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Оглавление4. Der Fremde
Mein Entschluss der Sonne zu folgen, erweist sich als weitaus schwieriger, als ich dachte.
Morgens hatte ich die Sonne im Rücken. Aber die Idee, am Vormittag meinem eigenen Schatten zu folgen, war nicht praktikabel und ab der Mittagszeit ist entgültig keine Orientierung mehr möglich.
Nach und nach lerne ich nicht nach der Sonne zu gehen, sondern mir einen Punkt am Horizont, einen Hügel, Baum oder Felsen, in westlicher Richtung zu suchen und diesem unerbittlich zu folgen.
Eine Sorge erweist sich als grundlos: Wasser und süße Beeren gibt es zu jeder Zeit reichlich. Nur meine Verdauung sorgt in peinlicher Regelmäßigkeit für Probleme: wegen den Bergen von Früchten, die ich in mich hineinstopfe und nur mit Wasser verdünne.
In den nächsten Tagen beschleicht mich immer öfter die Angst, was in ein paar Tagen oder Wochen sein wird, wenn die Beeren ausgereift sind und vertrocknet vom Strauch fallen.
Das Abschätzen der eigenen Leistungsfähigkeit und die dadurch optimierten Pausen und Marschzeiten werden immer effizienter. Zu meiner eigenen Überraschung gewöhne ich mich schnell an die monotone Regelmäßigkeit der Rast und Marschzeiten und Tag für Tag wächst die zurückgelegte Wegstrecke.
Auch meine roh und grob aussehenden Stiefel erweisen sich als ausgezeichnete Wanderwerkzeuge. Sie sind weich, aber auch außerordentlich griffig, und der hohe Schaft schützt mich vorzüglich vor niederen Dornen und scharfen Grashalmen.
Das schwere, unhandliche Schwert, das mich anfangs beim Gehen sehr behinderte, das ich bisweilen verzweifelt mit beiden Armen über dem Kopf, fluchend im Nacken trug, stellt kein Problem mehr dar. Der entscheidende Trick ist, den Takt beim Gehen, einem Betrunkenen gleich, dem Pendeln des Schwertes anzupassen.
Die Angst vor den gefürchteten Tagträumen wird Tag für Tag schwächer. Jedoch achte ich in den Marschzeiten peinlichst genau darauf, nicht in Gedanken abzuschweifen und mein ausgesuchtes Peilobjekt fest im Auge zu behalten. Nach und nach entwickle ich mich zum wahren Meister im Nichtdenken.
Nach wie vor habe ich nicht den Hauch einer Ahnung, wo ich mich befinde oder was ich hier soll. Ein Tal reihte sich an das andere. Jedes Tal gleicht dem vorigen; bisweilen glaube ich, im Kreis zu gehen.
»Dieses Land muss wohl endlos sein.«, spreche ich laut zu mir selbst.
Am sechsten Tag oder ist es erst der fünfte, versuche ich meine Schrittlänge zu schätzen und zähle meine Schritte. Am Abend erreiche ich wieder einen See, der sich, wie nicht anders erwartet, nur unwesentlich von den Gewässern der Vortage unterscheidet. Ich rechne mir aus und stelle erschreckt fest, dass ich bereits über zweihundert Kilometer in diesem seltsamen Land zurückgelegt haben muss, und das ganze ohne ein Anzeichen von Menschen, Zivilisation oder anderem Leben. Nicht einmal die immer lästigen Fliegen gibt es hier, die sonst jede Gelegenheit wahrnehmen, auf Rücken und Stirn ihre Schweißmahlzeiten einzunehmen. Keine Straßen, keine Wege. Auch die vertrauten Kondensstreifen der Flugzeuge in tausenden Meter Höhe sind nicht auszumachen. Dieses Land ist friedlich und wunderschön, und doch irgendwie leer und tot.
Eine neue Angst reißt mich mit sich: Wenn ich der einzige Mensch, das einzige Lebewesen in diesem unendlichen Land bin, der einzige Mensch auf der Welt??? Was dann?
Bin ich der erste Mensch? Aber wo bleibt Eva? Oder bin ich der letzte Mensch?
Ja, ein Atomschlag, das Gleichgewicht der Kräfte, gegenseitige Abschreckung durch totale gegenseitige Vernichtung hatte versagt.
Ja, so muss es sein! Die Menschheit ist ausgerottet und alles Leben ist tot.
Ich bin der Einzige, der Letzte, der Verdammte, verurteilt als mahnendes Beispiel zu wandern bis ans Ende aller Zeiten.
Welches Ende? Was ist am Ende? Wie ist das Ende?
Verdursten und Verhungern, wenn keine Beeren mehr reif sind! Steht der Wahnsinn am Ende, wartet er schon auf mich? Lauert er im nächsten Tal, am nächsten See?
Alleine, der Einzige, der Letzte.
Am Ende, zerfressen von tödlicher Strahlung.
Nicht der Wanderer, nicht der Römische Krieger, nur das radioaktiv verseuchte Mahnmal des Schreckens.
Stop, Stop, Stop!!!
Tagträume, nur Tagträume, das Land der Tagträume hätte mich beinahe wieder eingeholt.
Nein, ein Atomschlag ist unmöglich. Ich betrachte meine Kleidung, die mir längst nicht mehr fremd ist. Auch mein Schwert, der bleischwere Begleiter, für den ich keine Verwendung habe, gehört genauso wenig zu mir wie die handgenähten Stiefel. Nein, nein, kein Atomschlag könnte meine Kleidung so verändern!
Es muss etwas anderes geschehen sein.
Vorsichtig, um nicht wieder in Tagträume abzugleiten, versuche ich meine Gedanken, die in alle Winkel meines Gehirns verstreut sind, zu sortieren, versuche mich zu erinnern.
Ich habe Kaffee gemacht und mich für ein Marmeladenbrot entschieden, der Aufzug, mein Daimler, habe stolz meine erste Robbe erlegt und meinen Großvater im Büro besucht, der mir erklärt hat, Hausverwalter sei der undankbarste Job der Welt...
Unsinn!
Ich wollte mit meinem Daimler zur Arbeit fahren, mir wurde übel und ich musste mich übergeben, dann wachte ich auf einer mit Morgentau benetzten Wiese in dieser archaischen Kleidung auf.
Bin ich tot?
Das Paradies habe ich mir anders vorgestellt. Ein Paradies ohne Menschen, sogar ohne Leben. Ein „vegetarisches“ irgendwie steriles Paradies und ich als einziges fleischliches Lebewesen?
Auch meine stählerne, tödliche Waffe am Gürtel spricht dagegen.
Was, wenn die Religion sich irrt, das Leben nach dem Tod eine unendliche Wanderung bis zum Ende aller Tage, bis zum Jüngsten Gericht bedeutet?
Habe ich mir etwas vorzuwerfen? Wer wird mich richten und nach welchen Maßstäben, nach welchen Gesetzen? Wer wird mich verteidigen, meine teure, noch nie benötigte Rechtsschutzversicherung wird mir hier sicher nicht helfen. Wer wird für mich sprechen? Ist das Jüngste Gericht überhaupt ein Gericht, oder nur ein Gerücht, oder einfach die Erfindung der Kirche, um ihre Schäfchen, ihre vielleicht dummen Schäfchen, gefügig zu machen?
Vielleicht urteilt man nur über mich, hört mich gar nicht an, aber ich habe ein Recht auf Verteidigung! Mein Gott, welches Recht?
Meine Kirchenbesuche waren zugegebenermaßen sehr selten und das letzte Mal zur heiligen Kommunion.
Abgesehen vom verhassten Klosterkindergarten - in dem wir Kinder, wie hilflose Schäfchen, mit nach vorne auf dem Tisch, auf unseren verschränkten Armen gebeugten Köpfen, unsere Mittagsruhe verbringen mussten und die strengen Augen der schwarzen Schwestern fürchteten - war ich ein schlechter Kirchengänger. Ach, wie hasste ich die selbstherrlichen, selbstgerechten und ungerechten, alles besserwissenden, schwarzen Schwestern. Noch lange, bis zu meinem zwölften Lebensjahr, träumte ich von ihren geröteten, alten, bösen Augen und an Spinnenbeine erinnernden faltigen Händen.
Mein Kirchenaustritt - mit zweiundzwanzig Jahren, um letztendlich nur Steuern zu sparen - wird meine Lage vor dem Jüngsten Gericht sicher auch nicht verbessern, aber wenigstens konnte ich mit dem Austritt ein dunkles Kapitel meiner Kindheit abschließen.
Ansonsten war ich aber doch ein ordentlicher Mensch, oder?
Bis auf ein paar Notlügen - die meisten um die Schule oder später die Arbeit zu schwänzen, um ungeliebte Arbeit einem Kollegen zuzuschieben oder ein paar Biere bei einer Alkoholkontrolle runterzurechnen - habe ich niemanden belogen oder betrogen.
Wenigstens nicht mit Absicht.
Absicht, na ja, meinen Chef habe ich, nach durchzechter Nacht schon belogen: Da habe ich mich doch des Öfteren krank gemeldet. Aber krank ist, wenn man sich körperlich gebrechlich fühlt; genau wie eben nach einer Kneipentour. Sich krank zu melden, ist demnach nicht einmal eine Lüge, sondern die reine Wahrheit oder wenigstens beinahe.
Toll, der erste Teil meiner Verteidigung ist abgehakt.
Wie ist es aber mit meinen mangelhaften Kirchenbesuchen? Das dürfte kein Problem sein: Kirche ist nicht gleich Glauben!
Glauben, da ist mein Problem! - Habe ich den richtigen Glauben? Hinduismus, Buddhismus, christlicher Glaube oder der Islam oder doch besser das Judentum. Wie soll man da noch den Überblick behalten und sich richtig entscheiden?
Genau die große Auswahl hat verhindert, dass ich mich entschieden habe. Für das Thema „mangelnder Glaube“ habe ich nun auch die richtigen Argumente oder wenigstens Ausreden.
Meine Verteidigung steht, wenn, ja wenn, ich mich verteidigen darf.
Keine schlechte Ausgangsbasis. Außer, Ja... außer, wenn es stimmt, und Gott uns ins Herz schauen kann, dann, ja dann ist meine ganze Notlügenkonstruktion nutzlos.
Mein Gott, wie soll man sich auf eine Verhandlung vorbereiten, wenn... wenn einem niemand...
Ein Geräusch, so natürlich wie bedrohlich, wirft mich jäh aus meinen Gedanken zurück in die neue, undurchschaubare Realität.
Zum erstenmal, seit ich hier bin, höre ich dieses Geräusch: einen Ton, den ich sicherlich schon tausende Male, ohne ihn zu beachten, hörte. Ein Laut, der in meiner Welt keine Bedrohung darstellte, aber hier, in dieser stummen und toten Welt, ist das Geräusch so unnatürlich, so erschreckend.
Ich umklammere mit übermenschlicher Kraft den Knauf meines Schwertes. In mir explodiert die Angst... Ich habe keine Ahnung und keinerlei Erfahrung - außer den unzähligen Ritterfilmen, die Lieblingsfilme meiner Kindheit - im Umgang mit der mir so fremden Waffe.
Prinz Eisenherz wäre jetzt der richtige Freund oder König Artus und seine Tafelrunde.
Wieder das furchterregende Geräusch, das Geräusch von brechenden, zersplitternden Ästen. Äste, die unter dem Druck gewaltiger Füße oder sogar Pfoten zerbrechen.
Ich ducke mich, wie im Kriegseinsatz, hinter einen der unzähligen niederen Büsche, verfluche das schlagende Geräusch meines Schwertes gegen einen kleinen Felsen und zittere, still der Dinge harrend.
Die Zeit verrinnt und ich wage nicht zu atmen, spüre die gewaltigen pumpenden Schläge meiner Hauptschlagader am Hals, bewege mich nicht mehr, spüre den Druck in meiner Blase ausgerechnet jetzt urinieren zu müssen und kämpfe gegen den Harndrang an. Erst jetzt erkenne ich das Problem, mein Schwert in gebückter Haltung nicht ziehen zu können.
Wieder das deutliche Splittern von Holz; immer näher und doch kann ich nichts erkennen.
Old Shatterhand, der Held meiner Kindheit, hätte sofort erkannt welches Tier, Rothaut oder Bleichgesicht sich ihm näherte, hätte sicher seinen Bruder Winnetou an seinen Schritten erkannt, mir aber drückt die nackte Angst den Adamsapfel gegen den Gaumen. Ich kann nicht einmal erkennen, wie viele Füße - zwei oder vier - das Grauen hat. Die Trockenheit zwischen Zunge und Rachen gleicht der Dürre der Sahara.
Jetzt glaube ich etwas zu erkennen.
Mein Rücken verspannt sich und jede einzelne Bandscheibe, geschädigt durch jahrelange Bürofolter, bäumt sich gegen den einseitigen Druck der ziehenden Muskulatur auf.
Träume ich schon wieder?
Nein, diesmal ist es kein Traum, die Panik ist begründet, die Angst real.
Ich kann nichts erkennen. Es ist absolut still, ich spüre oder besser ich höre jeden Pulsschlag in meinen Ohren klopfen und jeder Pulsschlag endet mit einem Paukenschlag auf mein geplagtes Trommelfell.
Nichts zu hören, absolut nichts!
Meine Panik weicht langsam einer tiefen, bohrenden Unsicherheit. Habe ich mir alles nur eingebildet, oder werde ich langsam verrückt?
Robinson Crusoe hielt viel länger in der Einsamkeit durch. Aber Crusoe war nur eine von Daniel Defoe in Worten gefasste Fantasie; nicht real, nicht wirklich.
Bin ich, überhaupt real, bin ich wirklich?
Mir fällt ein, Daniel Defoe hat die Geschichte nicht frei erfunden, sondern nur die wahren Erlebnisse eines Fischers ausgeschmückt und ausgezeichnet nacherzählt. Vielleicht entsprechen auch die langen, durchgehaltenen Jahre Robinson Crusoes der Wahrheit und ich werde nicht verrückt, habe noch eine Chance.
Minutenlang lausche ich und versuche erfolglos die Dunkelheit zu durchbrechen. Im Vollmond könnte ich sehen, aber jetzt? Keine Chance. Der Mond, Neumond, Vollmond, es gibt keinen Mond. Auch die letzten Nächte waren dunkel und tief schwarz.
Es gibt hier keinen Mond! Die Tatsache erschreckt mich mehr, als die Dunkelheit.
Phantasiere ich schon wieder? Nein, das Traumland ist weit weg, alles ist echt. Ich höre nur die Stille. Und hier ist nichts!!
Der Trommelwirbel in meinen Ohren wird langsamer und sachter und auch der Druck in meiner Kehle lässt langsam nach.
Habe ich mir doch alles nur eingebildet?
Diese Nacht verbringe ich in leicht gebeugter, angespannter Haltung und auch von meinem Schwert möchte ich mich nicht trennen. Es gibt mir Halt und Sicherheit, auch wenn ich zugeben muss, im Ernstfall wäre es mir sicher mehr hinderlich, als hilfreich.
Um jederzeit kampfbereit zu sein, lege ich es neben mich und behalte den Knauf fest in der rechten, schweißnassen Hand.
Mit weiteren Anstrengungen in der Stille doch noch ein Geräusch wahrzunehmen, falle ich in einen unruhigen, durch wirre Phantasien immer wieder unterbrochenen, wenig erholsamen Schlaf.
Der neue Morgen begrüßt mich mit einem hellen Strahlen. Das Licht ist mein Befreier, mein Retter, nichts Schöneres könnte ich mir nach der schwarzen, nicht enden wollenden Nacht vorstellen.
Die warmen Strahlen der Sonne pflegen meine gedehnten Sehnen und Gelenke und allmählich schafft es mein starrer, leicht unterkühlter Körper sich von den nächtlichen Strapazen zu befreien und ich bewege mich ein paar Schritte Richtung Wasser.
Heute fällt mir das tägliche Bad im See schwer und ich überlege schon die Erfrischung ausfallen zu lassen.
Nach den ersten Schwimmzügen ist dieser Gedanke vergessen: Zug um Zug erholt sich mein Körper, die Gedanken befreien sich von den Fesseln der durchwachten Nacht und das Gefühl der Freiheit und Zufriedenheit scheint alles zu beherrschen.
Wieder zurück am Ufer, nach meinem obligatorischen Beerenfrühstück, wage ich einen neuen Versuch meine Situation zu analysieren. Ich muss einfach wissen, was hier vorgeht!
Jeder Tag und jeder Morgen ist gleich. Bis auf wenige Kleinigkeiten gleicht ein Tag dem anderen; ich weiß nicht einmal mehr, wie viele Tage ich bereits durch dieses seltsame Land wandere.
Geht es mir wie Bill Murray im Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“? Ich habe den Film bestimmt hunderte Male auf Video gesehen, na ja, wahrscheinlich doch nur zehn oder fünfzehn Mal.
Geht es auch mir so? Drehe auch ich mich im Kreis und ein und der selbe Tag, beginnt täglich neu? Bin ich dazu verdammt oder ausersehen, täglich im See zu baden und mich für immer von den immer gleichen Beeren zu ernähren?
Es stimmt, jeder Morgen ist gleich, jeder Tag ist gleich. Aber er ist nicht der selbe.
In den Anfängen der Filmkunst - ohne Blue Box, Videoleinwand und digitaler Nacharbeit am Computer, noch tonlos und in schwarzweiß - erfanden ideenreiche Filmemacher den einfachen, wie effektvollen Trick im Studio einen fahrenden Zug in realistischer Bewegung darzustellen.
Eine detailgetreu bemalte Leinwand wurde endlos am Fenster abgespult. Somit hatte der Zuschauer den Eindruck von vorbeirasenden Landschaften. Die nach einiger Zeit sich wiederholende Szene bemerkte er nicht.
Bin auch ich Gast in einem endlosen, sich wiederholendem Film?
Sicher, täglich wechseln die Landschaften, aber im Grunde sind sie doch immer gleich. Der See, das Ufer, mein Lagerplatz, einmal größer, einmal kleiner: aber doch immer gleich.
Ich packe, in dem Bewusstsein jetzt keine Antwort zu finden, die Fragen beiseite und konzentriere mich auf die Erlebnisse der letzten Nacht. Ich muss klären, in wie weit ich nur träumte oder mich tatsächlich ein nächtlicher Besucher beobachtete.
Woher kamen die Geräusche? Ich schließe die Augen und versuche mich zu erinnern. Wie auf Befehl erhöht mein Herzmuskel seine Taktfrequenz, mein Trommelfell beginnt zu pochen und die angespannte Angst ist wieder deutlich zu spüren.
Jetzt bin ich mir sicher, hinter dem Strauch, den ich gestern systematisch abweidete, waren die Geräusche.
Ich kämpfe mich durch das Dickicht hinter dem Strauch. Zerquetschte Beeren kleben an mir, obwohl ich sicher bin, den Strauch gestern bis auf die letzte Beere geleert zu haben.
Diesen Widerspruch verwerfend, oder nur verdrängend, mühe ich mich weiter durch tausende alter, trockener Äste. Das Dickicht stellt sich mir gleich einer mit Stacheldraht geschützten Kasernenmauer entgegen. Ein Schutzwall aus dem Gewirr unzähliger, abgestorbener Äste, mit frischem Holz undurchdringlich verwoben. Eine perfekte Statik der Natur, die jedes Weiterkommen unmöglich macht.
Enttäuscht trete ich den Rückzug, den einzigen gangbaren Weg, an.
Ich entscheide, dem Geheimnis aus der anderen Richtung auf die Spur zu kommen.
Das Umgehen des kleinen Wäldchens bereitet keine Probleme. Ich achte genau darauf, die Orientierung nicht zu verlieren, um exakt hinter der Sträucherwand meine Suche fortsetzen zu können. Eine Suche, deren Ergebnis die Schrecken des Wahnsinns oder die Angst nicht alleine zu sein, bringen wird.
Ich nähere mich mit größter Vorsicht, um keine Spuren zu vernichten oder wie Robinson Crusoe auf seine eigenen hereinzufallen, suche fieberhaft nach geknickten Zweigen, bis mir einfällt, mein nächtlicher Besucher hätte die Äste sicherlich, wie auch ich, nur gestreift und nicht in Hüfthöhe abgeknickt. Guter alter Karl May, bei Dir gab es immer einen geknickten Strohhalm, oder besser ein verlorenes Taschentuch, das den Weg markierte oder die Spur verriet. Aber ich, ich kann nichts entdecken.
Meter um Meter mühe ich mich über den durch hohe Bäume in zartes, goldenes Dämmerlicht getauchten Waldboden.
Wenige Meter vor meinem vermuteten Ziel gehe ich zu Boden, die Augen direkt über dem Waldboden und suche die Umgebung Zentimeter für Zentimeter akribisch ab. Ein Fährtenhund hätte sicher in mir seinen Meister gefunden.
Da ist er, der Beweis, den ich mit aller Kraft herbeisehnte: Ein kleiner Ast, keinen Zentimeter dick und in der Mitte gebrochen. Ehrfürchtig, mit rasendem Herzen und hämmernden Puls, hebe ich meine Trophäe auf und trage sie aus dem Dämmerlicht ins Freie.
Mit zitternden Händen betrachte ich meinen Fund. Die Bruchstelle strahlt frisch und saftig in der hellen Morgensonne. Der Fund des Heiligen Grals wäre sicher nichts gegen meinen Schatz. Immer wieder drehe und wende ich meine Kostbarkeit, als wartete ich auf ein Wunder oder einen Geist - einen Gin - der mir alles erklärt und mich fragt, welchen Wunsch ich hätte. Aber die Botschaft ist eindeutig.
Ich bin nicht alleine!
Es gibt noch anderes Leben in dieser unendlichen Kulisse, in der Welt der Wiederholungen.
Ich habe keine Zweifel oder vielleicht auch nur den Wunsch mein nächtlicher Besucher möge auch nur ein friedlicher Wanderer sein.
Jede Zelle in meinem Körper ist sich sicher: Kein Tier! Ein Mensch, ein Freund, ein Verbündeter.
Der Gedanke einen Verbündeten zu brauchen, macht mir erneut Angst. Hier gibt es keine Gefahren, alles ist friedlich und ruhig. Im Paradies gibt es nichts gefährliches, rede ich mir ein.
Mein Schwert, die Verkörperung von Gefahr, lehnt friedlich am Felsen, dicht am Lagerplatz. Wie ist eine so tödliche Waffe im Paradies möglich? Im Paradies der endlosen Kulisse.
Mich aus meinen Gedanken zwingend, beschließe ich, meinen Marsch nach Westen hier zu beenden.
Nach einem zweiten Beerenfrühstück, an das sich mein Magen und Darm zwischenzeitlich gut gewöhnt hat, gehe ich zu der mir liebgewonnenen Tagesordnung über.
Ein ruhiges, aber ausgiebiges Bad im vormittäglichen See belebt mich auf wundersame Weise. Auch dieser See ist - nach Wochen - wie der erste. Ja, eine andere Uferlinie und auch andere Pflanzen am Ufer, der gestrige See hatte sogar eine kleine Insel... und doch irgendwie der gleiche.
Nach der Seemitte wende ich und begebe mich auf den Weg zurück zum Ufer. Jetzt sind es noch etwas mehr als zweihundert Meter, aber die kleine Bucht vor meinem Lagerplatz hat sich verändert.
Nein, nicht verändert!
Irgend etwas, irgend jemand steht unmittelbar am Wasser.
Explosionsartig überschwemmt mich ein Strom Adrenalin und auch die beginnende Kühle in meinem Körper verwandelt sich in einen blitzartigen Wärmeschub.
Sofort stelle ich jede Schwimmbewegung ein und beobachte die kleinen, von mir ausgehenden Wellen, bis sie den Strand erreichen und den weichen Sand zart streicheln, aber in Gedanken sehe ich riesige Brecher, die an Land branden und mich verraten.
Ich weiß, ich wurde längst entdeckt und der Fremde lässt mich nicht mehr aus den Augen. Aus diesem Wasser kann ich ihm nicht entkommen. Trotz größtem Wiederstreben setze ich meine Schwimmbewegungen fort, jedoch noch langsamer und bedächtiger als vorher.
Mit jeder Bewegung erkenne ich mehr Details des Fremden.
Ein Mann, der nicht unpassender gekleidet hätte sein können. Deutlich erkenne ich einen riesigen, tiefschwarz glänzenden Zylinder und einen makellos sitzenden Anzug oder Frack, wie ich ihn nur aus alten Filmen kenne.
Auf den letzten zwanzig Metern entdecke ich einen hageren, großen, aufrechtstehenden, nicht mehr ganz jungen Gentleman - eine andere Bezeichnung fällt mir nicht ein - mit vollem, leicht ergrautem Bart und die Würde dieses Mannes liegt deutlich in der Luft.
Ich kenne diesen Mann, natürlich kenne ich ihn.
Ein heftiger Schlag gegen mein linkes Knie zeigt mir schmerzhaft an, ich habe das Ufer bis auf wenige Meter erreicht.
Der Mann mustert mich ruhig, durchaus nicht unfreundlich, ohne ein Wort zu sagen und ohne eine Bewegung.
Langsam weicht meine Angst einer panischen Unsicherheit. Splitternackt, bäuchlings, in nur fünfzig Zentimeter tiefen Wasser vor einem Präsidenten zu liegen...
Vor Abraham Lincoln.
Meine Scham lähmt mich beinahe bis zur Bewusstlosigkeit. Ich winde mich wie ein Fisch in einem auslaufenden Aquarium.
Ich kann nicht aufstehen, nicht vor und nicht zurück und mich auch nicht einfach im aufgewirbelten Wasser auflösen. Ich bin gefangen. Ein Gefangener des Präsidenten der Vereinigten Staaten.
Gefangen wie hinter meinem Daimler, ausgesetzt der Schmach und der Peinlichkeit, harre ich der Dinge, die diese Welt für mich bereithält.
Die vielen Tage des alleine seins, nahmen mir jede Scham. Jetzt überrollt sie mich wie eine Lawine.
Nackt vor einem Präsidenten, vor diesem Präsidenten!
Ich sitze fest in meinem Schlammloch, nackt, nur vom grauen Moorwasser umspült, vor Abraham Lincoln. Mein Gott, lasse es einen Tagtraum sein, lass mich aufstehen und wieder alleine sein. Mein Gott, hilf mir!
Die Schritte Abraham Lincolns zurück zu meinem Lagerplatz, holen mich in die Wirklichkeit zurück. Nein, das kann nicht sein, ich muss mich irren.
Ein Mann, der wie kein anderer, gute Geschichte schrieb, die Welt für immer veränderte, ein Mann der... zu meinem Lager geht, meinen Umhang über seinen rechten Unterarm legt, zum Wasser zurückkehrt und ihn in bester Butlermanier vor mir ausbreitet.
In Sekundenbruchteilen springe ich aus meinem Gefängnis und werfe mir, leicht zur Seite gedreht, den Umhang über.
Zu mehr als wiederholtes Stammeln, »Sir, Sir«, ist meine, vom Schock gelähmte Zunge und mein ausgetrockneter Gaumen nicht fähig.