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1. Martin Luther und die Zwei-Reiche-Lehre

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Luthers Zwei-Reiche-Lehre

Die erste neue – und damit prämoderne – Formulierung des Politischen kommt vom deutschen Reformator, der die dichotomische Spannung zwischen Regnum und Sacerdotium einerseits formal gelöst, andererseits faktisch aber auch verschärft hat. Luthers berühmte Zwei-Reiche-Lehre ist zunächst nichts anderes als die formale Übernahme des paradigmatischen Konzepts, wie es schon der heilige Augustinus in seiner Unterteilung einer civitas terrena und einer civitas Dei vorgelegt hat. Demzufolge existiert ein Mensch-Sein auf zwei verschiedenen Ebenen: a) in einer irdischen Welt mit menschlichen Gesetzen und b) in einer göttlichen Welt mit universalen Gesetzen.

Die zweite Welt, die Welt Gottes existiert grundsätzlich immer schon und wird auch immer existieren, allein ihre Erfahrbarkeit kommt für den Menschen genau genommen erst im Jenseits zustande. Lediglich durch den wahren Glauben kann sich der Mensch im Diesseits eine Ahnung und vielleicht relative Gewissheit dessen erarbeiten, was der eigentliche Maßstab von Mensch-Sein ist. Und hier genau beginnt schon das Problem bei Augustinus: So lange der Mensch in seiner Civitas Terrena den irdischen Gelüsten und seinen selbstaufgestellten, mitunter völlig mutwilligen Gesetzen gehorcht, so lange wird es zwischen den beiden Welten im Diesseits keine Verbindung geben. Andererseits aber ist der wahrhaft Gläubige auch schon im irdischen Leben gläubig und richtet sich solchermaßen nach den Geboten Gottes. Das impliziert eine Anerkennung und Ausrichtung auf die universalen Gebote Gottes. Jede Politik, sofern sie denn irgendwie christlich sein will, muss sich hiernach richten. Sie wird aber immer im Spannungsverhältnis zwischen positivistischer Rechtsanmaßung und normativer, das heißt, göttlicher, Verfügung zu begreifen sein. Das bedeutet umgekehrt auch für jeden Christen, dass man sich den Geboten der politischen Ordnung voll und ganz zu stellen hat, aber dabei keineswegs das normativ Richtige im Sinne der Gesetze Gottes außer Acht lässt. Im Zweifelsfall kann und darf es hier fundamentale Konflikte geben. Der wahre Christ muss sich hierbei dann dem Ideal nach an die Wertvorstellungen der Civitas Dei halten. Logischerweise gilt dies erst recht für den christlichen König.

Die zwei Welten

Luther, vom biografischen Werdegang her zunächst als Augustiner ausgebildet, hat dieses Paradigma aus dem Mittelalter übernommen. Gerechtigkeit und Glaube sind demnach die zentralen Kategorien der lutherischen Theologie. „Der Gerechte lebt aus dem Glauben“, formuliert der Reformator in geradezu klassischer Weise (Luther, W 54: 185, 12ff.). Nur wer glaubt, kann auch gerecht sein. Für die Qualität der weltlichen Herrschaft wird es immer dann ein Legitimationsdefizit geben, wenn sie sich hierin versagt. Gerechtigkeit als solche ist ohne die christliche Grundierung in Bezug auf die göttlichen Naturgesetze nicht denkbar. Eine lediglich funktionale Gerechtigkeit im Sinne von materiellen Distributionsverfügungen kann hier nur ins Leere laufen, weil sie in der Endkonsequenz nihilistisch wäre. Will man dies alles nicht, dann impliziert dies für den wahren Gläubigen eine zentrale Beschäftigung mit Fragen der Politik. Luther konstatiert, dass sich anhand der Heiligen Schrift ablesen lasse, dass es sowohl im Neuen wie auch im Alten Testament keinen Heiligen gegeben habe, der sich nicht mit Politik beschäftigt hätte (ebd., W 40: 3, 207, 8). Dennoch kommt es bei ihm nicht zu der Neuauflage einer klaren Vermittlungsbemühung zwischen der irdischen und der spirituellen Welt, wie dies bei Augustinus dokumentiert ist. Der augustinische Dualismus zwischen den beiden Welten wird nämlich von Luther sehr viel schärfer in der Trennungs- und eben nicht in der Verbindungslinie gesehen (vgl. Ottmann 2006: 72f.). Aus der Formalisierung dieser Differenz entsteht ein in drei Punkten gegliedertes hermeneutisches Konzept:

1 Beide Welten existieren zunächst voneinander getrennt.

2 Eine Komplementarität besteht jedoch insofern, als beide Welten auf Gottes Herrschaftswelt insgesamt hindeuten.

3 Der einzelne Christ ist jeweils Privatperson und öffentliche Person in beiden Welten zugleich.

Das irdische Reich als Babylon

Beide Welten, die von Luther als Reiche begriffen werden, bestehen aus Personengemeinschaften mit jeweils bestimmten, voneinander differenten Strukturen, die allerdings zusammengefasst werden können unter einem Haupt – dem Haupt Gottes. Diese Zusammenfassung ist keine faktische im Sinne einer Machtanballung, sondern nur eine normative, wenn man so will, virtuelle Konklusion. Luther teilt bezeichnenderweise recht abstrakt alle Menschen „in zwei Teile“: „Die zum Reich Gottes gehören, das sind alle Rechtgläubigen in Christo und unter Christo. Denn Christus ist der König und Herr im Reich Gottes“ (Luther, W 11: 249, 24). In diesem Reich des Glaubens existiert der corpus mysticum. Dieser zeichnet sich aus a) durch die Königswürde Christi, b) durch die Herrschaft Christi, welche auf alle Glieder der beteiligten Gläubigen wirkt und c) durch das Volk Gottes selbst. Mittels Gnade, Liebe und Barmherzigkeit in Freiheit wird dieses Reich für alle Gläubigen erkennbar und erlebbar. Gewaltausübung gibt es hingegen hier nicht. Nur im weltlichen Bereich findet Gewalt statt. Daher ist die Herrschaft im weltlichen Bereich für Luther so etwas wie der corpus babylonicum, in dem die Vielheit vorherrscht, aber eben keine Einheit und vor allem keine Wahrheit. Das bedeutet auch, dass das christliche Naturrecht im Sektor der babylonischen Herrschaft nur bedingt zur Geltung kommt. Es kann in fragmentierter Weise durchaus auftreten, aber eben dadurch unterscheidet sich dieses Naturrecht von dem der Einheitlichkeit im Reich Gottes. Indem Luther hier die Qualität des Naturrechts in zwei Teile zerlegt, und der einen Seite eine vollwertige Funktion, der anderen aber eine minderwertige, zubilligt, verweigert er sich der universalen Bedeutung des Naturrechts, wie es die katholische Kirche seit den Tagen des heiligen Augustinus vertritt.

Lediglich im Gottesgedanken kommt auch bei Luther noch einmal eine formale Einheit zustande. Faktisch muss diese Formaleinheit jedoch für die Festlegung der irdischen Gesetze nicht stets die Richtschnur sein. Auch wenn der Reformator dies so nicht gewollt hat, impliziert seine Auslegung der Zwei-Reiche-Lehre eine säkulare Öffnung für die Legitimation politischer Ordnung. Der Fürst kann sich von anderen Gesichtspunkten leiten lassen als nur von der Befolgung christlicher Ordnungsnormen. Man mag dies eine Zweckrationalität nennen oder auch nicht, diese Perspektive basiert jedenfalls auf einer funktionalen Abkoppelung vom Reiche Christi und der darin erhobenen Verpflichtungen zum wahren christlichen Leben. Der Bereich des Politischen bekommt hierdurch eine gewisse selbstreferentielle Qualität. Diese ist normativ zwar eindeutig defizitär gegenüber dem Reich Christi, doch in der irdischen Hemisphäre ist die Frage der politischen Herrschaft der Notnagel, mit dem die Sündenstruktur menschlicher Existenz immerhin notdürftig beherrscht werden kann.

Im Reiche Babylons bleibt zwar ein Restbezug an das göttliche Recht bestehen, doch resultiert aufgrund der Gewaltkomponente, die Luther dem weltlichen Regiment substantiell zubilligt, eine andere Qualität des Naturrechts. Es ist die degenerierte Form des reinen Naturrechts aus dem Reiche Christi, die nunmehr mit Zwangsgewalt versehen all diejenigen unter Kontrolle hält, die als Atheisten oder verderbte Menschen ansonsten keinen Frieden halten würden.

Der Staat als Zwangssystem

Politische Ordnung gerät somit in Luthers Theologie zu einer Erzwingungsanstalt gegenüber den Triebstrukturen der menschlichen Existenz. So lange die reine Form des Christentums nicht für sich existieren kann, was genau genommen erst nach dem Jüngsten Gericht der Fall sein wird, so lange bedarf es der Gewalt einer weltlichen Macht, die dies erzwingen kann. Der Staat fungiert hier als schiere Notwendigkeit gegen das Negative dieser Welt. Da Menschen eigentlich Sünder sind, bedarf es einer Gewalt- und Zwangsordnung, um sie in ihrer Sündenstruktur, aus der sie in diesem Leben nicht herauskommen, zu bändigen.

Bezeichnend für die lutherische Theologie aber ist, dass konkrete Effekte und Inhalte für die politische Ordnung, die er politia nennt, nicht weiter ausformuliert werden. Das ganze Ordnungsgefüge, der apparative Aufbau von politischer Macht und Herrschaft, hat Luther nicht interessiert. Die Bedarfsfunktionen, die seine Theologie dem Reich auf Erden zubilligt, sind schablonär und eigentlich unpolitisch (vgl. auch Preuß 2007: 137). In Bezug auf weltliches Handeln ist es eher eine Antipolitik, die Luther hier beschreibt.

Kein Widerstandsrecht

Das zeigt sich besonders bei der Bewertung des Widerstandsrechts. Luther nimmt hier die klassische Doktrin, die sich seit der Auslegung durch Thomas von Aquin ergeben hat, eindeutig zurück. Während seit dem Hochmittelalter in den theologischen Debatten zur Frage der Tyrannis durchaus das Recht auf Widerstand eingeräumt worden ist, weil dies einem christlichen Naturrecht entspringt, konstatiert Luther apodiktisch: „Das die oberkeyt bose und unrecht ist, entschuldigt keyn rotterey noch auffrür“ (Luther, W 18: 303, 13). Nur passiver Widerstand ist erlaubt – ansonsten muss man die Tyrannis auf Erden hinnehmen.

Die Obrigkeit wird in Luthers Theologie als ein notwendiges Übel angesehen, damit überhaupt Ordnung zustande kommt. Verweigert man sich gegenüber der Obrigkeit, dann verweigert man sich gegenüber jeglicher Ordnung – also letztlich auch der von Gott.

Wenn Luther mitunter doch von einem Widerstandsrecht spricht, dann nur in Bezug auf legitime politische Autoritäten – so z.B. für die Position der protestantischen Fürsten gegenüber dem Kaiser innerhalb der Reichsverfassung. Keineswegs aber darf der gemeine Mann sich gegen die politische Herrschaft empören, weshalb in Luthers Augen so etwas wie der deutsche Bauernkrieg von 1525 ein illegitimer Akt gewesen ist. Denn für den Wittenberger Theologen ist und bleibt als schlimmstes Übel im Bereich des Politischen die Anarchie.

Die strikte Befolgung des Gehorsamsprinzips darf einzig und allein im absoluten Ausnahmefall aufgegeben werden – nämlich dann, wenn der tyrannus universalis auf den Plan tritt. Bezeichnenderweise sah Luther im Wirken des Papstes eine derart widerchristliche Tyrannei, dass hier der Anlass zum Widerstandsrecht gegeben sei. Der Papst erscheint bei Luther in der Metapher des apokalyptischen Tiers, dessen Bekämpfung für jeden wahren Christen zur Pflicht wird.

Trennung von Politik und Moral

Die Einengung des Widerstandsrechts auf den absoluten Ausnahmefall hin ist zweifellos nicht unproblematisch. Wenn auch der gewünschte Zweck, nämlich die Stabilität politischer Ordnung zu sichern, verständlich ist, so erreicht Luther hierdurch andererseits aber auch eine recht starre Fixierung auf Gesetz und Ordnung, wie sie im nachreformatorischen Gedankengut zu einem wesentlichen Bestandteil nicht nur des deutschen Protestantismus geworden ist. Die naturrechtliche Minimierung zugunsten positiver Gesetze, wie sie die politische Herrschaft verfassen darf, bricht mit der metaphysischen Dialektik, an der sich bis dahin das christliche Politikverständnis orientiert hat. Andere Reformatoren, wie etwa Philipp Melanchthon (1497–1560), haben diesen Gedanken dann zu einem vollständigeren Interpretationssystem ausgebaut. In der Endkonsequenz bleibt es bei dem, was Luther paradigmatisch unterstrichen hat, dass die positiven Gesetze und deren politische Folgehandlungen funktional notwendige Dinge sind, die aber nicht per se eine spezifische moralische Dignität aufweisen müssen. Damit kommt es zu eben jener bedeutsamen fundamentalen Trennung von Moral und Politik, bei dem die Politik sich selbst genügsam sein kann – auch wenn sie nicht moralisch ist. Und die Moral bleibt im Prinzip so lange bei sich selbst, wie sie nicht politisch wirkt. Die formale Rückkoppelung an Gott, die in Luthers Theologie für politische Herrschaft unmittelbar bestehen bleibt, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass mit diesem theologischen Programm eine substantielle naturrechtliche Position für das Politikverständnis aufgegeben wird. Die strikte Trennung von christlicher Moral und funktionaler Politik mag die Moral zwar moralisch reiner werden lassen, aber die Politik verliert dadurch ihre korrelative und korrigierende Funktion. Letztlich bestätigt sich in diesem Konzept Luthers Selbsteinschätzung, dass er auf dem politischen Feld keine kompetenten Aussagen machen könne (vgl. Brecht 1987: 200). Der Reduktionismus zugunsten einer faktischen Trennung von christlicher Integrität und politischem Gehorsam bleibt nicht ohne Folgen, ist aber auch nicht der einzige Weg, in dem sich der Diskurs der Politica Christiana fortan bewegt.

Politische Theorie der Prämoderne 1500-1800

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