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5. Land des Vergessens

Am Lagerplatz angekommen, versuche ich meine unpassende Kleidung vergeblich durch meine Lederstiefel etwas zu verbessern. Ich unternehme sogar den sinnlosen, wie auch lächerlichen Versuch, die Schnürung besonders gleichmäßig zu binden.

Wortlos nimmt Abraham Lincoln neben mir auf einem kleinen Felsen Platz, besonders darauf bedacht, die Entfernung zu meinem Schwert so groß wie möglich zu halten.

Hätte mein Besucher nicht das Wort ergriffen, ich bin sicher, ich hätte bis ans Ende aller Zeiten geschwiegen.

Formvollendet stellte er sich mit einer leicht erhebenden Bewegung, ohne Titel und Ämter, einfach nur als Rechtsanwalt Abraham Lincoln vor.

Ich versuche meinen unbedeutenden Namen möglichst unscheinbar, leise zu nuscheln und deute eine leichte Verbeugung an, immer mit der Angst im Kopf unter meinem Umhang noch nackt zu sein.

Nackt vor dem Präsidenten der Vereinigten Staaten! Ich hoffe oder bete immer noch, nur aus einem peinlichen Traum zu erwachen. Wie schön wäre es jetzt, in meinem Bett aufzuwachen und den Traum mit einem kalten Glas Cola hinunterzuspülen und abends in der Stammkneipe die tolle Geschichte nach einigen Gläsern Bier zum Besten zu geben.

Welch ein wunderbarer Gedanke, aber ich bin hier, auch wenn ich nicht weiß warum und zittere vor Scham und Unsicherheit.

Langsam wird mir bewusst, ich trage seit einer Woche keine Unterwäsche mehr und auch den Umhang nur tagsüber zum Schutz vor der Sonne.

Abraham Lincoln gibt mir ein Zeichen mich zu setzen.

»Sir, es ist nicht notwendig Euren Namen zu verbergen, der Eure ist sicher nicht weniger ehrenwert, als der meine.«

Die Blutröte schießt mir ins Gesicht, dieser Mann durchschaut meine Unsicherheit, liest in meinen Ängsten, wie in einem offenen Buch.

Nein, der Mann ist kein Hellseher, meine Ängste sind nur so offen, es bedarf nichts Übersinnliches, um mich zu durchschauen.

»Sir ich, ich wollte nicht...«, stottere ich.

Auch diesen kläglichen Versuch mich zu rechtfertigen, bricht er mit einer beinahe zärtlichen Handbewegung ab. Ein Lächeln blitzt um seinen bartumrundeten Mund und seine Augen verengen sich zu einem freundlichen Großvatergesicht.

Dieser Mann strahlt ein Gefühl von Stärke und Geborgenheit aus, wie ich es noch nie bei einem Menschen erlebt habe.

Unwiderruflich spüre ich, dieser Mann ist kein Fremder und auch kein Feind, dieser Mann ist ein Freund, nicht nur der einzige in dieser Welt, sondern auch der beste Freund, den ich je hatte.

Auf meine Kleidung blickend, fragt er: »Eine interessante Kleidung die Ihr tragt, Sir. Wie lange seid Ihr schon hier? Ich habe Euch erst vor zwei Tagen entdeckt.«

Ich überlege kurz, dann antworte ich: »Ja Sir, Sir, ähm Sir, ich glaube, ich bin sechs oder sieben Tage oder Wochen hier, Sir oder so, Sir.«

Mit einem noch breiteren Lächeln erklärt er mir, ich bräuchte nicht nervös zu sein und auch meine Angst vor ihm wäre unbegründet, er wäre auch nur ein Wanderer durch die Welten.

Ein Wanderer... auch nur... auch nur ein Wanderer durch die Welten, schießt es mir durch den Kopf. Auch er verwendet das Wort, das Wort das mir seit Tagen durch meine armen Gehirnzellen jagt.

Vielleicht bin ich doch nicht verrückt!

Außer »Ja, Sir,« und »Selbstverständlich, Sir,«, bringe ich keine weiteren Worte über meine Lippen.

Mit nachdenklicher Miene, den Kopf leicht nach unten gebeugt, erklärt er mir in beispielhafter Ruhe: »Ihre seltsame Kleidung könnte ich noch verstehen, aber der kurze Aufenthalt, wie Ihr behauptet, passt nicht zu Eurer Kleidung. Ihr müsstet mindestens dreihundert oder besser vierhundert Jahre hier sein und nicht wie Ihr sagt, wenige Tage oder Wochen! - Ich selbst bin über zweihundert Jahre hier.«

Den Schrecken, der mein Gesicht verzerrt, bemerkt er sofort.

»Wusstet Ihr das nicht?« fragt er.

Ich schüttle nur den Kopf. Auf mein unhöfliches, aber verzweifeltes Kopfschütteln reagiert er nur mit einem ebenfalls langsamen Kopfschütteln Richtung Ufer.

Lange sitzt er nur schweigend, den Blick auf den ruhigen See gerichtet, auf seinem Stein. Von Zeit zu Zeit knetet er gedankenverloren seine Hände, um Augenblicke später wieder zu erstarren und den See weiter schweigend zu fixieren.

In mir wächst der Verdacht, auch er droht, in die schrecklichen Tagträume zu versinken, doch nach einem endlos tiefen Atemzug, schaut er mich lang an und sagt: »Sir, ich glaube etwas ist schiefgegangen. Ihr gehört nicht hierher. Ich bin schon lange hier oder auch wieder nicht; für mich hat man im Augenblick nur diese Verwendung, aber Ihr seid hier falsch.«

»Ja Sir, Ihr habt Recht, ich gehöre nicht hierher. Ich weiß nicht einmal, wo ich bin, wer ich bin, oder wann ich bin. Immer wieder träume ich von einer Kindheit, die ich so niemals hatte oder von Verwandten, die nicht einmal in meinem Jahrhundert lebten. Alles ist wie in einem Albtraum«, sprudelt es wie ein Wasserfall aus mir heraus und ich bin froh, meine quälenden Fragen endlich einem Menschen stellen zu können, auch wenn ich mir keine Antworten erwarte. Oder vielleicht doch?

Lincoln beugt sich zu mir und erklärt mir energisch: «Sir, Ihr hattet keine Albträume! Im Land des Vergessens gibt es keine Albträume. Eure Träume sind nur Eure Erinnerungen.«

»Das kann nicht sein! Ich träumte von einer Kindheit - vor hunderten von Jahren - im ewigen Eis und als Erwachsener lebe ich dann im einundzwanzigsten Jahrhundert... das kann nicht sein, das gibt es nicht!« falle ich ihm unhöflich und barsch ins Wort.

»Du hast Recht, es kann nicht sein und doch ist es so. In einer anderen Zeit oder in einer anderen Welt ist es möglich. Du bist im Land des Vergessens, nur... nur... Du dürftest nichts von Deinen anderen Ich’s wissen, Du dürftest Dich nicht erinnern. Warum Du Dich erinnerst, kann ich nicht sagen!« seufzt er, mit echter Anteilnahme.

»Ich verstehe das nicht, Sir, wollen Sie mir erzählen, ich bin wiedergeboren oder so?« frage ich.

»Ja, so ähnlich, aber Du bist trotzdem immer Du selbst.«

»Das begreife ich nicht, Sir: Sind Sie auch wiedergeboren?«

Lincoln belustigt: »Ja sicher, bestimmt schon tausende Male oder mehr, aber ich kann mich an meine anderen Ich’s nicht erinnern. Ich bin nur Rechtsanwalt Abraham Lincoln, Sohn von Tom Lincoln, am 12. Februar 1809 in Kentucky geboren.«

»Aber Sir, Sie sind oder waren Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika,« sage ich verzweifelt.

»Davon weiß ich nichts«, erwidert er ungewöhnlich scharf.

»Aber Sir, Sie beendeten die Sklaverei. Sie verursachten einen Krieg zwischen dem Norden und dem Süden.«

Leise füge ich noch »Bürgerkrieg« hinzu, dann schweige ich. Meine Gedanken purzeln durcheinander, was habe ich da gesagt? Mit welchem Recht spreche ich über Dinge, von denen ich nicht einmal ansatzweise eine Ahnung habe. Mein Ton gegenüber dem Präsidenten war so, sicher nicht angebracht.

Abraham Lincoln richtet sich langsam auf und beginnt langsam, fast wie in Trance, zu sich selbst zu sprechen.

»Ja, gegen die Ausbeutung, Unterdrückung und Ungerechtigkeit habe ich gekämpft. Ich erinnere mich dunkel, an einen meiner Sätze:

„DA ICH KEIN SKLAVE SEIN MÖCHTE; WILL ICH AUCH KEIN SKLAVENBESITZER SEIN. DIES DRÜCKT MEINE VORSTELLUNG VON DEMOKRATIE AUS“.

Ich erinnere mich auch an meinen Vater, ich glaube, er war Schreiner. Seltsam, ich kann mich kaum mehr an seinen Beruf erinnern. Aber von einem Krieg weiß ich nichts! Nein, ich habe noch nie Krieg geführt, ich habe Gewalt immer abgelehnt!« philosophiert Abraham Lincoln, der mir jetzt bedeutend älter erscheint und ich glaube zu bemerken, wie seine Ausdrucksweise immer legerer wird. Ja richtig, er spricht mich seit einigen Sätzen mit „Du“ an und nicht mehr mit dem seltsamen Sir. Ich jedoch bleibe bei dem höflichen Sir, nachdem ich mich langsam daran gewöhne.

»Sir, da müsst Ihr Euch irren« widerspreche ich.

Abraham Lincoln setzt sich wieder, genauso bedächtig wie er aufgestanden war und erstarrt in Schweigen.

Meine Gedanken drehen sich im Strudel des Begreifens, um im nächsten Augenblick von der Verwirrtheit wieder eingeholt zu werden. Lebe ich noch oder bin ich bereits tot? Wurde ich wiedergeboren? Nein, eine Wiedergeburt kann es nicht sein, ich weiß ja alles über mich, oder doch nicht?

Dieser Lincoln, ein Präsident aus der Vergangenheit, der vorgibt sich an immer weniger zu erinnern.

Wieso ist er hier? Wieso bin ich hier? Wo ist hier, eigentlich?

Sagt er nicht die Wahrheit? Lügt er und ist er nur hier, um mich auszuhorchen? Oder ist er nur ein Trugbild meiner Phantasie?

Nein, er ist nicht mein Feind. Ich bin mir absolut sicher, er ist mein Freund, wenn auch ein Freund, der immer mehr vergisst. Ich schäme mich für meine Gedanken, in denen ich über den erinnerungslosen Präsidenten schmunzle, eigentlich sogar herzhaft lache.

Ich erinnere mich an seine Worte: Nur ich könne mich erinnern und dies sei im Land des Vergessens doch sehr ungewöhnlich. Ich bin alleine, bin der einzig Wissende, der doch nichts weiß und nichts begreift.

Schmerzlich gestehe ich mir ein, meine Fragen sind nur zusammen mit meinem vergesslichen, neuen Freund zu beantworten.

»Mister Präsident« starte ich einen neuen Versuch.

Abraham Lincoln fällt mir ins Wort: »Nein, bitte nicht Präsident, nenne mich einfach Abraham.«

Ich versuche ihm noch kurz zu erklären, ich hielte das nicht für angebracht, aber er erklärt mir: »Abraham ist völlig ausreichend, hier gibt es weder Rang noch Titel.«

Im Grunde erleichtert, das mir - wenn ich ehrlich bin - ungeläufige „Sir“ weglassen zu können, setze ich mich näher zu ihm. Doch auch der persönliche Umgangston mit dem Präsidenten, den ich bereits als Kind für seinen aufopfernden Einsatz für die Schwächeren bewunderte, fällt mir schwer.

Ich bitte ihn, mir alles über diesen seltsamen Ort zu erzählen.

Schnell stelle ich aber fest, Lincolns Wissen über seine eigene Person, als erwachsener Mann, ist nicht sehr umfangreich oder er hat im Land des Vergessens tatsächlich alles vergessen; aber über dieses Land weiß er doch einiges.

Er erzählt, außer mir hier noch nie einen anderen Menschen getroffen zu haben. Lincoln ist sich sicher, das Land ist grenzenlos und ein Mann könnte endlos wandern und doch kein Ende finden.

Da war das Wort, das immer wiederkehrende Wort, das fortwährend meine grauen Gehirnzellen beschäftigt: Wandern, Wanderer. Auch Abraham sprach vom Wandern und er bestätigt die Endlosigkeit dieser seltsamen Welt.

Liege ich mit meiner Vermutung gar nicht so falsch und vielleicht bin ich doch nicht verrückt?

Aber wo bin ich dann?

Besonders interessant, finde ich Lincolns Bemerkung über den See. Er ist sich sicher, das Tal und der See waren die Heimat seiner Kindheit. Die Beeren, die mein Überleben sicherten, waren als Kind seine Lieblingsfrüchte.

Er erzählt mir begeistert bis in jedes Detail über die mit kleinen Walnussschalen ausgefochtenen Seeschlachten und wie er in diesem See seine ersten Schwimmversuche unternahm. Auch die kleine Bucht, in der wir jetzt zusammensitzen, verfolgte ihn sein ganzes Leben. Immer wieder zog es ihn an seine Bucht zurück, um Sorgen zu verarbeiten, um sich zu konzentrieren oder einfach nur, um an seinen Wurzeln festzuhalten. Auch seine erste Pfeife mit Tabak, den er seinem Großvater unterschlug, rauchte er mit Freunden unter diesen Bäumen.

Lincoln erzählt mir noch viele Erlebnisse aus seiner Kindheit. Trotz mehrfachem Nachfragen kann er sich aber mittlerweile nicht einmal mehr an seinen Beruf als Rechtsanwalt erinnern. Ich versuche ihn noch einmal an sein Amt als Präsident zu erinnern, aber er würgt mich sofort im Ansatz ab.

Fast unmerklich, schleichend bemerke ich seine immer einfacher werdende Sprache. Auch das Charismatische an seiner Person scheint verloren zu gehen. Oder täusche ich mich, da er mir so vieles aus seiner eigentlich ganz normalen Kindheit erzählt und nichts von dem, in Geschichtsbüchern gelehrten Meilensteinen seines Wirkens?

Nein, schmerzlich muss ich die Wahrheit akzeptieren, er vergisst immer schneller. Seine Erinnerungen verblassen immer mehr, seine Sprache wird stetig langsamer, bis er schließlich ganz verstummt und einschläft.

In eigene Gedanken versinkend, wache ich noch Stunden über dem schlafenden Präsidenten, bis ich selbst in tiefen Schlummer falle.

Lord Geward

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