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2. Land der Träume

Die Luft hat sich verändert und ist jetzt frisch und klar. Das Licht ist hell, angenehm und auch mein malträtierter Magen kann sich an keine Krämpfe mehr erinnern.

Der Himmel, in einem hellen Blau verziert, mit zarten, weißen Kumulus Wolken, wirkt friedlich und sauber. Ich atme tief durch. Hungrig saugen meine Lungen den lebensspendenden Sauerstoff ein. Gierig nimmt mein Blut den Sauerstoff auf und verteilt ihn geschickt im ganzen Körper. Jeder Muskel entspannt sich.

Meine Muskeln entspannen sich, die Atmung wird flacher und ruhiger. Nie in meinem Leben war ich so gelöst, so glücklich. Eine riesige Wolke der Zufriedenheit nimmt mich gefangen.

Ich rieche das frische, noch vom Morgentau nasse Gras. Es ist herrlich.

Aber wo bin ich?

Ich fühle den groben Umhang aus schwerer Wolle und die hohen, bis über die Knie reichenden Stiefel aus dickem, aber weichem Leder, vermutlich Rindsleder, verziert mit goldenen und silbernen Stickereien und seitlich mit festem Garn verschnürt.

Ich betaste den schweren Ledergürtel, an dem ein unendlich langes Messer, oder doch eher Schwert hängt. Der kalte Stahl muss von minderwertiger Qualität sein, die Oberfläche ist rau und narbig, aber zweifellos ist dieses Schwert im Kampf eine tödliche Waffe und wurde sicher schon oft zum Töten verwendet. Der Griff ist lederbesetzt und mit Edelsteinen und Goldeinlagen verziert.

Aber wer bin ich?

Die warme Morgensonne streichelt meine gequälte Seele.

Moment mal! Wo ist mein Daimler?

Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.

Was ist ein Daimler?

Ich kann mich genau daran erinnern: er war etwas wunderbar Schönes. Ich war stolz darauf einen Daimler zu besitzen. Aber was ist ein Daimler?

Wieder genieße ich das Gefühl der absoluten Zufriedenheit. Meine Gedanken treiben in das unendliche Blau des Himmels.

Frei, unendlich frei.

Ich träume in den Tag hinein. Träume von längst vergangenen Zeiten. Zeiten, die mir als Kind durch die Finger rannen, wie Wasser durch ein Sieb. Die endlosen Ausritte mit meinem Onkel, dem Großherzog und meinem Paten, der so stolz auf sein langes Haar war.

Das wunderbare Gefühl, das erste eigene Pferd zu besitzen.

Ich spüre die unsichere, nervöse Angst, sich bei der Krönungsfeier König Artus falsch zu verhalten. Nie in meinem Leben sah ich so viele, festlich gekleidete Menschen.

Eine Krönungsfeier, die an Größe sicherlich einmalig war. Alleine die Umhänge der unzähligen Besucher hätten die ganze Welt bedeckt. Die Edelsteine, sicher mehr als Sterne am Himmel. Die Menge an ausgeschenktem Wein hätte sicher einen See gefüllt. Tagelang wurden ganze Herden an immer wieder frischem Fleisch serviert.

Eine unbeschreibliche Demonstration der Macht und des Überflusses.

Und doch kann ich mich an das Gesicht König Artus nicht mehr erinnern und auch Gwennifer ist nur noch eine blasse Erinnerung. Wie ist es nur möglich, solche Menschen einfach zu vergessen?

Wie wunderbar frisch die Luft jetzt im Frühling ist. Das Gras noch jung, weich und saftig. Die Sonne um die Mittagszeit anschmiegsam und warm. In ein paar Monaten wird die Mittagssonne unbarmherzig, heiß und schattenlos sein.

In einer anderen Welt, in einer anderen Zeit wird den Kindern die Mittagssonne verboten. Ozonloch und Krebsgefahr wird man den Horror benennen.

Hier und Heute besitzen diese Worte keinen Inhalt. Niemand würde sie aussprechen, niemand könnte sie verstehen.

Aber warum verstehe ich sie? Warum kenne ich solche Worte? Worte, die keiner kennt und keiner spricht.

Ich versuche mich zu erinnern.

Auch der Blick auf meine billige Roleximitation, die ich für zwölf Dollar in Hongkong, auf einem meiner gehetzten und überflüssigen Kurzurlaube - Shoppingtouren genannt - erstanden hatte, bringt mir keine Erinnerungen, sondern nur die Trauer über den Tod der geliebten Rolex.

Der Sekundenzeiger steht still und auch heftiges Schütteln hilft nichts. Meine Rolex wird nie mehr die endlosen Runden seines unruhigen Geistes drehen, nie mehr den Wochentag zeigen, nie mehr die endlosen Stunden zum ersehnten Feierabend verkünden, nie mehr, nie mehr.

Der Batterietod hat sie jäh eingeholt.

Vielleicht habe aber auch ich selber meinem chinesischen Begleiter das Lebenslicht ausgeblasen, während ich hinter meinen Daimler, vor den Augen meines Nachbarn, flüchtete?

Mein Daimler, was war mein Daimler?

Ich kann mich nicht erinnern. Aber der Gedanke daran erfüllt mich mit Wärme und Zufriedenheit. Daimler, es muss etwas Wunderbares sein.

Die Erinnerung daran ist wie ausgelöscht.

Meine Eltern erklärten mir einmal, »Großvater hat Alzheimer, er vergisst alles.«

Habe auch ich Alzheimer, die Geißel des Vergessens und der Einsamkeit?

Mein Großvater, ein hünenhafter Mann, fast ein Riese. Als Kind glaubte ich immer, er sei ein König, da er in einem riesigen Schloss wohnte.

Später verstand ich, dass er nur als Verwalter täglich mit offenen Rechnungen und schlampigen Handwerkern zu kämpfen hatte, oder bei Bedarf, gleich Klempner, Gärtner und Fremdenführer für Touristen ersetzte.

Touristen, Touris nannte er sie, die alle nur das „wunderbare“ Schloss bestaunten und er dagegen nur über die schier unlösbare Aufgabe nachdachte, weitere staatliche Zuschüsse für das „wunderbare“ Schloss zu bekommen, um wenigstens die Kreditzinsen für die letzte Fassadenrenovierung begleichen zu können.

Touristen, die jeden Stuhl mit Hochachtung umkreisten und er, der nur die nächste Inventur mit über zehntausend einzelnen Positionen sah.

Touristen, die jedes Bild mit einem »Oh!« und einem »Ah!« belegten und Großvater nur daran erinnerten, dass die Rechnung des Restaurators auch seit über zwei Monaten fällig ist. Touristen, die jede Tischplatte mit ihrem Zeigefinger auf Ebenheit und Rauhigkeit überprüften, mit der gleichzeitigen und lautstarken Ermahnung an ihre Kinder: »Nichts berühren, nur mit den Augen schauen.«

Einen Verwaltungsbeirat, dem er jährlich Rechenschaft schuldig war und der ihn in jährlicher Tradition, zu mehr Sparsamkeit ermahnte.

Mein Großvater, der König eines Reiches aus Kontoauszügen, Mahnungen und Kostenvoranschlägen, die sowieso nie eingehalten wurden.

Ein König mit einem Volk, das nur daran dachte, Unmengen an Kaugummipapieren und Schokoladenresten hinter Schränken und Leuchtern verschwinden zu lassen, aber penibel darauf bedacht war, ihre Kinder ordentlich zu kleiden und sie, um Rechtschaffenheit zu präsentieren, im Minutentakt ermahnten: »Mach Deine Hose nicht dreckig! Pass doch auf Dein Kleid auf! Finger aus der Nase! Mach den Mund zu, wenn Du kaust! Hample nicht so rum! Du benimmst Dich wie ein Baby!«

Ein König, der mich immer daran erinnerte, niemals Betriebswirtschaft zu studieren: »Lerne was vernünftiges!«

Ein König in der Gefangenschaft der tödlichen Krankheit.

Aber ich habe kein Alzheimer.

Ich kann mich erinnern! Erinnern an meine Kindheit. Erinnern an die tagelangen Fahrten mit meinem Vater durch das ewige Eis Grönlands. Die Robbenjagd war nicht Vaters Leidenschaft, aber überlebenswichtig! Auch wenn Vater es nicht zugab, er war der beste Robbenjäger in der ganzen Umgebung, wahrscheinlich im ganzen Land.

Die Gedanken an die tagelange Jagd im unendlichen Eis lassen mich noch heute erstarren. Die Angst und die Flucht vor dem riesigen Gebiss des Eisbären werde ich nie vergessen. Flucht, die einzige Möglichkeit zu Überleben. Feuerwaffen oder gar Hubschrauber gab es nicht, nicht in dieser Zeit, nicht in dieser Welt.

Erst dreihundert Jahre später werden eine Elite von Entwicklern und Tüftlern - finanziert durch mächtige Unternehmen - den ersten serientauglichen, zivilgenutzten Hubschrauber der Öffentlichkeit präsentieren.

Auch der Schutz durch gemauerte Häuser oder feste Stahlcontainer war unvorstellbar.

Die Flucht: einzige Chance zum Überleben für einen einsamen Vater mit seinem Sohn auf einem Kontinent, der noch auf keiner Karte lückenlos erfasst war. Der Eisbär, der den Vater schlagartig vom Jäger in den Gejagten verwandelte.

Nur die gesamte Dorfgemeinschaft konnte einem so verschlagenen, wie auch gefährlichen Gegner trotzen und nur mit Geschick, List und Mut die Trophäe, das Fell, erobern. Ein Fell, das nicht nur wärmte, sondern auch jedem Besucher stolz präsentiert wurde.

Mein Vater, der nach tagelanger Wanderung zielsicher die richtige Stelle im Eis wiederfand. Ein stiller Jäger, ein gefährlicher Jäger, der nie ohne eine ausreichende Anzahl Robben nach Hause kam. Ein Mann, der nicht viel redete, der tagelang kein Wort mit mir wechselte. Oft dachte ich mir, er hätte mich vergessen und doch lehrte er mich alles Notwendige zum Überleben im ewigen Eis.

Mein Vater blieb zu Lebzeiten ein Fremder für mich. Unnahbar, stumm und meist unendlich weit weg.

Ursache war sicher die Kälte, der ständige Kampf ums Überleben, die Bürde der Verantwortung, in einer Hölle aus Schnee und Eis.

Manchmal, glaube ich, war er auch ein wenig stolz auf mich. Wie damals, als ich meine erste Robbe erlegte. Gesagt hat er das nie, aber stolz war er doch. Als wir nach vier Tagen Robbenjagd zurückkamen und er glaubte, ich schlief, erzählte er stolz meiner Mutter, wie geschickt ich vor zwei Tagen meine erste Robbe zur Strecke gebracht hatte.

Meine Mutter schwieg, aber ich wusste: auch sie war stolz und zufrieden. Eigentlich war meine Mutter mit allem zufrieden oder sie hat sich mit allem abgefunden.

Oft vermisse ich sie. Ihre Ruhe, ihre Stille, die unausgesprochene Liebe und Geborgenheit. Nie mehr werde ich ihre Güte spüren, nie mehr.

Sie ist jetzt über dreihundert Jahre tot und bis auf mich hat sie sicher auch jeder längst vergessen.

Der Gedanke an meine Mutter treibt mir dicke Tränen ins Gesicht. Ich spüre das warme Brennen in meinen Augen und schmecke die salzigen Tränen in meinen Mundwinkeln.

Schlagartig erwache ich aus meinen Tagträumen.

Der Himmel strahlt immer noch sein wunderbares Blau und auch die Luft ist immer noch rein und frisch, kein Smog stört den süßen Geruch, kein Lärm bricht die Ruhe.

Ich versuche meine Gedanken zu ordnen. Meine Mutter, über dreihundert Jahre tot, mein Großvater Hausverwalter.

Nein, nein! Werde ich verrückt? Oder bin ich es schon?

Wer bin ich? Wo bin ich? Was geschieht hier? Wo ist mein Daimler? Was ist mein Daimler?

Ich versuche mir alles ins Gedächtnis zu rufen, aber irgend etwas zwingt mich zu vergessen. Aber ich will nicht vergessen, nicht meinen Daimler, nicht meinen Großvater und nicht meine Mutter. Ich will nichts vergessen, will mich erinnern, muss mich erinnern.

Mein Magen mischt sich wieder in meine Gedanken. Diesmal ist es nicht das Gefühl der Übelkeit, nicht der unerträgliche Überdruck, nur der sanfte Druck des Hungers.

Mein Bruder, glaube ich, war es einmal - in einer anderen Welt, in einer anderen Zeit - der mir zeigte das Wild zu beobachten, die Windrichtung zu berücksichtigen, den Takt und die Stärke der Atmung zu kontrollieren, Kimme und Korn in Einklang zu bringen, das Gewehr fest an die Schulter zu pressen und im richtigen Moment das Wild mit nur einem Schuss zu erlegen.

Mein Bruder war es, der mir alles über die Jagd beibrachte. Die Jagd, die überlebenswichtig für die ganze Familie war, in den weiten Tälern Usbekistans, lebensnotwendig für den Wintervorrat.

Eine Jagd, die nicht dem Vergnügen, wie in späteren Zeiten diente, sondern einfach nur zum Überleben, zum Stillen des täglich wiederkehrenden Hungers.

In einer Zeit, in der Hunger nicht die Lust am Essen war, nicht die Lust, die durch hochbezahlte Werbeagenturen und ihren hochdekorierten Werbestrategen erst geboren wurde, ein Hunger, der sich in verkauften Einheiten und bunten Umsatzstatistiken wiederspiegelte, ein Hunger, der entschied, wer Verkäufer des Monats wurde und dessen Bild vier Wochen lang die Verkaufstheke zierte und jedem Kollegen den Neid in den Rücken drückte.

Nein, dieser Hunger war anders: Ein unaufhaltbarer, Urgewalten weckender, immer wiederkehrender Hunger! Der, wenn er nicht gestillt wurde, ganzen Familien den Tod brachte. Zehn Kilo Fleisch am Tag, damals für eine Familie überlebenswichtig.

Diese Menge purer Energie wird man später als Völlerei verdammen. Es wird die Zeit kommen, in der Gemeinschaften, Krankenkassen wird man sie nennen, Milliarden dafür ausgeben, die Folgen des künstlichen Hungers zu kurieren. Es wird tausende Bewegungsstätten geben, die Milliarden verdienen, um den unnötigen Speckvorrat zu bekämpfen. Ein findiger Unternehmer, oder nur eine, des natürlichen Lebens überdrüssige Gesellschaft, wird sie Fittnesstudios taufen.

Nicht Tag und Nacht werden den Alltag bestimmen, Diätpläne werden unseren Tagesablauf entscheiden, Kalorientabellen werden zum ständigen Begleiter, Therapiegruppen werden die Familie ersetzen, Diätärzte werden unsere besten Freunde.

Nicht Gott wird verehrt, sondern makellose, computerretuschierte Supermodels werden vergöttert und Schönheitschirurgen werden diese neuen Götter erschaffen.

In einer Zeit, in der eine erfolgreiche Jagd überleben bedeutet, haben Kalorientabellen keine Bedeutung.

Jedoch in keiner Zeit füllen Träume hungrige Mägen.

Jetzt ist auch das wohlige Hungergefühl in meinem Magen einem galoppierenden Mustang gewichen. Ein Gurgeln und Grollen - ähnlich dem Glucksen und Fauchen meiner alten, nach Entkalker schreienden Kaffeemaschine aus einer anderen Welt. Einer Welt, in der ein Daimler mehr bedeutet, als das Gefühl seine erste Robbe zu erlegen, mehr als das Gefühl in frischem, süß duftendem Gras zu träumen. Eine Welt in der „Freiheit und Abenteuer“ ganze Generationen veränderte. Eine Zeit, in der das Absolute gilt und die Zukunft, bestimmbar, in jede Richtung steuerbar erscheint.

Eine Zeit, die nichts weiß von mächtigen Wesen deren Gedanken Welten erschaffen und Welten zerschlagen.

Die älter sind als alles Vorstellbare, älter als jede Galaxie und älter als das Universum. Wesen, die alle Zeiten überdauern werden, denen man mehr Namen geben wird, als es Sterne am Firmament gibt. Namen wie Zeus, Apoll, Shiva, Osiris und Tausend weitere.

Oder einfach nur Gott.

Wesen die auf Ungehorsam mit Sintfluten und Dürre antworten, Hochmut mit Heuschreckenplagen bestrafen und doch den gewaltsamen Tod von Millionen dulden. Die allmächtig, allwissend und doch oft blind zu sein scheinen.

Wesen, deren Existenz nie zu beweisen sein wird und ihre Gegenwart doch allgegenwärtig ist.

Eine Macht, die anleitet, Wege bereitet und doch den Ablauf der Dinge nicht beschränkt. Jene Wesen, die Hass und Zorn beschreiben und doch Güte und Verständnis fordern. Kreaturen, aus Himmel oder Hölle, die den Besitz eines Daimlers beschwören und doch die Zufriedenheit darüber versagen.

Meine Tagträume reißen mich immer tiefer in ihren Schlund, ich muss mich von ihnen befreien, muss aufstehen, weg von meinem wohligen Himmelbett aus weichem Grass und warmen Moos. Muss mich erinnern, muss erwachen, einige Schritte gehen und mich befreien.

Die Ruhe und Zufriedenheit greift wie eine riesige Hand nach mir und will mich wieder ins Land der Träume reißen.

Langsam, einem vom Tode erwachten Zombie gleich, stehe ich auf.

Zum erstenmal erfasse ich bewusst meine Umgebung: Nicht nur das herrliche Gras, das mich mit seiner Ruhe verschlingen will, nicht nur den Himmel, der mich mit seiner Zartheit verwirren will, nicht nur die reine, saubere Luft, die mich benebelt.

Nein, ich bin in einem riesigen, menschenleeren Tal, das sich neben mir unendlich bis zum Horizont ausdehnt. Vor mir sehe ich Berge, riesige Berge, mit weißen gezuckerten Gipfeln und grünen Tälern.

Während ich einige Schritte wage - auf Füssen, die sich anfühlen, als hätten sie seit Jahrhunderten keinen Körper mehr getragen - verändert sich meine Umgebung, langsam, unmerklich; aber ich bin sicher, sie verändert sich!

Ganz nah, nur wenige Meilen entfernt, entdecke ich einen kleinen Laubwald. Eigentlich hätte ich ihn auch im Liegen sehen müssen!

Jetzt im Stehen - mit meinen fremden Füssen - einige weitere Schritte wagend, erkenne ich immer mehr: Ein stiller See, eingerahmt von mächtigen Birken, die sich rhythmisch im Wind wiegen und von hohem Schilf am Ufer begleitet werden. Eine steht direkt im Wasser und ihre tiefhängenden Äste streicheln die glatte, tiefblaue Wasseroberfläche.

Mit jedem Schritt erkenne ich mehr und jeder Meter weiter führt mich langsam aus meinen Tagträumen zurück ins Leben.

Langsam verblassen die Visionen und geben den ersten Erinnerungen Raum. Mit dem Erwachen der klaren Gedanken kehrt auch die Angst zurück, wieder in die Traumwelt abzugleiten. Ich gehe schneller, immer schneller, beinahe laufe ich, um der Traumwelt zu entfliehen, um die Bilder abzuschütteln, die mich nicht loslassen wollen. Wie Spinnenbeine greift die Welt der Träume nach mir, wie Peitschenschläge fühle ich die Verfolgung, aber ich gebe nicht auf, nicht hier und nicht heute.

Mit jedem Schritt nach vorne eilen mir die Erinnerungen entgegen und die Visionen verblassen. Immer schneller, ich renne, stolpere, überschlage mich, richte mich wieder auf und renne weiter, immer Richtung See, auf der Flucht vor den Träumen. Der See wird zum einzigen Gedanken, zum einzigen Ziel. Der See bedeutet Freiheit. Ja, „Freiheit und Abenteuer“.

Nein, jetzt ist es kein Traum. Ich weiß es wieder, kann mich genau erinnern, „Freiheit und Abenteuer“, der Werbeslogan meiner Lieblingszigaretten. Ich träume nicht, ich kann mich an alles erinnern, der Bann des Wahnsinns ist gebrochen.

Ich renne und renne, jetzt sind die Füße, die mich tragen, wieder die meinen. Ich erinnere mich an meine Kaffeemaschine, an meinen Daimler, an den Fahrstuhl. Ich rieche den See und laufe, laufe ins flache Wasser, kämpfe gegen meine eigene Welle, spüre das kühle Nass im Gesicht und als der Widerstand zu groß wird, lasse ich mich flach auf das aufgewühlte Wasser fallen.

Erlebe wie mein Umhang sich füllt, rieche das Wasser, den feinen torfartigen Geruch nach Moor und Leben.

Frei von Träumen, endlich frei.

Langsam wate ich zurück ans Ufer, spüre den weichen Boden, sehe den aufgewirbelten Grund.

Am sandigen Ufer streife ich meinen mittlerweile bleischweren, vollgesogenen Umhang ab, ziehe meine Stiefel aus und laufe sofort zurück ins befreiende Wasser, das Symbol der Freiheit und Erlösung.

Schwimme, spüre das vorbeigleitende Wasser - Wasser, das mich am ganzen Körper umspült und streichelt.

Wasser, das mich befreite!

Mein Retter, mein Erlöser!

Wie lange ich schwimme, weiß ich nicht. Als meine Kräfte nachlassen, kraule ich zurück, lege mich unter die Birke, welche mir den Weg in die Freiheit wies und schlafe in Minuten ein.

Lord Geward

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