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Sylvia Kerner Wien, März 2018

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Sylvia atmete tief durch, ihre letzte Patientin für den heutigen Tag hatte sie soeben verabschiedet. Es war ein hoffnungsloser Fall von schwerer Alkoholsucht. Die Anzahl der Rückfälle konnte sie nicht mehr zählen. Es war die Frau eines angesehenen Kommunalpolitikers. Die Sitzungen mit ihr hinterließen bei Sylvia stets ein Gefühl von Ohnmacht, da sie trotz der vielen Gespräche keine positive Entwicklung erkennen konnte. Schon mehrere Jahre suchte die Frau Hilfe bei ihr, immer dann, wenn ihr Trinkverhalten eine nicht mehr zu kontrollierende Dynamik angenommen hatte und die Reißleine gezogen werden musste. Sylvia war der rettende Anker und sie verdiente gutes Geld damit. Aber die Hilflosigkeit der Patientin gegenüber, genau zu wissen, dass sie wieder rückfällig werden würde, machte sie traurig.

Nachdenklich klappte sie ihren Laptop zu und verschloss den Stahlschrank mit den Krankenakten. Unmittelbar kreisten ihre Gedanken zurück zu dem Brief, den sie vor drei Tagen in ihrem Postkasten gefunden hatte. Ohne eine Ankündigung war er bei ihr eingetrudelt, völlig überraschend. Sie hatte zwei Tage darüber gegrübelt, wie sie reagieren sollte. Gestern Abend hatte sie sich schließlich dagegen entschieden, die Einladung anzunehmen und ihn zerknüllt in den Papierkorb geschmissen. Jetzt kippte sie den ganzen Inhalt des Drahtkorbes auf den Parkettboden, suchte nervös nach dem Schriftstück und strich es glatt. Sylvia hatte ihre Meinung geändert. Die Neugier in ihr hatte die Oberhand gewonnen. Schon ihr Beruf forderte es ein, dieser Einladung nachzugehen.

Bereits in der Mittagspause war es ihr gelungen, die Telefonnummer von Alex ausfindig zu machen. Svens Nummer hatte sie in ihrem abgegriffenen Notizbuch gefunden. Ob sie noch stimmte, wusste sie nicht. Was wohl aus den Personen ihrer ehemaligen Griechenland-Clique geworden war? Alleine das herauszufinden, trieb ihre Spannung enorm in die Höhe. Das seit einer Woche extrem schlechte Wetter in ihrer Heimatstadt hatte zusätzlich ihren Entschluss beflügelt, einem Wiedersehen nach dreißig Jahren auf der beliebten griechischen Insel zuzustimmen.

Ob Lisas Mutter auch kommen würde? Eine Ulrike Wagner, den Namen hatte sie noch im Kopf. Ob sie überhaupt noch lebte? Wohl kaum, sie war 1988 schon über fünfzig und gesundheitlich stark angeschlagen gewesen.

Augenblicklich hatte sie das Gesicht der verzweifelten Frau vor Augen, die zur Beerdigung ihrer Tochter nach Paros angereist war. Ein fürchterlicher Tag, den sie nie vergessen würde. Sie hatte sich oft gefragt, warum man Lisa nicht nach Deutschland überführt hatte. Aber dazu fehlten der alleinerziehenden Mutter wohl die finanziellen Mittel. Wie gelähmt war die gesamte Clique zur Trauerfeier erschienen, nachdem die Polizei kein Fremdverschulden hatte feststellen können und als Todesursache exzessiven Alkohol- und Drogenkonsum bescheinigt hatte.

Kleine Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn, wenn sie an die stundenlangen Verhöre zurückdachte in dem kargen Büro in Parikia, in denen die extra aus Athen zugezogenen Beamten versucht hatten, die Nacht zu rekonstruieren.

Traumatisiert waren sie abgereist, ohne jegliches Bestreben, diese dramatische Nacht am Monastiri Strand gemeinsam aufzuarbeiten. Sie selbst hatte es wenigstens versucht, mit Ansätzen aus den ersten Semestern ihres Psychologiestudiums. Die Ablehnung der übrigen Mitglieder war jedoch zu groß gewesen, zu stark war das Erlebte noch präsent. Nur mit Sven hatte sie Wochen später darüber geredet. Er war der Einzige, mit dem sie nach ihrer Rückkehr noch mehrfach telefoniert hatte, aber mittlerweile waren fast dreißig Jahre vergangen.

Sylvia griff nach einem Stück Papier und notierte die Telefonnummern ihrer ehemaligen Freunde, hinter Frank setzte sie ein Fragezeichen. Es kribbelte in ihr, als sie versuchte, sich die einzelnen Gesichter in Erinnerung zu rufen, dabei kam ihr ein Gedanke.

In einem alten Schuhkarton verwahrte sie Bilder der vergangenen Jahre auf, aufgenommen zu Zeiten, in denen es noch keine Digitalkameras gab. Darunter mussten auch welche aus dem Sommer 1988 vergraben sein, von jenem Paros-Aufenthalt mit der Clique, die sich zufällig gefunden und unbeschwerte Wochen miteinander verbracht hatte. In den ersten Tagen ihrer Zusammenkunft wohnten sie verstreut in verschiedenen Privatzimmern. Nach und nach waren sie in die einfache Pension umgezogen, um möglichst viel Zeit gemeinsam verbringen zu können. Dort hatten sie auch zum ersten Mal die griechische Küche schätzen gelernt, als die Pensionswirtin abends für alle gekocht hatte.

Plötzlich verspürte Sylvia ein unbändiges Verlangen, in die verdrängten Erinnerungen einzutauchen.

Mit dem Brief in der Hand ging sie in ihre Wohnung, die direkt neben ihrer Praxis lag. Hier wohnte und arbeitete sie bereits seit 19 Jahren. Die Wohnung samt Praxis lag im 14. Bezirk. Hier fühlte sie sich wohl und Sylvia konnte von sich behaupten, ihre innere Mitte gefunden zu haben. Es gab einen festen Mann in ihrem Leben, nach vielen Jahren mit häufig wechselnden Partnern. Auch wenn sie es vorgezogen hatten, getrennte Wohnungen zu behalten, sprach sie von einer funktionierenden Beziehung.

Sylvia holte eine kleine Trittleiter aus ihrer Abstellkammer, um an das Sammelsurium auf ihrem Kleiderschrank zu gelangen. Im Laufe der Jahre hatte sich dort allerlei Krimskrams angesammelt, sodass es höchste Zeit wurde, gründlich aufzuräumen. Sie streckte ihren Arm weit nach hinten und zog den verstaubten Karton mit der Fotosammlung hervor. Ihr Herz pochte, als sie ihn mit in ihr Wohnzimmer nahm. Ein wohliges Gefühl ergriff sie, wenn sie an die wilden Nächte auf Paros zurückdachte. Besonders an diesen attraktiven Griechen, der von Anfang an immer mit dabei gewesen war, erinnerte sie sich gerne. Mehrfach hatten sie Sex gehabt, auch wenn sie später erkennen musste, dass er es mehr auf Lisa abgesehen hatte, so wie alle Männer in der Clique. Bis auf einen.

Sven machte sich nichts aus der bezaubernden Düsseldorferin, die im Handumdrehen jeden Mann um den Verstand brachte. Erst später hatte sie erfahren, warum. Er stand halt nicht auf Frauen. Wie unbekümmert ihr diese Wochen auf Paros in jenem Sommer vorkamen. Sehnsucht kam auf bei den zurückfliegenden Gedanken. Angestrengt versuchte sie, sich den Namen des Griechen ins Gedächtnis zu rufen, der die Clique mit Spirituosen versorgt hatte, aber er fiel ihr beim besten Willen nicht ein. In großen Plastikflaschen hatte er das Gesöff mit an den Strand gebracht. Abends versammelten sich alle in der Bucht nahe Naoussa und er pries den hochprozentigen Trunk als griechischen Grappa an. Lisa hatte ihn mitgebracht. Sie verweilte bereits einige Wochen auf Paros, als sich die Truppe zusammenfand, und war mit ihm deswegen sehr vertraut. Sein Vater betrieb auf einer Nachbarinsel eine Brennerei, die neben anderen Inseln auch Paros mit hochprozentigen Getränken versorgte. Eine unerschöpfliche Quelle, die sie damals mit ihren schmalen Geldbeuteln gerne angezapft hatten. Das Zeug hatte es in sich.

Ungern erinnerte sie sich an den Vollrausch. Zwei Tage hatte es gedauert, bis sie diesen Blackout überwunden hatte. Danach war sie umsichtiger mit dem klaren Brand umgegangen, dem Rest der Clique schienen die Nachwirkungen des Trunks weniger ausgemacht zu haben. Viel Alkohol war im Spiel gewesen, fast jeden Abend, wenn sie bei Sonnenuntergang zum Strand aufgebrochen und bis zum Morgengrauen gefeiert hatten. Völlig losgelöst hatten sie Party gemacht, oft bis es hell wurde, ohne auch nur einen Gedanken an den nächsten Tag zu verschwenden. In Sylvias Kopf erschienen viele bunte Bilder, die sie drei Jahrzehnte ausgeblendet hatte. Fast konnte sie das Rauschen der Brandung hören. Dass auch Drogen konsumiert wurden, war ihr verborgen geblieben, obwohl sie sich öfter über Lisas exzessives Verhalten gewundert hatte.

Sie glaubte damals, es wäre dem intensiven Zuspruch des Soumas zuzuschreiben, wie der griechische Grappa auf Paros genannt wurde. Die Polizei hatte sie alle mit den Drogen konfrontiert, nachdem sie bei Lisa den Stoff gefunden hatten und bei jedem von ihnen eine Durchsuchung ihrer Zimmer veranlasst. In Lisas Zimmer war man auf weitere Drogen gestoßen, damit stand die Todesursache für die Polizisten schnell fest.

Immer wieder hatte Sylvia sich gefragt, warum ihr nichts aufgefallen war. Sie war die Älteste und Reifste in der Clique gewesen und wurde öfter wegen ihrer analytischen Art von ihren Freunden aufgezogen. Besonders ihr griechischer Freund erwischte sie gerne, wenn sie zu später Stunde mehr zur Beobachterin der ausschweifenden Partys wurde.

»You think too much – Du denkst zu viel«, hatte er sie angelacht, meist mit einem Glas Souma in der Hand. »Enjoy your life and don’t think about tomorrow – Genieße dein Leben und denke nicht an morgen.«

Als wäre es erst gestern gewesen, erinnerte sie sich an seine sanften, dunklen, braunen Augen und sein pechschwarzes Haar. Und jetzt fiel ihr auch sein Name wieder ein. Jannis hieß er. Jannis, der Mann mit dem Souma.

Brennender Sommer

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