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Kapitel 4

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Freitag, 31. Juli 1388

Als Christine Stunden später erwachte, stellte sie über­rascht fest, dass der Platz neben ihr leer war. Offenbar hatte Falk beschlossen, sie schlafen zu lassen, während er selbst bereits unterwegs war. Sie sah zum Fenster hinüber, durch das bereits die warmen Strahlen der Sonne fielen; vom Hof unten drang verhaltener Lärm ins Zimmer.

Christine gähnte. Sie stieg langsam aus dem Bett und ging nach nebenan in die kleine Ankleidekammer, wo sie eine Schüssel voll frischen Wassers nebst einer duftenden Seifenkugel aus Venedig und einen Stapel sauberer Tücher vorfand.

Wenig später – sie war inzwischen vollständig ange­kleidet – klopfte es an ihrer Kammertür. Es war Irmingard, die oberste Hausmagd.

»Euer Gemahl ist bereits mit meinem Herrn im Stadtrichterhaus, gnädige Frau. Sie werden um die sechste Stunde zurück sein. Wenn Ihr wollt, dürft Ihr Euch derweil in der Bibliothek umsehen. Der Majordomus, Herr Söhnlein, wird sie Euch zeigen.«

Erfreut hob Christine die Brauen. Dass es im Hause Ternberg einen solchen Raum gab, war ungewöhnlich, gestand man ihn gemeinhin doch lediglich den Klöstern zu.

»Richte dem Majordomus aus, dass es mir ein Vergnügen sein wird.«

Hans Söhnlein war trotz seines Alters von knapp fünfzig Jahren noch immer ein attraktiver Mann. Von hoher Gestalt, mit dunklem, leicht gewelltem Haar und einem Paar hellblauer Augen, die sehr sanft und heiter blickten, und ausgestattet mit ebenmäßigen Gesichtszügen, die der eine oder andere vielleicht als ein wenig zu weich ansehen mochte, bot er einen Anblick, der so mancher Frau das Herz höher schlagen ließ.

»Ich danke für die Mühe, die Ihr Euch mit mir macht«, sagte Christine, nachdem sie einander begrüßt hatten, und lächelte dem Majordomus freundlich zu.

»Aber ich bitte Euch, es ist mir eine Ehre, Frau von Falkenstein.« Die samtene Stimme des Majordomus entsprach ganz seiner äußeren Erscheinung. Er verbeugte sich galant und hielt Christine die Tür zur Bibliothek auf.

Mit Erstaunen registrierte sie die Größe des Saales; er wirkte hell und freundlich, ein Umstand, welcher der mit Butzenglasscheiben ausgestatteten Fensterreihe zu verdanken war, die nach Norden lag. Auf drei Seiten war der Raum mit gewaltigen Regalen versehen, bis zur Decke vollgestopft mit Büchern. Die Mitte beherrschte ein wuchtiger Tisch, in dessen glatt polierte Fläche wertvolle Intarsien eingelassen waren. Auf der Platte selbst thronte ein mächtiger Leuchter; flankiert wurde der Tisch von einigen gut gepolsterten, mit bequemen Armlehnen versehenen Stühlen.

Bewundernd ließ Christine ihren Blick die Regale entlangwandern. Wenn es etwas gab, das sie faszinierte, dann waren es Bücher. Von Kindheit an hatten sie eine geradezu magische Anziehungskraft auf sie ausgeübt. Immer wenn sie eine Bibliothek oder eine Schreibstube betrat, tat sie es mit fast ehrfürchtigem Staunen, obwohl ihr der Anblick von Regalen, gefüllt mit Hunderten von Buchrücken, sowie das Studium eng beschriebener und mit kunstvollen Bildern versehener, pergamentener Seiten von Jugend an vertraut war. Schließlich war sie als Tochter des Vicomte Arnaud de Blois aufgewachsen, eines adeligen Gelehrten, der an der Universität Paris Medizin und Jurisprudenz studiert und schließlich zum Doctor medicinae und Licentiatus iuris avanciert war. Vicomte Arnaud de Blois war ein Mann mit überragender Bildung gewesen, der sehr wohl wusste, dass Bücher Macht besaßen, ja sogar die Welt verändern konnten, sowohl zum Bösen als auch zum Guten. Schon früh hatte er die Geistesgaben seiner Tochter und das Potenzial, das in ihr steckte, erkannt und sie – entgegen aller Regeln – zunächst von klösterlichen Lehrern, die er gut bezahlte, in den sieben freien Künsten unterrichten lassen. Was Sprachen anging, beherrschte Christine außer Latein auch Italienisch und Deutsch. Nachdem sie Trivium und Quadrivium mit Bravour gemeistert hatte, war sie an die Schule von Salerno (an der sogar Frauen studieren durften) gewechselt, wo sie das Studium der Medizin absolviert hatte. Bei der Erinnerung an ihren Vater kamen Christine die Tränen; vor zwei Jahren bereits war er verstorben, das Vermögen, das er ihr hinterlassen hatte, versetzte sie jedoch in die Lage, ein verhältnismäßig unabhängiges und sorgenfreies Leben zu führen. Ein Leben, das sie seit drei Jahren mit Falk von Falkenstein teilte.

»Euer Schweigen lässt erkennen, wie beeindruckt Ihr seid«, sagte der Majordomus lächelnd und riss Christine aus ihren Gedanken.

»Ihr habt recht, Herr Majordomus, ich bitte um Vergebung. Aber Ihr seht mich in der Tat überrascht. Um diese Schätze würde so manches Kloster Herrn von Ternberg beneiden. Ich wusste gar nicht, wie sehr er der Liebe zu den Büchern huldigt«, entgegnete Christine ein wenig verlegen.

»Die Liebe zu den Büchern spiegelt seine Liebe zum Wissen wider.«

»Ja, ich weiß. Auch Klara war sehr wissbegierig. Sie dürfte sich dieser Bücher ebenfalls sehr ausgiebig bedient haben, nicht wahr?«

»Da habt Ihr recht. Sie hat sich sehr oft und sehr gerne hier aufgehalten«, bemerkte der Majordomus, während ein Schatten über seine Miene huschte. »Hier war übrigens ihr Lieblingsplatz.« Er schritt die Wand entlang und blieb vor einem Regal stehen, das sich in einer tiefen Nische befand; der untere Teil war mit einer Holzplatte verschlossen. »Und das hier haben wir auf ihre Anregung hin fertigen lassen«, ergänzte er. Er bückte sich kurz und überraschte Christine damit, dass er die Holzplatte nach oben klappte, bis sie mit hörbarem Klacken in eine Mechanik einrastete. Im Handumdrehen war so eine praktische Schreib­fläche entstanden. Jetzt erst nahm Christine auch den zierlichen Hocker wahr, der, hinter der Platte verborgen, von Klara offenbar immer dann her­vor­geholt worden war, wenn sie sich an die heraus­klappbare Tischplatte setzen wollte.

In diesem Moment hörten sie, wie jemand den Saal betrat. Sie wandten sich um und sahen Irmingard, die Obermagd, im Türrahmen stehen.

»Verzeiht, Herr Söhnlein, aber Ihr habt Besuch. Herr van Leyden aus Brügge ist angekommen.«

»Van Leyden? Er wollte doch erst morgen anreisen«, wunderte sich der Majordomus. »Ich bitte um Entschul­digung, Frau von Falkenstein, aber ich muss Euch nun allein lassen; die Geschäfte rufen«, fügte er, an Christine gewandt, hinzu und entfernte sich mit eiligen Schritten.

Nachdenklich betrachtete Christine die Nische, die der Majordomus als Klaras Lieblingsplatz bezeichnet hatte. Sie barg ein Regal, das über eine größere Tiefe zu verfügen schien als die anderen, sodass zu vermuten stand, dass die Bücher darin in zwei hintereinander angeordneten Reihen standen.

Christine nahm einige Bände heraus und legte sie auf die ausgezo­gene Tisch­platte. Sie fand ihre Vermutung bestätigt. Tatsächlich ließ die entstandene Lücke eine zweite Reihe von Büchern erkennen. Was ihr jedoch vor allem ins Auge stach, war ein dickes Buch, das nicht wie die anderen mit dem Buchrücken zum Betrachter im Regal stand, sondern vielmehr aufgeschlagen dalag, ganz so, als hätte jemand erst kürzlich darin gelesen und es dann zur Seite gelegt. Christine nahm es zur Hand und registrierte erstaunt, dass sie eine Ausgabe von Dante Alighieris »Divina Commedia« in italienischer Sprache in Händen hielt. Als sie umblättern wollte, fiel plötzlich ein eng beschriebenes Blatt heraus und flatterte zu Boden. Sie hob es auf und stellte überrascht fest, dass die mit schneller Hand hingeworfenen Zeilen nichts mit hehrer Dicht-, sondern mit deftiger Kochkunst zu tun hatten – es war ein schlichtes Küchenrezept, das die Herstellung eines süßen Backwerks nannte. Allerdings war es nicht auf Pergament, sondern auf Papier notiert; jenem praktischen Beschreibstoff, den man hauptsächlich aus Venedig, Genua oder anderen italienischen Städten importierte. Auch die Rückseite war beschrieben, und zwar mit einem zweizeiligen Vers. Im Gegensatz zu dem Rezept auf der Vorderseite erkannte Christine in den beiden Zeilen eindeutig die Handschrift Klaras. Die Glöckchen aus Akkon, wie lieblich ihr Klang. So nehmt denn ihr Schönen, den Tod in Empfang, las sie. Zuerst runzelte sie die Stirn, dann lächelte sie wehmütig. Sie wusste noch aus Salerno, dass Klara hin und wieder den einen oder anderen Vers geschmiedet und auf dem nächstbesten Beschreibstoff notiert hatte, um ihn nicht zu vergessen. Wahrscheinlich war dies einer davon.

Sie steckte den Zettel wieder zwischen die Seiten und legte das Buch an seinen Platz zurück. Nachdem sie die Regale einer weiteren Inaugenscheinnahme unterzogen hatte, beschloss sie, den Rest des Vormittags damit zu verbringen, in einigen Werken zu stöbern, die sich mit medizinischen Themen beschäftigten. Es würde ihr die Zeit bis zu Falks Rückkehr auf angenehme Weise verkürzen.

Tochter der Inquisition

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