nachgewiesen und identifiziert. Jetzt ist das Standardmodell der Physik, das ja eine Quantenfeldtheorie darstellt, endlich komplett. Es beschreibt alle bekannten Phänomene des Mikrokosmos: die subatomaren Bestandteile der Materie und die Kräfte, die zwischen den Teilchen wirken und sie zusammenhalten wie Superkitt. Die Kräfte bestehen ebenso aus Materie, die als Teilchen zwischen ihren Partnern so irrsinnig schnell hin und her flitzen, dass einem Hören und Sehen vergeht. Das Photon aber schießt dabei den Vogel ab: Denn es ist Teilchen und Welle gleichzeitig, ein hybrider masseloser Bursche und so schnell wie Licht. Denn er ist das Licht und der kräftigste und stärkste von allen – er verkörpert die elektromagnetische Kraft. Alle diese Kerle sorgen dafür, dass uns die Welt nicht um die Ohren fliegt. Und jetzt kommt der Hammer, denn ohne das Higgs-Feld gäbe es überhaupt keine Materie ...“

Frederik stockte. Plötzlich schob Ava, die in der winzigen Küchenkombüse aufgeräumt hatte, den Abtrennvorhang zur Seite und blickte ihm mit verschmitzten Augen ins Gesicht wie ein Clown.

„Was schaust du so, ohne das gäb es dich gar nicht! Etwas mehr Respekt vor Mr Higgs aus dem schottischen Hochland, der 1964 die ganze Sache theoretisch ins Rollen brachte. Das ganze Universum ist ein Quantensirup, hat er behauptet, und damit hat er Recht behalten. In Schottland war übrigens auch mein Internat!“

Ava grinste übers ganze Gesicht und fuhr sich durch ihre schwarzen Locken. Dabei nickte sie ihm animierend zu und ließ ihre Hände vor ihrem sagenhaften Oberkörper kreisen, als könne sie nicht abwarten, bis er weiter reden würde.

„Und außerdem, du darfst dich wirklich freuen, dass es dich überhaupt gibt, denn Materie gibt’s nur vier bis fünf Prozent im Universum … Glück gehabt!“ forderte sie Frederik heraus. „Da draußen gibt’s nämlich noch was ganz anderes als sichtbare Materie … dunkle Materie nämlich und dunkle Energie, solltest du eigentlich wissen … geheimnisvolle Nachtmahre, die als unsichtbare Ströme das All durchziehen – sie halten die Galaxien zusammen und ziehen das Universum auseinander wie keltische Bösewichte, wo es doch aufgrund der Schwerkraft nach dem Urknall wieder in sich zusammenstürzen müsste. Das Dunkle setzt den Physikern ganz schön zu, wer will schon gern vor dem Nichts stehen und es auch noch zugeben, wenn er das Nichts messen soll. Also haben sie sich für jedes Materieteilchen ein Antiteilchen erfunden, eine Art Paralleluniversum ... vielleicht nur, um es sich einfacher zu machen, schließlich will man ja wissen, was man, verflucht, messen soll …!“

Frederik zog Ava an sich und küsste sie. Dann begann er ihre Seidenbluse aufzuknöpfen und liebkoste ihren dunklen Hals. „Wenn ich Antimaterie wäre, hätte ich dich schon längst gefressen, es hätte grell aufgeblitzt und paff gemacht, wir beide hätten uns in Luft aufgelöst und wären wie im Liebestod für immer vereinigt.“

„Hey, was soll der Kitsch. Liebestod, dass ich nicht lache! Du glaubst doch nicht, dass ich mich von dir fressen lasse. Als Materie hab ich Power und vor allem Gravitation und zieh dich einfach in mich rein. Aber nein, was red ich, viel schöner wäre es, wenn wir uns einfach verschränken würden, wie Quanten das können. Dann wären wir auf wunderbare Weise vereint, identisch schwingend wie ein Körper und doch zwei.“

Verschränkung?“

„Erzähl ich dir das nächste Mal“, flüsterte sie und schlang ihre Arme um ihn.

„Manchmal ist Kitsch doch toll, oder? Aber mit dir ist Bach besser. Denn wenn man Bach liebt, ist es leichter, die Rätsel der Welt in ihrer ganzen Dimension wenigstens zu erahnen. Seine Musik ist vielleicht gar nicht seine, vielleicht hat er sie nur aufgeschrieben, weil er den Strom der Evolution spürte. Man muss dieser Bewegung nur mit den Fingern folgen, um sie anschaulich werden zu lassen ...“ Sanft drang er in sie ein und summte die wundersame Melodie aus Bachs 2. Klavierkonzert, das er ihr im Arthur-Tower schon mal vorgespielt hatte.

„Da wartet ja schon die nächste, sieht mir aber nicht wie ein Fan aus“, rief Ava amüsiert ins Flugzeug, während sie mit einiger Anstrengung die Bordtür aufstemmte und die Gangway ausfahren ließ.

„Ach Susan, die holt mich ab, natürlich, hatte ich schon vergessen, das hat mit gerade noch gefehlt“, murmelte Frederik, der aus dem Fenster linste, sofort schlechte Laune bekam und sich mit verdrehten Augen in seinen Sitz zurückfallen ließ.

„Na, keine Lust auszusteigen?“, lachte Ava, die ihn von der Tür aus beobachtete, durch welche die Kälte der New Yorker Nacht rasch in die Maschine drang. „Also los, Darling, du willst doch nicht etwa wieder mit mir zurück nach Zürich? Die Dame wartet.“

„Die Dame ist gewiss nicht der Grund meines Besuchs.“ Missmutig zwängte sich Frederik aus seinem Sitz. „Was soll’s, also los!“

„Ich hoffe, der Flug war okay. Können wir Ihnen noch irgendwie behilflich sein?“, fragte der Pilot, der im Cockpit mit seinem Logbuch beschäftigt war.

„Nein, Rob, herzlichen Dank, die letzten Wochen über hab ich mich nicht so gut gefühlt wie auf dem Flug. Wenn Sie die Maschine steuern, fühlt man sich immer sicher.“

„Übrigens, Ihr Konzert in der Carnegie Hall vor ein paar Wochen, ich war schwer beeindruckt, so schnell macht Ihnen das keiner nach.“

„Danke, ich wusste gar nicht, dass Sie in meinem Konzert waren, Ava fand es auch toll, die saß in der ersten Reihe.“

Überschwänglich umarmte Frederik seine Stewardess und küsste ihre Lippen. Susan sah zu, er spürte ihren Blick im Rücken. Er holte tief Luft, hielt den Atem an und drehte sich um. Beschwingten Schrittes eilte er die Gangway hinunter und rief noch im Laufen: „Hallo Susan, steigen Sie

doch bitte schon mal ein, ich hab’s eilig!“

Der Schrei

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