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7. Neue Welt

Ich erwache früh und schlagartig.

Träume ich wieder, oder was ist geschehen?

Es ist noch früh am Morgen, aber die Luft ist bereits drückend heiß. Ich setze mich auf, mein Kreislauf hat Probleme mit dem plötzlichen Erwachen. Ich muss mich aufstützen und das Bild vor meinen Augen beginnt in einem Strudel von Farben zu verschwimmen. Ein seltsames Knistern und leichtes Schwindelgefühl signalisieren mir deutlich, nicht zu träumen, sondern nur zu schnell aufgestanden zu sein.

Langsam bewältigt mein armes Herz die neue Belastung und auch Kreislauf und Atmung stabilisieren sich im rhythmischen Einklang.

Ich sehe mich um, begreife nicht, versuche meinen Augen zu misstrauen, blicke nochmals umher, aber immer das gleiche Bild.

Das Ufer ist verschwunden, die Bäume sind in dornige Monster verwandelt und der See gleicht einer staubtrockenen Sandwüste.

Schon jetzt empfinde ich den Schmerz, die alte Welt, die endlos, aber doch friedlich, sanftmütig und voller Früchte und mir vertraut war, verloren zu haben. Ich vermisse das morgendliche Bad im vertrauten See und auch das üppige Beerenfrühstück dürfte bis auf weiteres ausfallen.

Die Sträucher, meine Verbündeten gegen Hunger und Tod, haben sich in karstiges Unterholz verwandelt. Keine Beere, die mein Gesicht süß und klebrig besudelt, kein Wanderproviant, der im Laufe des Tages meine Taschen durchtränkt, nie mehr das wunderbare Gefühl, der saftigen, zwischen Zunge und Gaumen zerplatzender Früchte.

Nie mehr, nie mehr!

Mit aller Kraft bekämpfe ich den Tagtraum. Langsam, ganz langsam befreie ich mich von Panik und Verzweiflung und versuche die neue Realität zu begreifen, versuche nicht den Horror, sondern das Glücksgefühl über den Sieg, die alte Welt verlassen zu haben, in mir zu wecken. Zwinge mich, die neue Welt als Chance zu sehen.

Trotzdem, die neue Zukunft macht mir Angst.

Ich will zurück zu meinem See, Früchte essen, schwimmen, träumen. Einfach nur leben.

Die Gedanken ziehen sich, wie eine Spirale, zu einem einzigen Punkt zusammen: Was kann ich essen? Wie kann ich hier überleben? Oder bin ich jetzt endgültig tot und ein Verdammter in der Hölle? Kein Fegefeuer, kein Teufel, aber unendliche Trockenheit.

Tagträume, Hirngespinste!

Die verdammten Tagträume greifen immer wieder nach mir.

Ich mache mich auf den Weg und hoffe darauf, die Träume hinter mir zu lassen. Vielleicht finde ich auch etwas Essbares.

Instinktiv prüfe ich den sicheren Sitz meines Schwertes. In der friedlichen Welt des Sees, meinem verlorenen kleinen Paradies, schleppte ich die todbringende Waffe nur mangels anderer Besitztümer, unnütz mit mir, aber hier ist es sicher anders. Ich fürchte, hier wird mein Leben von ihm abhängen.

In Gedanken stelle ich mir immer wieder die selben Fragen: Wie bin ich in diese Welt gekommen? Ist diese Welt feindselig? Bin ich wieder allein? Wohin soll ich gehen?

Wie eine endlose Folter, martern mich die immer gleichen Fragen - ohne Antworten.

Wieder muss ich meine Panik beherrschen: darf nicht nur Fragen stellen, muss auch Antworten finden.

Das dringendste Problem ist, Wasser zu finden.

Nach zwei bis drei Stunden Marsch ist bis zum Horizont immer nur noch karstige Wüste zu sehen. Keine Spur von Wasser oder Nahrung, nicht einmal der kleinste Baum, nur Dornengestrüpp, Sand und wieder Dornen. Meine Gedanken wandern wieder selbstständig ihren Weg.

Bin ich in der Hölle, weil ich das Paradies ablehnte, ja sogar um jeden Preis verlassen wollte?

Mein schwerer, wollener Umhang, der so archaisch, aber doch so nützlich war, erweist sich jetzt als absolut unpassend. Seine Last erhöht sich Schritt für Schritt. Mit jeder Bewegung klebt mein verschwitzter Oberkörper an der von Salz und Schweiß klebrigen Innenseite, um sich in der Folge dann wieder mit einem schmatzenden, unüberhörbaren Ton zu lösen und den Brei aus Schweiß, Wolle und Hautschuppen erneut gleichmäßig zu verteilen.

Ein frisches Bad würde alle Probleme lösen. Mein See, mein geliebter See!

Was, wenn es in dieser Welt überhaupt kein Wasser gibt?

In der alten Welt bin ich endlos gegangen und die Umwelt hat sich nicht merklich verändert. Wenn es hier auch so ist, muss ich unweigerlich sterben. Ohne Wasser halte ich keine zwei Tage durch. Hier gibt es nur Gestrüpp und Dornen. Oder heißen sie Stacheln. Das eine wächst aus dem Stamm, das andere nur an der Oberfläche. Ich muss überlegen...

Unsinn!

Es gibt nicht einmal Kakteen. Einige Sorten, bin ich mir sicher, könnte man auspressen. In Filmen hat es den Helden immer geholfen zu überleben. Oder war das nur Hollywood? Nein, es gibt Kakteen, die Wasser oder wenigstens eine genießbare Flüssigkeit enthalten.

Wieder Unsinn, hier gibt es keine Kakteen, weder die einen noch die anderen und aus staubtrockenen Dornen presst niemand Wasser.

In verzweifelter Wut ziehe ich mein Schwert und schlage den Ast eines dieser verhassten Dornensträucher mit einem Hieb ab. Alleine der splitternd trockene Ton katapultiert mich in die Wirklichkeit zurück.

Von diesen Büschen kann ich mir keine Hilfe, gegen den immer lauter werdenden Durst, erwarten.

Ich muss Wasser finden und bis dahin den Verlust durch Schwitzen so weit wie möglich verhindern, aber Schatten gibt es hier nicht.

Ach, wie vermisse ich meine Birken, den kühlen Schatten, das leise Rauschen der zierlichen Blätter im Wind, die Ruhe und Geborgenheit und den See, mehr Wasser als ich trinken könnte.

Mein Gott, wo bin ich hier, die Hölle könnte nicht schlimmer sein.

Die Sonne steht noch nicht einmal im Mittag, aber die Hitze ist schon jetzt unerträglich.

Ich kann nicht mehr, meine Füße brechen unter der Last zusammen. Ich setze mich, halb kniend, zur Seite gelehnt in den heißen Sand und versuche aus meinem Umhang eine Art Zelt zu bauen, Kopf und Schulter als Zeltstangen missbrauchend. Unten lasse ich eine offene Stelle, in der Hoffnung etwas Durchlüftung zu erreichen.

Ohne den geringsten Wind bringt aber auch das keine Erleichterung.

Stunden später erwache ich frierend in absoluter Dunkelheit. Es stimmt also, nachts wird es in der Wüste nach einem brütend heißen Tag bitter kalt.

Ich begreife nicht, wie kann man nach einem so heißen Tag so frieren?

Absolut blind, die Nacht könnte nicht schwärzer sein, taste ich nach meinem Umhang. Er ist immer noch schweißnass und übelriechend. Unglaublich wie ein Mensch stinken kann. Kein Wunder, wenn Tiere einen Menschen aus Meilen Entfernung wittern können, bei diesem Gestank.

Den Umhang eng umschlungen, das Schwert dicht an die Brust gepresst, verharre ich wie ein alter Eremit und hoffe auf ein Wunder.

Wenigstens das Durstgefühl hat in der Kälte etwas nachgelassen. Blind, hungrig und erbärmlich stinkend, dämmere ich dem Morgen entgegen.

Dieser beginnt wie der gestrige. Ebenso schnell wie die Nacht dem Tag weicht, ersetzt die Hitze die Kälte. Den kurzen Zwischenraum empfinde ich als größtes Geschenk, atme tief durch und versuche meinen wirren Geist zu ordnen.

Gepeinigt von unterdrückter Panik und Angst, treffe ich Entscheidungen und verwerfe sie wieder, stehe auf, gehe auf und ab, setze mich wieder und beginne das seltsame Schauspiel von neuem.

Es ist unmöglich einen klaren Gedanken zu fassen.

So muss es einem frischgefangenen, aus der freien Natur entführten Raubtier, nach stundenlangem Flug in einer dunklen Transportkiste und nach dem bösen Erwachen in einem Zookäfig, ergehen.

Körperlich empfinde ich die Gefühle der gedemütigten Kreatur, die gefangen, ohne Orientierung, in einer neuen, unbekannten und bösen Welt in einem ihr fremden Käfig erwacht.

Wo bleibt nur mein Pfleger, der mir Wasser und Nahrung bringt, der mir zuredet und mir erklärt, »Du wirst Dich schon eingewöhnen, es geht Dir doch gut.«

Wo bleiben die Zoobesucher, die dumm grinsend, Grimassen ziehen und mir ihre „Leckerlies“ in den Käfig werfen. Besucher, die sich wundern, warum ich ihre zuckerverschmierten, nach Plastikspielzeug, Urin und Pommesresten stinkenden Kostbarkeiten, die mich anwidern, verschmähe und mich lieber unter meinen Umhang verkrieche.

Soll ich lieber mein Schwert ziehen und gegen die Gitterstäbe rasseln? Oder mit der Pranke einen dieser blöd grinsenden, fetten Zweibeiner mit ihren noch fetteren Kindern angeln und sie durch die Gitterstäbe zerfleischen, ihr schlechtes Blut verspritzen, ihre armseligen Gedärme im Käfig verteilen und dann gelangweilt und ausgiebig gähnen?

Ich springe, den Umhang von mir schleudernd und das Schwert fest im Griff, mit einen Satz auf. Ich möchte zerfleischen, Sehnen zerschneiden und Knochen zerschmettern, Gelenke zermalmen, einfach nur zuschlagen und der grenzenlosen Wut freien Lauf lassen.

Mit Entsetzen muss ich erkennen, diese Welt hat keine Gitterstäbe, die man überwinden könnte, dieser Horror hat keine Grenzen.

Die Grenze ist der Tod!

Langsam drehe ich mich um meine eigene Achse, suche immer noch die Gitterstäbe, suche die Grenze meines Käfigs, eine Grenze, die ich überwinden kann.

Zornig stampfe ich auf den trockenen, staubigen Sand und werfe mich auf die Knie. Wie ein Hund beginne ich, mit meinen Händen zu graben: schneller, immer schneller. Nackt, nur mit den schweren Stiefeln bekleidet, schaufle ich wie irrsinnig. Das Loch ist noch keine dreißig Zentimeter tief, trotzdem läuft ständig frischer Sand nach. Ich komme nicht tiefer, kann die Grenze nicht ausgraben.

Oder grabe ich nach Wasser?

Ich grabe und grabe und weiß nicht nach was.

Der Irrsinn, der Wahnsinn des Verdurstenden hat mich eingeholt.

Immer ohnmächtiger spüre ich den Horror, der mich umkrallt. In letzter Verzweiflung zwinge ich mich zu einem klareren Gedanken, aber der blanke Wahnsinn will mich nicht loslassen.

Ich reiße meinen Umhang wie ein Schild in die Höhe, Sand ergießt sich in Mund und Augen, ich spüre es nicht.

Mein Schwert! Wo ist mein Schwert?

Jetzt kann ich es erreichen. Ich lasse mein Schwert, meine tödliche Waffe, wie die Rotorblätter eines Helikopters über meinen Kopf kreisen, greife an, schwinge meine Waffe nach unten, steche zu, drehe mich zur Seite, steche wieder zu, immer und immer wieder.

Ich spüre nicht den brennenden Schmerz in meinem überlasteten Unterarm, höre nicht das Knacken der gedehnten Schulter. Meine Muskeln drohen zu platzen. Sehnen überdehnen sich, aber ich gebe nicht auf.

Wieder und immer wieder steche ich zu, muss den Feind besiegen, muss in zügellosem Hass schreien, muss, muss, muss.

Ich mobilisiere die letzten Kraftreserven, drehe mich um, schlage noch einmal zu und sinke erschöpft und halb tot zu Boden.

Ich weine bitterlich und ein riesiger Strom aus salzigen Tränen läuft über mein sandverkrustetes Gesicht. Die letzten Kraftreserven sind aufgebraucht, ich bin am Ende.

Ich knie erschöpft, halb auf meinem Umhang, ihn immer noch mit der linken Hand umklammernd, im Sand. Mein rechter Arm hängt kraftlos nach unten und meine abgekämpfte, von Dornen zerfledderte Faust hält immer noch kraftlos das schwere, im Sand liegende Schwert fest.

Es ist vorbei, der Horror hat ein Ende, jetzt werde ich sterben, aber ich wollte doch leben, nur leben!

Ich will zurück, zurück zu meinem See, zurück zu den sanften Früchten. Ich war im Paradies und ich wollte daraus entfliehen. Mein Gott, wie dumm kann ein Mensch sein? Ich möchte umdrehen, einfach zurückgehen, wandern, wandern ins Paradies, gesund, satt und ohne Schmerzen.

Traumatisiert gehe ich weiter. Meinen Umhang und mein Schwert schleife ich kraftlos im Sand hinter mir her. An die Sonne, die meine Haut verbrennt, denke ich nicht, die roten Auswüchse der aufplatzenden Haut sehe ich nicht, die Trockenheit in meinen Rachen spüre ich nicht.

Nur zurück, zurück ins Paradies.

Die Orientierung schwindet mit jedem Schritt. Ginge ich im Kreis, ich bemerkte es nicht.

Jeder Schritt erfordert hundertprozentige Konzentration und astronomische Anstrengung.

Die Füße über den Sand zu bewegen wird immer schwieriger. Meist schleife ich nur noch über den Sand, stolpere, schlage längs auf dem heißen Sand auf, sauge den aufgewirbelten Sand tief durch beide Nasenlöcher, schnappe einen Mund voll Sand und speie ihn ohne große Wirkung wieder aus.

Meine Augen spüren den feinen Quarzstaub längst nicht mehr und die Gedanken an die scharfen Nadelstiche der Sonne, die mein Fleisch zerstören, verweigere ich.

Auf allen Vieren krieche ich zurück, zurück ins Paradies, nur zurück!

Vor einem einsamen Dornenbusch, rund um ihn nur Sand und Weite, halte ich inne, unfähig zu entscheiden, rechts oder linksherum, den Busch zu umgehen. Mein Verstand ist wie gelähmt.

Da ist die Grenze, die Gitter meines Käfigs, die Grenze, die ich suchte und die zu bekämpfen, ich jetzt zu schwach bin.

Der Busch, der verdammte Dornenbusch ist die Grenze.

Unfähig mein Schwert aus dem Sand zu heben, ziehe ich es näher an meinen sterbenden Körper.

Der Dornenbusch wandert über den Sand. Seine Dornen bewegen sich dabei wie die Stacheln eines Seeigels. Immer größer baut sich der Busch mit seinen höllischen Fratzen vor mir auf, um mich zu umklammern, um mich zu vernichten.

Alle Dornen zeigen auf mich und verhöhnen meine Schwäche.

Jetzt erkenne ich sie, es sind Beeren, saftige, blaue, riesige Beeren.

Ich muss nur aufstehen. Nur noch ein Mal. Sie pflücken, überleben.

Meinen Arm ausstrecken.

Der Busch bewegt sich wieder. Er weicht vor mir zurück, will mir die Früchte nicht gönnen.

Oder sind es nur Dornen?

Oder Stacheln?

Früchte? Blaue Beeren?

Nein, doch nur harte, trockene Dornen.

Ich habe keine Kraft mehr.

»Bitte lieber Busch bleib bei mir, komm zurück, ich will Dir kein Leid antun, nur Deine Früchte will ich essen.«

Immer weiter dämmern meine Gedanken, in ein Meer des Vergessens und des Wahnsinns. Kein Gedanke macht mehr Sinn, nichts mehr ergibt einen Zusammenhang, nur noch... Zwecklosigkeit... Sinnlosigkeit... Leere...

Das absolute Nichts hat mich eingeholt.

Lord Geward

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