Читать книгу Der Schrei - Peter Mussbach - Страница 18
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Оглавление„Ganz ruhig, Frederik, wir sind mit einem blauen Auge davongekommen. Nur der BMW ist im Eimer. Ich komm für den Schaden auf, ist doch klar.“
„Mit dem Leihwagen sind wir automatisch versichert, spar dir dein Geld für Wichtigeres. Ich hab an der Rezeption schon alles geregelt. Aber mit Jacks Sohn in den Blue Ridge Mountains mitten im Schneesturm in einer Hütte zu sitzen, das ist nun wirklich der Hammer. Wow, ich fass es nicht!“
„Ist doch urgemütlich hier, oder? Mit Robert hab ich oft in solchen Holzhütten übernachtet. Nur schade, dass es keinen offenen Kamin gibt.“
„Wir hatten Glück im Unglück, Patrik. Erst fahren wir mit Karacho gegen einen Baum und stehen völlig wirr im nächtlichen Schneegestöber. Dann tun sich nach ein paar Metern die Lewis Mountain Cabins vor unseren Augen auf wie eine Fata Morgana, und dann isst man zu nachtschlafender Zeit noch im Warmen, weil es einen 24-Stunden-Service gibt, und vor dem zu Bett Gehen trifft man zufällig eine besonders Süße, die an der Rezeption arbeitet, den Papierkram wegen des Scheißunfalls im Flug erledigt und mir auch noch einen Drink anbietet. Hey, ich komm mir vor wie im Film. Aber morgen fahren wir wieder nach New York zurück, wenn wir richtig ausgeschlafen haben und der Ersatzwagen da ist. Jetzt ist das Abenteuer zu Ende, ich will nicht mehr.“
„Ich fahr da morgen hin. Du kannst dir ja ein Taxi nehmen und allein zurückfahren, für mich steht einfach zu viel auf dem Spiel. Wenn jemand meine Maschinen angreift, schlag ich zurück!“
„Ich hab jetzt auf das Linux-System Ubuntu 11.10 umgestellt. Da kann nichts mehr passieren Windows war mir zu unsicher . Hatte neulich einen Ukash-Virus in meinem PC, der mir über meine Office-Software eingeschleust wurde. Ist ne verdammte Scheiße, wenn man sich einen Erpressungstrojaner eingehandelt hat und der Computer abstürzt. Ich war genauso wütend wie du. In solchen Fällen hilft die Desinfect-DVD hervorragend, die hat gleich 4 Virenscanner: Avira, Bitdefender, ClamAV und Kaspersky ...“
„Was redest du da“, fuhr Patrik dazwischen. „Ich hab keine Sicherheitslücken in meinem System. Das Ganze hat mit einer ordinären Cybercrime-Attacke nun wirklich nichts zu tun, du Idiot!“
„Nun lass es mal gut sein! Ich komm mit, versprochen.
Aber fahr nicht wieder so verrückt, sonst setz ich mich ans Steuer! Zwei Unfälle in drei Tagen wären einer zu viel!“
„Wieso?“
„Vor drei Tagen hatte ich auch schon einen, in den Schweizer Alpen hoch über Zermatt mit meinem Snowmobile auf einer wegen Schneeverwehungen gesperrten Passstraße ... der Azteke war mal wieder hinter mir her.“
„Der Azteke?“
„Der Azteke. Mein Azteke ist mein Fluch! Mach doch mal die Wodkaflasche auf, hab ich uns vorhin noch schnell besorgt. Aber zurück zum Indianer – jetzt erzähl ich dir die Geschichte vom Azteken und mir. Vorhin hast du mir ja die von Jack und dir erzählt.“
Patrik schüttelte irritiert den Kopf, öffnete mit einem Knacken den Schraubverschluss der Wodkaflasche, goss die Gläser voll und ließ sich in einen Sessel fallen, nachdem er ex getrunken hatte. Frederik blieb am Holztisch sitzen und goss sich schon den nächsten ein. Dann zündete er sich eine Zigarette an und versank in Gedanken.
„Die ersten Jahre meines Lebens waren total okay“, fing er nach einer Weile an zu erzählen. „Ich wuchs wohlbehütet in London auf, wo ich auch geboren wurde, in Kensington, in der Nähe des Hyde Park in einer wunderschönen viktorianischen Stadtvilla. Mir fehlte es an nichts. Meine Mutter Nathalie, eine Schwedin, war Opernsängerin. Sie hat überall gesungen. An der Scala in Mailand und an der Covent Garden Opera in London. An der MET hat sie mein Vater als Sonnambula von Bellini gehört, er war hin und weg. Und gleich danach hat er sie bei einem Sponsorenempfang kennengelernt und beide haben sich sofort ineinander verliebt und bald geheiratet. Liebe auf den ersten Blick. Na, davon ist nicht mehr viel zu spüren. Ein paar Jahre später hat sie mit dem Singen aufgehört – für das Publikum völlig überraschend, schließlich war sie ein Star der Opernszene. Aber sie wollte nicht mehr. Nathalie begann mit Marc und mir ein neues Leben, wie sie immer wieder betont. Sie machte drei Kreuze, weil sie den Stress des Opernbusiness hinter sich hatte. Ihre Konstitution war wohl noch nie die stabilste. Vor allem die Lunge macht ihr immer wieder zu schaffen. Nathalie ging in ihrer neuen Rolle auf. Sie umsorgte mich, ohne mir die Luft zu nehmen. Sie war das Gegenteil einer overprotective mother. Es war toll, auf ihrem Schoss rumzualbern und so nah ihre Stimme zu hören. Die Lieder, die sie mir vorsang, wenn ich mal wieder Angst hatte, ohne zu wissen, warum, sind mir noch im Ohr. Vater ist Hirnforscher und Neurologe und äußerst einflussreich. Er hat eine Privatklinik samt Labors und allem Drum und Dran in London und rackert sich am Phänomen des Bewusstseins ab - Hirnforschung, du verstehst. Das ist stets der erste Satz, wenn er jemanden erklärt, was er macht. Jack und er haben sich auf einem Kongress in Lissabon kennen gelernt, Jahre bevor er Nathalie an dem besagten Abend in der MET singen hörte. Marc geht in seinem Beruf völlig auf, ich hab ihn nur selten gesehen, weil er immer sehr spät nach Hause kam, klingt wie ein Klischee, ich weiß. Aber er ist besessen von seiner Forschung. Mich interessiert das alles nicht sonderlich, ehrlich gesagt. Alles quasselt von der Hirnforschung, wenn man Zeitungen liest, da wird einem ja der Kopf dick – langweile ich dich?“
„Nein, gar nicht. Wer hat dich eigentlich in das Business hineinmanövriert, in deinem Alter macht man so was doch nicht von allein?“
„Marc hat sich bei mir nie groß eingemischt. Ich konnte frei walten und schalten. Und Nathalie hat mich beobachtet und in allem gefördert, was mir so in den Sinn kam. Das aber ist vorbei. Im Augenblick nervt sie gewaltig. Ihre ständigen Quengeleien, ich übernähme mich, ihre permanente Angst, es könnte mir was zustoßen, gehen mir ziemlich auf den Keks. Irgendwie haben wir uns entfremdet, und ich hab mich zurückgezogen ... Ich war ein mittelmäßiger Schüler, musst du wissen, denn jede Sekunde verbrachte ich am Klavier oder übte Geige. Nathalie war natürlich begeistert, dass ich die Musik für mich entdeckt hatte. Aber versteh mich nicht falsch, ich war kein verwöhntes Einzelkind, das am Rockzipfel seiner Mutter hing und sich nicht allein auf die Straße traute. Im Gegenteil. Ich hatte immer viele Spielkameraden und Freunde. Dann aber kam die Katastrophe. Sie traf mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel, als ich gerade elf geworden und in die Pubertät gekommen war. Ich saß auf meinem Fahrrad und düste durch den Hyde Park nach Hause. Es war November und schon dunkel. Ich war furchtbar spät dran, mein Klavierprofessor hatte mich stundenlang in die Mangel genommen. Plötzlich sah ich einen Indianer, der im Irrlicht der Laternen auf mich zugeritten kam, mit Feuer in den Augen, und nichts anderes im Sinn hatte, als mir den Kopf abzuhacken und das Herz aus der Brust zu reißen ... ein Azteke eben. Stunden später haben sie mich irgendwo im Park total verwirrt gefunden. Ich muss im Gras gelegen haben wie ein Toter. Sie haben mich noch in der Nacht in Ryans Klinik nach New York gebracht.“
„Wer ist Ryan?“
„Ryan Forster ist einer der besten Neurologen der Welt. Und ein enger Freund meines Vaters, zudem ein Kollege von Jack. Jack und Ryan arbeiteten eng zusammen. Ich lag ein paar Monate in Ryans Klinik, von August bis November 2006 war das. Es war ein einziger Horror. Ich hatte nur Apparate um mich herum und immer wieder kam der Azteke wie aus heiterem Himmel durch den Raum und hat sich meiner bemächtigt. Die Ärzte konnten nichts machen.“
„Hört sich ja gruselig an!“
„Sie haben nichts gefunden, Patrik. Stell dir vor, nichts! Ich war kerngesund, mir fehlte nichts, nicht das Geringste. Alle waren ratlos und keiner konnte mir helfen.“
„Und der Azteke?“
„Nach ein paar Monaten war der Spuk vorbei. Verrückt, oder? Plötzlich war er verschwunden und kam nicht wieder. Marc und Jack aber trauten der Sache nicht. Das war der Grund, warum ich nach La Liberté kam. Das Internat ist ziemlich elitär, freiwillig wäre ich da nicht hingegangen. Es fördert Hochbegabte, aber auch Jugendliche wie mich mit einer Spezialbegabung. Ich wurde ärztlich betreut, der Stabilste bin ich ja noch nie gewesen, wenn ich ehrlich bin. Die Therapeuten gingen behutsam ans Werk, und als Schüler führte ich ein ganz normales Leben. Ich hatte bald viel Spaß und mein Zustand stabilisierte sich rasch, fünf Jahre lang war ich sozusagen aztekenfrei.“
„Und dann?“
„Ich machte am Klavier und an der Geige so rasante Fortschritte, dass ich bald spielte wie sonst kaum einer. Das sagten jedenfalls die Professoren. Und dann hab ich Karriere gemacht, Patrik, eine Weltkarriere in kürzester Zeit. Im Dezember vor zwei Jahren hab ich mein erstes öffentliches Konzert gegeben. In der Tonhalle in Zürich. Den Rest weißt du, du warst ja auf meiner Website.“
„Ich dachte, der Azteke hatte was mit deinem Motorradunfall zu tun.“
„Klar, das hat er, wer sonst.“
Patrik stand auf, blieb einen Augenblick zögernd stehen und setzte sich dann Frederik gegenüber an den Tisch. Er strich sich müde übers Gesicht und sah ihn irritiert an. „Dann ist er also wieder da?“
„Seit August letzten Jahres. Keiner hatte damit gerechnet, ich am allerwenigsten. Das Beschissene ist, dass sich die Anfälle jetzt häufen. Das ist der Grund, warum ich alle Konzerte in den nächsten zwei Wochen absagen musste.“
Frederik trank den letzten Schluck Wodka aus der Flasche und schaute Patrik lange in die Augen.
„Der Sohn Jack Hunters, ein Hacker, der Messiaen liebt, und der vom Azteken besessene Weltstar – hey, wir sind schon so zwei! Ich geh jetzt in mein Zimmer, bin hundemüde, bis morgen ... irgendwie gut, dass wir uns getroffen haben.“