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„Glaub mir, Liebling, es ist besser so, dein Zustand ist zu labil, du musst zu Ryan nach New York. Erst dein Unfall, dann dein Zusammenbruch vorhin, als wäre Jack ein böser Geist …“

„Das scheiß Hologramm ist mir auf den Geist gegangen. Dieses penetrante Sirren in der Luft – ich mit meinen empfindlichen Ohren.“

„Wie auch immer, lass uns auf Nummer sicher gehen. Jack weiß Bescheid, er will dich morgen in der Klinik besuchen. Am Telefon wirkte er geradezu erleichtert, dass du kommst, was er nur hat, vielleicht sein Herz … Auch Lynn ist informiert. Bis zum Doppelkonzert auf der Jungfernfahrt ihres neuen Schiffs wird sie alles für dich absagen. Mit ihr hast du das große Los gezogen. Eine bessere Agentin könntest du nicht finden und dabei hat sie mit ihrem Medienkonzern wirklich einiges um die Ohren.

„Ich weiß, ich weiß, du sagst immer dasselbe.“

„Man kann es nicht oft genug sagen: Lynn beschützt dich. Von ihren Erfahrungen kannst du nur profitieren, denn dieses verfluchte Musikbusiness hat im Grunde mit Musik nichts mehr zu tun. Viel eher mit einem Affentanz marionettenhafter Selbstdarsteller. Bald haben wir nur noch David Garetts, du wirst sehen. Hörst du mir eigentlich zu?“

„Aber ja doch, Lynn ist ein Energiebündel, und sie liebt ihre Arbeit. Und sie steht zu dem, was sie tut. Und sie liebt die Musik wie wir! Und ihr beide seid beste Freundinnen“, betete Frederik seine Antwort herunter wie ein Glaubensbekenntnis und beobachtete müde durch die hell erleuchteten Fenster des Learjets, der auf dem Rollfeld von Zürich-Kloten auf ihn wartete, eine dunkelhäutige Schöne, die ihm bekannt vorkam. Sie war offenbar mit den letzten Reisevorbereitungen beschäftigt und sah gerade aus dem Fenster.

„Ava!“ Ungläubig strich er sich den Schnee aus den Haaren und schüttelte sie übermütig. Mit zusammengekniffenen Augen spähte er zum Jet, wobei seine scharf geschnittene Nase im gelbbraunen Licht der Bodenbeleuchtung eklatant hervortrat.

Ava hatte er gerade erst in New York kennengelernt. Auf einer Party nach seinem ersten Klavierabend in der Carnegie Hall in Jacks Haus am Washington Square Park. Nathalie hatte sie mitgebracht, weil Ava mit ihr im Konzert und so hingerissen von ihm und seinem Spiel war, dass sie ihn unbedingt kennenlernen wollte.

Ava und Nathalie waren trotz ihres Altersunterschieds enge Freundinnen. „Nathalie hat meinem Vater das Leben gerettet“, hatte sie ihm auf der Party erzählt. „Beide haben sich vor zwanzig Jahren bei einer Produktion von Lucia di Lammermoor an der MET kennengelernt. Deine Mutter debütierte in der Hauptrolle und mein Vater war ihr Coach und Korrepetitor. Er hat ihr so grandios durch die Rolle geholfen, dass sie ihm ewig dankbar ist. Er habe ihr jegliche Angst vor der Höllenpartie genommen, ihr Triumph sei nur ihm zu verdanken, das betont sie immer dann, wenn Vater Tränen in die Augen treten, wenn sie ihn besucht. Kurze Zeit später erkrankte er an Krebs und Nathalie hat alles dafür getan, dass er medizinisch in die besten Hände kam und alle Rechnungen beglichen. Ohne sie wäre Vater längst tot, wir hätten uns das alles nicht leisten können.“

Frederik hatte sich nur vage auf ihre Worte konzentriert, vielmehr auf die Schöne selbst, die ihm gegenüber auf einem mit Chintz überzogenen Sessel saß, der – mit leuchtenden Frühlingsblumen bedruckt – ihm den Eindruck vermittelte, er säße vor einem Bild von Gaugin oder vor einer Kitschpostkarte aus Hawaii oder einer jungen Whitney Houston, da war er sich nicht so sicher.

Ava hatte ihre langen Beine übereinandergeschlagen und rauchte. Ihre weich geschwungenen Lippen machten ihn völlig kirre, sodass er ihrem Blick nicht lange stand hielt und lieber die Blumen anstarrte, in denen sie wie in einem Liebesnest auf ihn zu warten schien.

Ava war Mestizin und absolut Frederiks Typ. Die Nacht hatten sie im Appartement ihrer Freundin Cheyenne verbracht, die Physikerin an der Columbia University und vor kurzem zu einem Forschungsjahr am Massachusetts Institute of Technology in der Nähe von Boston aufgebrochen war. Ava selbst war Testpilotin bei der NASA gewesen, hatte dann aber alles hingeworfen, weil ihr Freund, der in ihrer Staffel geflogen war, über der Wüste von Nevada abgestürzt und ums Leben gekommen war. Nach einem Studium der Astrophysik war sie jetzt in einem Team der NASA, das an bemannten extraterrestrischen Flügen ins All arbeitete und auch für den Erfolg von Curiosity mitverantwortlich war.

Cheyenne hatte ein elektrisches Klavier in ihrem Appartement stehen, das im Arthur Tower lag, im 34. Stockwerk, direkt gegenüber der MET, was purer Zufall war. Er hatte sich sofort ans Instrument gesetzt und festgestellt, dass man mit dem Ding viel mehr machen konnte, als er gedacht hatte.

„Spiel was für mich“, hatte Ava begeistert ausgerufen. Und er hatte gespielt, Musik und Liebe, auf beiden Instrumenten. Nackt waren sie am Klavier gesessen und er hatte Bachchoräle intoniert, mit vollem Nachhall wie in der Kirche, während sie – die Kopfhörer auf den Ohren und nur durch ein langes dünnes Kabel mit ihm und seinem Spiel verbunden – mit schwebenden Bewegungen durch den Raum tanzte wie entrückt. Und er hatte auf die MET hinuntergeschaut, die im nächtlichen Lichterglanz zu seinen Füßen lag und gespielt, Bach mit ihrem Körper im Kopf.

„Die Maschine wartet, Mr Miller, wir müssen los. In wenigen Minuten haben wir Nachtflugverbot, dann kriegen selbst Sie keine Starterlaubnis mehr!“

Mit einem Mal war Ava lachend in der Tür des Jets aufgetaucht und winkte. „Hallo Frederik, hereinspaziert!“

„Ava, das ist aber eine Überraschung, merry christmas. Was machst du denn hier?“

„Das erzähl ich dir, wenn du an Bord bist!“

„Also los“, Nathalie gab sich einen Ruck „bei Ava bist du gut aufgehoben. Ein Glück, dass ich sie erreicht habe. Außerdem ist ein Arzt an Bord, dein Vater und ich haben alles arrangiert.“

„Wie Marc nur so schnell die Crew zusammengetrommelt hat, und das am Heiligen Abend, ein Wahnsinn!“

„Ava hab ich ins Herz geschlossen. Sie könnte meine Tochter sein. Und sie kennt sich aus, im Leben wie in der Wissenschaft. Früher sagte man, ‚sie ist gebildet‘, heute heißt es, ‚sie weiß Bescheid‘. Leider sehen wir uns zu selten, sie hat einfach viel zu viel um die Ohren bei der NASA.“

Nathalie versuchte ein Lächeln, formte den Mund zum liegenden Halbmond und blickte Frederik mit ängstlichen Augen an.

„Nun mach kein Theater“, platzte Frederik heraus. „Du hast Angst, das seh ich doch. Wir telefonieren!“

„Der Arzt bekommt einen Notfall herein, so ein Mist, er hat gerade abgesagt“, rief Miller, der hinter Ava in der Flugzeugtür erschienen war und kopfschüttelnd die Gangway heruntergehastet kam.

„Aber was soll’s mein Junge, wir haben keine Zeit mehr. Wenigstens hast du eine flotte Flugbegleiterin dabei. Ohne einen zweiten Piloten hätten wir das auf die Schnelle nicht hingekriegt. Rob fliegt dich nach New York und Ava bringt die Maschine sofort wieder zurück. Ich muss morgen überraschend in mein Institut nach London, es ist dringend. Meine Mitarbeiter sind wieder mal mit ihren Auswertungen nicht klar gekommen. Die Reduktion kognitiver Prozesse bei Computerspielen, damit schlagen wir uns ja schon geraume Zeit herum. Die Ergebnisse müssen unbedingt an den Verlag zur Publikation. In der zweiten Januarwoche werde ich sie auf einem Kongress in Sydney präsentieren. Da muss ich hin, deshalb kann ich auch bei der Premiere deines Doppelkonzerts nicht dabei sein, was mir wirklich leid tut. Sei froh, dass du kein Hirnforscher geworden bist, da stochert man manchmal ganz schön mit der allgemeinen Stange im allgemeinen Nebel herum, wie Nietzsche sagt. Übrigens“, Miller zog Frederik eng an sich, „niemand an Bord weiß vom Anlass deiner Reise, auch Ava nicht, es ist besser so!“

Sichtlich erleichtert umarmte Miller seinen Sohn und drückte ihn fest an seinen massigen Körper.

„Aber fliegt nicht zum Mars, auch wenn Ava bei der NASA arbeitet, wie gesagt, ich brauche die Maschine morgen, versprochen?“

Marc Miller lachte auf und küsste Frederik zum Abschied auf die Stirn.

„Ciao Caro!“, rief Nathalie noch, dann war Frederik rasch in der Maschine verschwunden.

„Nun komm schon, Nathalie“, rief Miller durch die halb geöffnete Schiebetür des Helikopters, der auf dem Vorfeld parkte. „Du wirst dir noch eine Erkältung holen!“

Sie reagierte nicht. Regungslos verharrte sie auf dem Rollfeld und konnte den Blick nicht vom Flugzeug lassen, das sich in die Schneenacht erhoben hatte. Sie weinte. Und ihr fein geschnittenes Gesicht, das im Licht der Lampen alle Farbe verloren hatte, wirkte um Jahre gealtert.

„Wird schon alles werden, Frederik, pass auf dich auf“, flüsterte sie.

Der Schrei

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