Читать книгу Tochter der Inquisition - Peter Orontes - Страница 13

Kapitel 8

Оглавление

Dienstag, 04. August 1388

Marthe Kranichs Welt war der Wald.

Hier war sie vor über zwanzig Jahren als Tochter eines Köhlers geboren worden, hier hatte sie ihre Kindheit verbracht, und hier war sie, während sie zur Jungfrau heranreifte, von ihrer Mutter in das geheimnisvolle Wissen um die Wirkung von Kräutern, Beeren, Pilzen und Flechten eingeweiht worden. Im Laufe der Jahre hatte Marthe gelernt, vielerlei Tränke und Pulver zuzubereiten, die dem kranken Leib Genesung spenden und Schmerzen lindern konnten; ein Wissen, dass sie später, nachdem ihre Eltern gestorben waren, dringend gebrauchen konnte, versetzte es sie doch in die Lage, ihr gewohnt freies Leben fortzusetzen. Marthe verkaufte nämlich nicht nur die Früchte des Waldes, sondern auch manch wirkungsvollen Kräutersud auf den Märkten der Umgebung. Dies führte dazu, dass die Fähig­keiten der jungen Frau sich schnell herumsprachen. Eines Tages war sogar Bruder Ansgar, Botanikus im Kloster zu Garsten, zu ihr gekommen, um sie auf die Probe zu stellen. Beeindruckt vom Wissen Marthes, hatte er sie beauftragt, ihn regelmäßig mit seltenen Kräutern zu beliefern, die nur an bestimmten Stellen des Waldes gediehen und deren Fundort nur Marthe kannte.

Auch heute war Marthe wieder unterwegs, um jene stillen Orte aufzusuchen, und auch heute fühlte sie sich rundum wohl in ihrem Wald. Es war ein Tag ganz nach ihrem Herzen. Die vom Gezwitscher der Vögel erfüllte Heiterkeit des frühen Morgens, das silberne Glitzern der Tautropfen auf den Grasteppichen, welche die Lichtungen bedeckten, die ungestümen Sonnenstrahlen, die auf den grünen Wogen des mächtigen Blättermeeres tanzten, in sie eintauchten, sie durchdrangen, um schließlich auf dem Waldboden ein flirrendes gold­farbenes Geflecht zu zeichnen – all das erfüllte Marthe mit einer Art von innerem Glück, das nichts anderes auf der Welt ihr geben konnte.

Plötzlich aber hörte Marthe ein Geräusch in ihrem Rücken, das so ganz anders war als die vielfältigen Geräu­sche des Waldes, die sie kannte. Ein Laut, der schlagartig Furcht in ihr Herz jagte und sie erschauern ließ. Kaum dass sie sich dessen bewusst geworden war, stürzte sich auch schon ein dunkel gewandeter Schatten auf sie. Marthe fiel zu Boden, der Korb entglitt ihren Händen, die gesammelten Kräuter wurden in alle Richtungen zerstreut. Marthe war zu sehr erschrocken, als dass sie einen Schrei hätte von sich geben können. Es hätte auch nichts genutzt, niemand war da, der das, was nun geschah, hätte verhindern können.

»Komm her, mein Täubchen!«, keuchte der Schatten. Indem er seine Linke grob auf Marthes Mund presste und ihren Kopf auf den Moosboden drückte, fetzte er ihr mit der Rechten die Kleider vom Leib und warf sich gierig auf sie. Sie versuchte sich aufzubäumen – vergebens! Glühend heiß und stechend war der entsetzliche Schmerz, der sie gleich darauf durchfuhr, doch entsetzlicher noch empfand Marthe das Bewusstsein, dass in diesen Augenblicken ihre Seele in Stücke gehauen wurde, während sich der Anblick dessen, der ihr das Furchtbare antat, gleich einer Brandspur in ihr Gedächtnis fraß: das verzerrte, mit Kohle geschwärzte Gesicht, aus dem das Weiß der Augäpfel hervortrat, die schwarzen, vor Gier geweiteten Pupillen, die triumphierend auf sie herab­blickten, und die dunkle Höhle eines weit aufgerissenen Mundes, aus dem in rhythmischen Abständen die Laute eines Wesens drangen, das zu gleichen Teilen Tier, Mensch und Dämon zu sein schien – immer und immer und immer wieder …

Längst war das schwarze Ungeheuer, das sich an Marthes Leib gesättigt hatte, wieder im Dunkel des Forsts verschwun­den, und noch immer lag Marthe regungslos am Boden. Mit leerem Blick sah sie zu der grünen Kuppel aus Laub empor, die sich über ihr wölbte, sah die blauen Flecken dazwischen, die von einem sommerlich strahlenden Himmel kündeten, ein Anblick, der so gar nicht passen wollte zu der Kälte und dem Dunkel, die sich in ihrem Inneren ausgebreitet hatten. Als es Marthe endlich gelang sich aufzurichten, mochte die Sonne die vierte Stunde des Tages anzeigen. Marthe sah an sich hinunter und stellte mit einem Mal fest, dass sie die ganze Zeit über ihre Faust krampfhaft geschlossen gehalten hatte. Als sie sie öffnete, glänzte ein rundes, filigran durchbro­chenes Metallplättchen auf ihrer Handfläche. Marthe schloss die Hand wieder zur Faust und erhob sich mühsam. Sie schlang die zerfetzte Kleidung um ihren Leib und torkelte den Weg zurück zu ihrer Hütte. Dort angekommen, stieß sie die Tür auf, ließ das Metallplättchen zu Boden fallen und warf sich aufs Lager. Dann brach es aus ihr heraus. In einem Anfall verzweifelter Wut drosch sie wie wild auf den unter ihr befindlichen Strohsack ein, während ein hartes Schluchzen ihre Brust schüttelte. Doch erst als die Schläge sie ihrer Kraft völlig beraubt hatten und sie erschöpft innehielt, kamen die Tränen, und sie begann hemmungs­los zu weinen.

Wind kam auf und kündete den lang ersehnten Regen an. Seit mehr als zwei Wochen war er ausgeblieben, die ganze Zeit über war es heiß gewesen, und so waren die Straßen und Wege knochentrocken. Auch der Weg nach Wolfern.

Eine Bö fuhr heran und wirbelte Staub empor.

Christine von Falkenstein zügelte abrupt ihren Rappen und hob unwill­kürlich den Arm vors Gesicht.

»Das Gewitter wird nicht mehr lange auf sich warten lassen«, sagte sie und rieb sich die brennenden Augen, in die eine gehörige Prise Sand geraten war.

»Ja, wir sollten uns beeilen«, bestätigte Falk und sandte einen besorgten Blick zum Himmel. In der Richtung, in die sie ritten, türmten sich schwefelgelbe und schwarze Wolken. Sie gaben den Pferden die Hacken und fielen in einen mäßigen Galopp.

Nach etwa einer halben Stunde sahen sie rechts des Weges in einiger Entfernung ein einsames Gehöft liegen: den Seimer­hof. Er bestand aus mehreren Gebäuden und krönte die flache Kuppe eines Hügels. Sie ritten ein Stück weiter und kamen zu einer Stelle, wo sich der Weg gabelte.

»Ich denke, hier geht’s lang«, sagte Falk und bog auf die Abzweigung ein. Der Weg schlängelte sich in vielen Win­dungen zwischen Wiesen und Feldern hindurch, bevor er zu der sanften Erhebung hinaufführte, auf dem das Anwesen lag. Inzwischen hatten die Böen weiter zugenommen und der Himmel sich zur Gänze zugezogen; erste schwere Tropfen fielen, am Horizont zuckten Blitze, Donner grollte in der Ferne.

»Eigenartig, kein Mensch zu sehen«, sagte Falk und sprang aus dem Sattel. Mit vier Gebäudeeinheiten, die, breit verteilt, den Hügel beherrschten, war der Seimerhof größer als ver­gleich­bare Anwesen und offensichtlich gut in Schuss.

Auch Christine saß ab. »Ja, irgendwie seltsam. An­schei­nend sind alle ausgeflogen, bis auf die da«, stimmte sie mit Blick auf die Hühner und Enten zu, die gackernd und schnatternd durch­einanderliefen, während ein in die Jahre ge­kommener Hund stumm und schwanzwedelnd herbeitrottete.

Plötzlich zuckte es weißglühend vom Himmel, unmit­tel­bar darauf erfolgte ein infernalisches Krachen, die Gewitter­front hatte endgültig die Gegend um Wolfern erreicht. Als hätte der Blitz eine Schneise in das Gewölk gerissen, begannen plötzlich wahre Fluten vom Himmel zu stürzen.

»Ist wer da?«, rief Falk und zog die Gugel in die Stirn, um sein Gesicht vor der Nässe zu schützen.

Nichts rührte sich.

»Heda, ist jemand zu Hause?«, rief Falk ein zweites Mal.

Ein Windstoß fegte über den Hof, gleich darauf ertönte das Geräusch einer zuschlagenden Tür.

»Was wollt Ihr? Es is’ niemand da, alle sind weg!«, versuchte eine dünne Stimme plötzlich, das Prasseln des Regens zu übertönen.

Falk und Christine fuhren herum. Aus einem der Gebäude – es stieß zur Rechten im schiefen Winkel auf den Wohntrakt – war ein alter Mann getreten. Ungeachtet des flutenden Regens schlurfte er langsam auf die beiden zu.

»Gott zum Gruß, Gevatter!«, rief Falk und ging ihm entgegen. »Ihr sagt, es sei niemand da? Ihr seid doch da.«

»Ich zähle nicht. Ich bin nur Jos, der Knecht. Ich muss hier auf alles acht geben, bis die anderen wieder zurück sind«, erklärte Jos mürrisch.

»Peter Seimer, der Bauer, – ist er auch nicht da?«

»Nein, wie ich schon sagte. Er und die anderen sind in Ternberg, sie kommen erst morgen Nachmittag zurück.«

»Sag, Jos, könntest du mir und meiner Gemahlin Obdach gewähren, bis sich dieses Sauwetter wieder verzogen hat?« Als ob Falks Bitte Nachdruck verliehen werden sollte, zuckte erneut ein Blitz vom Himmel, dem ein ohrenbetäubender Knall folgte.

Ungerührt musterte Jos zuerst Falk, dann Christine mit einem abschätzenden Blick, während der Regen weiter auf sie eindrosch.

»Na gut, meinetwegen«, brummte er. Er ergriff die Pferde beim Zügel und führte sie in einen nahen Unterstand, wo er sie an Pflöcken festmachte. So waren die Tiere einigermaßen vor dem Wetter geschützt.

»Kommt«, sagte er dann und schlurfte auf das Haus zu, aus dem er getreten war. Gleich darauf betraten sie einen langen, dunklen Gang, von dem aus mehrere Türen in verschiedene Kammern führten. Jos öffnete eine von ihnen. Knarrend bewegte sie sich in ihren Angeln und gab den Blick in einen winzigen Raum frei, der zum Hof hin über ein kleines Fenster verfügte. Ein lediglich mit einem Strohsack versehener Bettkasten, eine roh zugehauene Bank, ein Holzklotz, der als Hocker fungierte, und ein in Hüfthöhe abgesägter Baumstamm, auf den einige Bretter genagelt waren und der wohl einen Tisch abgeben sollte, sowie ein Regal, das schief an der Wand lehnte, bildeten die kärgliche Einrichtung.

»Da«, sagte Jos und nickte mit dem Kopf zur Bank hin, die wohl kürzeste Art der Aufforderung, darauf Platz zu nehmen.

Jos ließ sich ächzend auf dem Holzklotz nieder, während Falk und Christine sich auf die Bank setzten. Das Wasser rann in Sturzbächen an ihrer Kleidung herab und bildete kleine Pfützen auf dem festgestampften Lehmboden.

Neugierig musterte Jos die beiden.

»Ihr seid hier fremd, nich wahr? Aus der Gegend seid ihr jedenfalls nich«, stellte er ungeniert fest und stützte die Ellenbogen auf den »Tisch«.

»So? Das hört sich ja fast danach an, als ob du jeden aus der Gegend kennst«, erwiderte Falk freundlich.

Jos nickte kichernd und entblößte ein paar gelbe Zahnstummel.

»Wohl, wohl. Wenn man seit über vierzig Jahren hier auf dem Hof is’, bleibt’s nich aus, dass man jeden kennt. Hierher kommen nur Leute aus der Gegend. Reisende verirren sich so gut wie nie hierher. Was sollten die auch hier wollen? Der Hof liegt weit abseits der Hauptstraße. Nein, nein, Fremde kommen nur ganz selten zu uns.«

»Zum Beispiel, wenn sie vom Wetter überrascht werden so wie wir, nicht wahr?«, sagte Falk.

Der Alte sah ihn mit einem verschlagenen Ausdruck im Blick an. Dann schüttelte er den Kopf. »Das ist nicht der Grund, warum Ihr hier seid«, grinste er wissend.

»Tatsächlich?« Falk hob überrascht die Brauen.

»Ihr habt vorhin nach Peter Seimer gefragt; er ist mein Herr und hat hier das Wirtschaften inne. Also seid Ihr hier, weil Ihr mit ihm sprechen wollt, und nicht, weil Euch das Wet­ter hierher verschlagen hat«, erklärte der Knecht trium­phierend.

»Alle Achtung. Du nennst einen scharfen Verstand dein eigen, Jos«, entgegnete Falk anerkennend. »Aber sag: Warum musst du dich allein um den Hof kümmern? Wo sind die anderen vom Gesinde?«

»Es gibt nicht viel, um das ich mich kümmern muss. Beim Kühemelken hilft mir Heiner Barth vom Nachbarhof. Pferde und Schweine füttern schaff’ ich alleine, und was sonst noch zu tun ist, hat Zeit bis morgen. Und was die anderen vom Gesinde angeht, die sind mit nach Ternberg. Els und Kuni helfen beim Buttern mit und die beiden Rudniks, Karl und Thomas, beim Räuchern der Fische.«

»Aha«, sagte Falk und versuchte zu begreifen. »Wenn ich dich recht verstehe, sind alle in Ternberg, um zu buttern und Fische zu räuchern?«

»Nun, Ihr müsst wissen, dass es schon lang Brauch ist, dass die Seimers nach Ternberg zu den Mohrs fahren, um Butter und geräucherte Forellen zu holen. Dafür nehmen sie von hier Honig und Most mit.«

»Verstehe«, murmelte Falk, was in diesem Fall eine glatte Lüge darstellte. Dass ein Bauer mit seiner Familie und fast dem gesamten Gesinde an einen verhältnismäßig weit entfernten Ort reiste, um Most und Honig gegen Butter und geräucherten Fisch einzutauschen, mutete recht eigenartig an. Andererseits hatte ihn das Leben gelehrt, dass nichts unmöglich war und so manches, was jemand als seltsam empfinden mochte, gar nicht so seltsam sein musste.

»Weißt du, wann sie zurückkehren aus Ternberg?«

»Normalerweise bleiben sie drei Tage. Aber diesmal kommen sie schon morgen wieder zurück. Peter Seimer muss nämlich am Freitag in einer Gerichtsverhandlung als Zeuge aussagen. Es geht um Jobst Heiss aus Sterydorf; er soll jemanden umgebracht haben.« Für einen kurzen Augenblick huschte ein sorgenvoller Schatten über das Gesicht des Alten.

»Tatsächlich? – Wann sind sie denn nach Ternberg aufgebrochen?«

»Heute morgen, zur ersten Tagesstunde, wie sonst auch.«

»Wie sonst auch? Das heißt, sie sind des Öfteren dort?«

»Jeden Mona…« Jos unterbrach sich und richtete sich plötzlich kerzengerade auf. Ein misstrauischer Ausdruck trat in seine Augen, dann wurde nicht nur sein Blick sondern auch seine Stimme geradezu abweisend.

»Ich denke, Ihr fragt zu viel, Herr. Wer seid Ihr? Was wollt Ihr hier?«

Falk und Christine wechselten einen überraschten Blick. In der Miene des Alten stand nicht nur Argwohn zu lesen, es flackerte auch Furcht darin.

»Wir sind Gäste des Ternbergers zu Steyr, Jos«, ergriff Christine das Wort. »Er hat uns von den Seimers erzählt. Die Vögel, die Peter Seimer für ihn geschnitzt hat, gefielen uns so gut, dass wir beschlos­sen haben, uns seine Kunst etwas näher anzusehen.«

Das Gesicht Jos’ hellte sich auf; er schien erleichtert. »Warum sagt Ihr das nicht gleich. Dann wisst Ihr bestimmt auch, dass Sofia, die Tochter des Ternbergers, mit unserer Marie befreundet ist.«

»Ja, Wernher von Ternberg hat uns davon erzählt. Offensichtlich ist sie auch nach Ternberg mitgeritten, nicht wahr?«

Jos runzelte die Stirn. »Sofia? Nein! Wie kommt Ihr denn darauf?«

»Nun, ich denke, sie ist bei Marie zu Gast?«

Der Knecht sah Christine verblüfft an. »Sie war hier. Aber sie ist schon vor Tagen nach Hause zurückgekehrt …«

Christine gab sich erst gar nicht Mühe, ihre Überraschung zu verbergen – und noch bevor sie sich den vorwurfsvollen Blicken Falks ausgesetzt sah, wurde ihr bewusst, dass sie mit ihrer leichtfertigen Frage einen groben Fehler begangen hatte.

»Tatsächlich? Nun ja – im Hause Ternberg gibt es viel zu tun. Wir selbst sind von morgens bis abends unterwegs; bisher gab es nicht allzu viele Gelegenheiten, mit den Ternbergs Gesellschaft zu pflegen. Wir werden Sofia sicher noch begegnen«, versuchte sie, den Lapsus mit einem dünnen Lächeln wieder wettzumachen.

»Sag, Jos, könntest du uns die Schnitzereien deines Herrn einmal zeigen? Dann hätten wir uns nicht vergeblich hierherbemüht«, bat Falk.

Plötzlich erfüllte ein gleißend helles Zucken die kleine Kammer, gefolgt von einem dumpfen Knall, als wollte die Erde bersten.

Doch noch überraschender als das plötzliche Aufbegehren der Elemente war die Reaktion des Knechtes.

Jos sprang auf.

Die blutleeren Lippen zusammengekniffen, das kantige Kinn vorgestreckt, starrte er Falk an. Ein renitentes Nein brannte in seinen Augen, doch im hintersten Winkel seines Blickes loderte die Angst.

»Kommt nicht infrage!«, stieß er schließlich mit rauer Stimme hervor. »Wo denkt Ihr hin? Das … das kann ich nicht. Es ist mir strengstens verboten, Fremde dorthinzuführen. Kommt wieder, wenn der Bauer da ist. Und jetzt geht! Bitte geht! Ich bringe Euch nach draußen.« Hastig schlurfte er zur Tür.

Falk und Christine erhoben sich und wechselten einen konsternierten Blick.

»Ist ja gut, Jos, ist ja gut. Es war nur eine Frage. Dann kommen wir eben wieder, wenn der Bauer da ist«, suchte Falk den Alten zu beruhigen.

Doch der war ihnen schon durch den dunklen Flur vorausgeeilt und hielt die Tür, die zum Hof hinausführte, weit auf. Kopfschüttelnd traten Falk und Christine an ihm vorbei ins Freie, während sich die Tür hinter ihnen mit einem lauten Knall wieder schloss

»Ein seltsamer Heiliger. Benimmt sich, als hättest du mit deiner Frage ein Sakrileg begangen, und macht sich vor Angst in die Bruche«, bemerkte Christine trocken, während sie über den morastigen Hof zu dem Unterstand hinübergingen, in dem die Pferde auf sie warteten.

»Ja, die Frage ist nur: Warum?«, ergänzte Falk nachdenklich.

Sie banden die Tiere von den Pflöcken und schwangen sich in den Sattel.

Als habe der letzte Donnerschlag dem Himmel befohlen, seine Schleusen zu schließen, hatte es schlagartig zu regnen aufgehört.

Durch einen vor Nässe triefenden Spätnachmittag traten sie den Heimritt nach Steyr an.

»Na endlich«, murmelte Jos erleichtert und sah den beiden aus dem winzigen Fenster nach. Um sicherzugehen, dass sie nicht doch noch zurückkehrten, wartete er, bis sie den Abhang hinuntergeritten und hinter einer Wegbiegung verschwunden waren. Dann ging er zum Regal, hob einen der umgestülpten Töpfe, die sich darauf befanden, in die Höhe und griff sich den Schlüssel, der sich darunter verbarg. So schnell er es vermochte, schlurfte er den dunklen Gang entlang und zum Hinterausgang auf den Hof hinaus. Gleich gegenüber lag ein Gebäude, das im Gegensatz zu den anderen gänzlich aus Holz errichtet worden war und auf den ersten Blick wie ein einfacher Schuppen aussah.

Jos hastete auf die Tür zu und stieß ungeduldig den Schlüssel ins Schloss. Knarzend glitt die Tür nach innen und gab den Blick in einen von diffusem Halbdunkel erfüllten Raum frei, in dem es nach Holz und Hobelspänen roch. Licht erhielt der Raum nur durch zwei kleine Fenster auf der Nordseite. Jos trat ein und schloss die Tür hinter sich. Hastig bewegte er sich zwischen unzähligen geschnitzten Holzfiguren hindurch, die gespenstische Schatten auf den gestampften Lehmfußboden warfen – eine geisterhaft anmutende Versammlung von Vögeln, Tieren und sogar menschlichen Gestalten, die trotz ihrer Starre auf seltsame Weise zu leben schienen und zugleich unheimlich und anrührend wirkten, ganz so, als ob sie darauf warteten, ihre hölzernen Leiber gegen solche aus Fleisch und Blut eintauschen zu können.

An einer Werkbank und an einem Haufen Hobelspäne vorbei schlurfte Jos zu einem Verschlag, der mit einer Tür verschlossen war, und klopfte dagegen.

»Hab keine Sorge. Du kannst rauskommen, sie sind weg. Ich werde uns jetzt was zu essen machen«, rief er mit verhaltener Stimme.

Hinter dem Verschlag rumorte es. Dann ging die Tür auf und heraus trat ein Hüne von Mann, der Jos um fast zwei Haupteslängen überragte.

»Ich danke dir, mein Freund«, sagte er und lächelte.

In seinem mit Kohle geschwärzten Gesicht leuchteten ein Paar weiße Augäpfel und eine Reihe makellos weißer Zähne.

Wo war Sofia?

Während des ganzen Rittes zurück nach Steyr hatten Christine und Falk die Frage erörtert und nach möglichen Ant­worten gesucht. Vergeblich. Auch jetzt, am Abend, während sie mit Wernher in der Gästehalle des Haupthauses am Kamin vor einem mächtigen Feuer saßen, beschäftigte sie das Problem. Allerdings nur in Gedanken, denn nach gründlicher Über­legung waren sie übereingekommen, dem Ternberger nichts über ihren Besuch auf dem Seimerhof, geschweige denn über den rätselhaften Verbleib seiner Stieftochter zu sagen. Wernher wähnte sie nach wie vor bei den Seimers; offensichtlich hatte er immer noch nicht die leiseste Ahnung, dass sie ihn an der Nase herumführte. Es war vorerst der letzte Abend, den sie miteinander verbringen sollten; bereits morgen würde der Magistrat seine schon lange geplante Reise nach Wien antreten.

»Ihr werdet Sofia vor Eurem Aufbruch also nicht mehr sehen?«, fragte Christine.

»Nein, wie ich schon sagte, sie wird erst in einigen Tagen zurückkehren«, entgegnete Wernher und nippte an dem heißen Würzwein, den er hatte kredenzen lassen. »Dann wird sie sich gebührend um Euch kümmern«, fügte er lächelnd hinzu.

»Wie Ihr uns versichert habt, ahnte Klara offenbar eine drohende Gefahr. Glaubt Ihr, dass auch Sofia davon etwas mitbekommen hat?«

Die Stirn des Ternbergers umwölkte sich. Er schüttelte den Kopf.

»Nein. Selbstverständlich unterhielten wir uns wiederholt darüber, wer sie wohl umgebracht haben könnte und warum. Dabei versicherte mir Sofia, dass sie sehr wohl gemerkt habe, dass ihre Mutter in den letzten Wochen nachdenklich und in sich gekehrt wirkte. Sie sprach mit ihr auch darüber, bekam von ihr jedoch dieselbe Antwort wie ich: Es sei das Heimweh und so weiter. Dabei ließ sie es bewenden. Als ich ihr dann das mit der Todesahnung erzählte, wirkte sie völlig verblüfft, konnte sich das Ganze aber ebenso wenig erklären wie ich. Allerdings scheint sie seitdem der fixen Idee verfallen zu sein, selbst nach dem Mörder ihrer Mutter suchen zu müssen. Immer wieder durchstöbert sie sämtliche Winkel und Ecken, inspiziert Truhen und Schränke, in der Hoffnung, irgendeinen Hinweis zu finden.«

»Wahrscheinlich, ohne bisher fündig geworden zu sein, nehme ich an.«

»Natürlich. Was dies angeht, habe ich selbst schon alles Erdenkliche getan, wie Sofia weiß. Aber sie ist einfach nicht davon abzubringen. Also lasse ich sie einfach gewähren.«

Christine nickte gedankenvoll. War das die Erklärung für Sofias rätselhaftes Verhalten?

»Verzeiht, wenn ich noch einmal danach frage, Wernher«, schaltete sich Falk ein. »Aber während unserer ersten Unterhaltung habt Ihr uns von jenem unglücklichen Streit erzählt, den Ihr mit Klara hattet, bevor Ihr nach Passau gereist seid. Wenn ich mich recht erinnere, war sie fünf Tage später bei Eurer Rückkehr – einen Tag, bevor man sie tot auffand – nicht da. Sie war am Morgen aufgebrochen und wollte abends wieder zurück sein. Wisst Ihr denn, wo sie sich zu diesem Zeitpunkt aufge­halten hat?«

»Nein. Sie hat niemandem gesagt, wohin sie reitet. Auch Sofia nicht. Hätte ich’s gewusst, wäre ich diesem Hinweis natürlich nachgegangen.«

»Als man sie fand – gab es da irgendwelche Anzeichen eines Kampfes? Hat sie sich gegen ihren Mörder gewehrt?«

»Der Stadtrichter, der die Leiche noch am Fundort untersucht hat, behauptet: nein. Sie dürfte … schnell gestorben sein.«

»Gab es irgendwelche anderen Hinweise? Etwa an der Kleidung oder an ihrem Körper?«

»Nein. – Das heißt, doch. Da gab es zwei Dinge, die etwas ungewöhnlich waren, aber darin entscheidende Hinweise sehen zu wollen, wäre wohl zu weit gegriffen.«

»Ach – und was war das?«

»Ihr Kleid. Vom rechten unteren Ärmel war ein Stück abgerissen. Außerdem … krabbelten unzählige Amei­sen darauf herum. Später stellte sich heraus, dass der Ärmel voller Honig war. Wahr­scheinlich ein kleines Missgeschick beim Essen.«

Honig! Falks Blick zuckte zu Christine hinüber. Peter Seimer. Der begnadete Holzschnitzer und allseits gelobte Bauer. Peter Seimer, der regelmäßig nach Ternberg fuhr, um Most und Honig dorthin zu liefern …

»Klara mochte Honig?«

»Aber ja doch, sie aß ihn gern zum Frühmahl.«

»Ihr sagtet, sie habe sich den Ärmel offenbar beim Frühmahl verschmutzt, bevor sie aufbrach, um …«

»Nein, nein, das habt Ihr falsch verstanden«, unterbrach der Ternberger. »Ich wollte damit lediglich ausdrücken, dass sie sich irgendwo beim Essen verschmutzt hat, wo, vermag ich Euch nicht zu sagen.«

»Also nicht hier im Haus?«

»Nein. Wäre es zu Hause geschehen, hätte Klara das Kleid natürlich sofort gewechselt. Außerdem erinnere ich mich, dass wir in jener Woche keinen Honig im Haus hatten. Das heißt, sie muss sich den Ärmel woanders beschmutzt haben.«

»Und Ihr habt nicht die leiseste Ahnung, wo?«

»Nein.«

»Könnte sie nicht auf dem Seimerhof gewesen sein?«

Wernher schüttelte den Kopf. »Dort habe ich selbstverständlich als Erstes nachgefragt. Aber dort war sie nicht.«

»Aber Ihr müsst doch eine Vorstellung davon haben, wo sich Eure Gattin aufgehalten haben könnte.«

»Glaubt mir, ich habe bei sämtlichen Personen, die infrage kommen, nachgeforscht – nichts!«

Falk runzelte die Brauen und starrte schweigend in die Flammen, die im Kamin knisterten. Ihr Flackern ließ unruhige Schatten über ihre Gesichter huschen und tauchte den Teil der Halle, in dem sie sich aufhielten, in warmes, zuckendes Rot.

»Ihr sagtet vorhin, der Stadtrichter habe den Körper Eurer Gattin noch am Fundort untersucht?«

»Ja.«

»Ich nehme an, auch die unmittelbare Umgebung?«

»Ich gehe davon aus.«

»Über das Ergebnis hat er nichts verlauten lassen?«

»Er hat mit Sicherheit nichts gefunden. Aber besser, Ihr fragt ihn selbst danach.«

Falk nickte. »Das werde ich. Gleich morgen.«

»Morgen wird er Euch nicht empfangen können. Da trifft er sich mit dem Bannrichter in Enns. Der Panhalm muss die Verhandlung am Freitag vorbereiten, bei der vielleicht der Bannrichter zugegen sein wird. Es geht um den Vorwurf des Mordes gegen einen gewissen Jobst Heiss aus Steyrdorf.«

»So?«, murmelte Falk und kramte in seinem Gedächtnis: Jobst Heiss – plötzlich fiel es ihm wieder ein. Natürlich. Die Verhandlung, bei der Peter Seimer als Zeuge aussagen würde. Jos, der Knecht vom Seimerhof, hatte ihnen erst heute Nachmittag davon erzählt.

Auch Christine hatte die Äußerung des Alten noch im Sinn. Gegenwärtig war alles, was mit Peter Seimer zusammenhing, von Interesse. »Diese Verhandlung – es geht dabei tatsächlich um Leben und Tod?«, fragte sie darum.

»Das weiß man noch nicht so genau. Ich selbst habe mich mit der Sache nicht näher beschäftigt. Aber die Tatsache, dass der Bannrichter anwesend sein wird, lässt eigentlich keinen anderen Schluss zu. Was diesen Jobst Heiss angeht, habe ich gehört, dass er ein zwielichtiger Geselle sein soll. Die Genannten, die für die Verhandlung bestimmt wurden, um den Richter bei der Urteilsfindung zu unterstützen, sind sich über seine Person nicht einig. Die einen sagen, er habe sein Opfer bewusst getötet, die anderen sprechen von einem unglücklichen Zufall. Ich schätze, Stadt- und Bann­richter wer­den sich schwertun, die Wahrheit herauszufinden.«

»Er hat derzeit eine ganze Menge um die Ohren, Euer Stadtrichter, nicht wahr?«

»Das könnt Ihr laut sagen. Zu all dem soll sich das Rußgesicht wieder in der Gegend herumtreiben. Auch dieser Sache muss er nachgehen.«

»Das ›Rußgesicht‹?«

»Ja, ein Waldenserprediger, der sich das Gesicht mit Kohle färbt und sich in den Wäldern verbirgt. Vor einigen Monaten gelang ihm die Flucht aus dem Kerker. Er verschwand zunächst spurlos, muss sich aber immer noch in der Gegend aufhalten. Der eine oder andere will ihn in den vergangenen Tagen wieder gesehen haben.«

Falk sah angespannt vor sich hin, seine Wangenmuskeln zuckten.

Wernher griff nach der Kanne mit dem Würzwein, die auf dem Kamin stand.

»Jeder noch einen Becher?«

Die Frage riss Falk aus seinen Grübeleien heraus. Er schüttelte den Kopf.

»Nein, Wernher, lasst es gut sein. Es ist Zeit fürs Lager. Für Euch kräht der Hahn morgen früher als sonst. Ihr habt eine anstrengende Reise vor Euch und auch wir sind rechtschaffen müde«, sagte er und erhob sich.

Christine folgte seinem Beispiel. Gähnend reckte sie die Glieder.

»Nun denn, lasst mich Euch noch hinüber zum Fondaco begleiten. Ein wenig frische Luft wird mir nicht schaden«, entgegnete der Ternberger und ging zur Tür.

Sie traten in den kühlen Abend hinaus; ein klarer Sternenhimmel wölbte sich über ihnen.

Vor der Türe zum Fondaco verabschiedeten sie sich.

»So Gott will, sehen wir uns in etwa einem Monat wieder. Betrachtet mein Haus als das Eure. Mein Verwalter, Hans Söhnlein, und Irmingard, meine Obermagd, sind angewiesen, Euch jedwede Unterstützung zu gewähren«, bemerkte der Ternberger, nachdem sämtliche guten Wünsche ausgetauscht worden waren.

Einem plötzlichen Impuls folgend, umarmte er seine Gäste noch einmal. Dann wandte er sich um und ging mit weit ausgreifenden Schritten zum Haupthaus zurück.

Tochter der Inquisition

Подняться наверх