Читать книгу Clearwater - Philipp Langenbach - Страница 12

Wie wird man erwachsen?

Оглавление

Am nächsten Morgen wurde Marge vom Geräusch der Nähmaschine geweckt. In der Küche saß ihre Tochter und nähte an ihrem Mantel herum.

„Wurde langsam zu kurz,“erklärte sie auf den entgeisterten Blick ihrer Mutter,„da hab‘ ich ihn ein bißchen rausgelassen.“

Marge konnte sich gerade noch daran erinnern, daß sie den Mantel extra weit umgenäht hatte, weil er damals viel zu lang gewesen war. Sie sah auf die Falte. Etwa vier Zoll in einem dreiviertel Jahr! Mary-Rose mußte die Größe ihres Vaters geerbt haben.

Später beim Frühstück saß sie ihrer Tochter gegenüber, bemerkte wieder einmal, wo der Stern saß.

„Am liebsten hättest Du wohl zwei Sterne?“Marge konnte Argumente nicht so lenken wie ihr Mann.

„Oooch, Mum,“maulte Mary-Rose.

„Ich weiß, daß Du gerne erwachsen wärst,”lächelte Marge,„sogar erwachsen sein mußt, als Sheriff, aber …“

„ … wenn Du auch nur etwas von Deiner Mutter hast,“übernahm Arthur, der wohl gerade auf dem Weg zum Abort war,„wirst Du vielleicht in sechs oder sieben Jahren Jacqueline Granger-Ford in den Schatten stellen, aber eben erst dann.“Er stützte sich auf einen Stuhl.„Und dann solltest Du beherzigen, daß phantasievolles Verhüllen viel wirkungsvoller ist als platte Offenherzigkeit.“Er setzte sich.„Zumindest hat Deine Mutter mich damit geködert.“

„Arthur!“rief Marge erschrocken aus, mußte aber innerlich zugeben, daß er nichts als die Wahrheit sagte.

„Besser, Du lernst es früh genug als zu spät,“fuhr Arthur ungerührt fort.„Du mußt niemandem beweisen, daß Du eine Frau bist.“Er blickte ihr eindringlich in die Augen, suchte offensichtlich nach Worten.„Auch wenn Du rein physisch schon in der Lage wärst, uns einen Enkel zu schenken, und mit etwas Hilfe die Erziehung wohl auch meistern könntest.“

Marges Herz setzte aus. Arthur wurde nur selten so direkt. Mary-Rose wirkte sehr nachdenklich.

„Würdest Du mir das tatsächlich zutrauen, Dad?“fragte sie.

„Ja und nein,“antwortete ihr Vater.

Mary-Rose machte ein ratloses Gesicht.

„Ja, ich traue Dir zu, daß Du es schaffst, sollte es passieren,“erklärte er ihr.„Und nein, ich traue Dir nicht zu, daß Du so dämlich und unreif bist, es jetzt schon passieren zu lassen.“

„Ich nehme das jetzt 'mal als Kompliment,“antwortete Mary-Rose ratlos, beendete ihr Frühstück und brach auf in die Schule, nachdem sie ihren Stern etwas höher angesteckt hatte.

„Mußte das sein, Arthur?“fragte Marge, als ihre Tochter draußen war.„Sie ist erst dreizehn.“

Arthur stand auf, nahm seine Frau in den Arm.

„Und kann, wenn sie sich nicht beherrscht, eine Riesendummheit machen,“erklärte er.„Ich wollte ihr das schon lange sagen, hab‘ aber nie den richtigen Zeitpunkt gefunden.“Er sah seine Frau liebevoll an.„Gestern hat sie mich durch erwachsenes Verhalten vor einem Riesenfehler bewahrt. Und heute war nicht nur ein passender Zeitpunkt, sondern sie war auch reif dafür.“Er ließ sie los.„Und jetzt gehe ich, etwas wegbringen, und dann zurück in unser warmes und kuscheliges Bett.“

Der Hinweis war deutlich genug. Marge nahm die Pfannkuchen vom Feuer und begab sich ins Schlafzimmer. Arthur sollte ein sehr kuscheliges Bett vorfinden.

Nachher am Frühstückstisch fragte Marge:„Hast Du das eben ernst gemeint, Schatz?“

„Was denn?“

„Das mit dem phantasievollen Verhüllen?“

„Hm, ja.“Arthur war wohl etwas verlegen.

„Vermißt Du das?“

Arthur ließ sich Zeit mit seiner Antwort.

„Ein wenig.“

„Wenn ich den Bauch los bin,“versprach Marge. Die Vorfreude spiegelte sich auf dem Gesicht ihres Mannes.

Rupert wachte auf. Neben ihm schlief, eng an ihn gekuschelt, Calista, bewegte sich jetzt ein wenig. Rupert spürte das Streicheln der Handschuhe. Er fuhr mit der Fingerkuppe über den Ring, den sie am kleinen Finger trug. Er schaute auf seinen Wecker. Schon 10.00 Uhr! Er mußte in die Mine! Seine Frau hielt ihn fest.

„Alles geregelt,“murmelte sie.„Du bist heute entschuldigt.“

Er sank zurück in sein Kissen. Sie streichelte ihn sanft, drehte mit der Hand seinen Kopf zu sich, küßte ihn.

„Du bleibst hier liegen,“sagte sie, während sie aufstand,„und ich mache Frühstück.“

Rupert blieb allein mit seinen Gedanken im Schlafzimmer zurück.

Calista stöckelte in die Küche. Handschuhe aus, Feuer gemacht, die vorbereiteten Sachen in den Ofen geschoben und zwischendurch das Gesicht vor einem kleinen Spiegel wieder hergerichtet. Irgendwie sah das Gesicht, das sie aus dem Spiegel anstarrte, fremd aus. Was fanden die Männer nur an dieser ganzen Schminke? Gut, frau konnte damit unterschiedliche Effekte erzeugen, vielleicht auch Stimmungen ausdrücken. Rupert war stark gewesen und liebevoll, diese Nacht. Es war so wie am Anfang ihrer Ehe gewesen. Nein, besser, denn sie selbst hatte es genossen. Zum ersten Mal.

Sie machte das Tablett fertig, zog Handschuhe und Ringe wieder an. Die Füße taten ihr etwas weh. Stehen ging in diesen Schuhen anscheinend schlechter als Laufen. Egal! Alles Gewöhnungssache. Sie dachte an letzte Nacht und lächelte. Mit diesem Lächeln kehrte sie dann zurück ins Schlafzimmer.

„Schahatz,“gurrte Calista,„was meinst Du? Nehmen wir das verpaßte Abendessen und machen irgendwo ein Picknick?“

„Wäre schön,“gab er zu, wollte noch etwas anderes sagen, fand aber keine Worte, wollte auch den Moment nicht zerstören.

„Dir ist vergeben,“beantwortete Calista seine unausgesprochene Frage.

„Aber …?“Rupert war ratlos.

„Ich habe mir Hilfe geholt,“erklärte ihm seine Frau,„diskrete Hilfe. Und ich weiß, was ich falsch gemacht habe.“Ihr schön gemaltes Gesicht wurde traurig und dadurch noch schöner.„Ich weiß nicht, ob es mir immer so gelingt wie heute, aber ich will Dich mit keiner mehr teilen müssen.“Sie lächelte wieder.„Auch nicht mit der, zu der Du am häufigsten eingegangen bist, bis es nicht mehr ging.“

Rupert bekam rote Ohren und einen trockenen Hals.

„Von ihr kommen diese Sachen,“offenbarte Calista.

Rupert wäre am liebsten geflüchtet, so schämte er sich.

„Du mußt mich nie mehr mit einer Anderen teilen, Liebling,“flüsterte er.

Jacqueline ging zur Tür, an der ungeduldig geklopft wurde. Draußen stand der Sheriff.

„Ist Onkel Julius da?“fragte sie.

„Leider nein,“antwortete Jacqueline,„und er kommt auch nicht vor sechs Uhr wieder.“

„Gut,“sagte Mary-Rose eher nachdenklich.„Hast Du einen Moment Zeit für ein junges Mädchen, daß ganz schwierige Fragen hat?“

„Aber immer,“lächelte Jacqueline.„Komm 'rein.“

Mary-Rose trat ein, setzte sich ins Wohnzimmer, betrachtete interessiert die Einrichtung.

Jacqueline verschwand in der Küche, kochte Kaffee. Als sie ihn servierte, lag sogar eine von Julius Zigarren auf dem Tablett. Mary-Rose schob sie zur Seite.

„Danke, aber ich möchte nicht rauchen,“sagte sie dazu.

„Also, wo drückt der Schuh?“

„Wie,“suchte Mary-Rose nach Worten,„ist das Leben als Frau?“

Jacqueline dachte nach.

„Da bin ich leider wohl kaum die Richtige,“bedauerte sie,„mit meinem Vorleben.“

„Aber manche Erfahrungen sind doch bei allen Frauen gleich, oder?“Ihre Ratlosigkeit war Mary-Rose deutlich anzusehen.

„Also das mußt Du mir schon näher erklären.“

„Ich trage meinen Stern jetzt anders.“

Jacqueline fiel es erst jetzt auf. Sie nickte.

„Und das nicht nur, weil meine Eltern mich heute Morgen … äh … ermahnt haben.“

Jacqueline lächelte.

„Ist es normal, wenn die Brustwarzen so empfindlich werden?“

Jacqueline lächelte nicht mehr. Vor ihr saß ein Kind und stellte eine Frage, die sie kaum einer Erwachsenen beantwortet hätte.

„Bitte Jacqueline,“bettelte Mary-Rose.„Zu Tante Ethel kann ich damit nicht gehen. Hab‘ Schiß. Augusta und Valerie sind meine Lehrerinnen, und meine Mum kann ich auch nicht fragen, weil ich nicht mit diesen Bildern im Kopf an meine Eltern denken möchte.“

‚Immer noch Pastorentochter,‘dachte Jacqueline. Sie entschied sich für Ehrlichkeit. Dem Sheriff von Clearwater mußte niemand etwas vormachen. Sie nickte.

„Das ist der Grund, weshalb die sanften und zärtlichen Männer im Saloon immer ein wenig mehr bekommen, als sie bezahlt haben, und die Grobiane fast nichts,“lächelte sie. Mary-Rose schien zu verstehen.„Sieh 'mal, Mary-Rose, von denen, die Du kennst, hat mir als Einziger der Job wenigstens zu Anfang Spaß gemacht.“

„Und dann?“Die Kleine hing an ihren Lippen.

„Dann wurde es immer hohler und unbefriedigender, jede Nacht zehn Männer zu haben. Am Ende war ich froh …,“sie zögerte, gab sich einen Ruck,„wenn Onkel Julius die ganze Nacht blieb.“

„Jeden Morgen neben dem gleichen Mann aufwachen,“begriff Mary-Rose.

„Genau,“bestätigte Jacqueline heftiger als sie gewollt hatte.„Aber bitte erst, wenn Du dafür bereit bist.“Sie schaute betreten auf die Tischplatte.„Ich war es nicht.“

„Und wie erkenne ich das?“

„Jedenfalls nicht dadurch, daß Du es weißt, wenn es soweit ist,“erklärte Jacqueline sarkastisch,„denn das war mein Fehler.“

„Was ist passiert?“Nur diese Frage.

„Ich lernte mit siebzehn einen sehr galanten jungen Gentleman kennen,“erzählte Jacqueline,„dem meine einfache Herkunft nichts ausmachte. Ich war körperlich schon voll entwickelt, und nach kurzer Zeit … gab ich mich ihm hin.“Wieso öffnete sie diesem Göhr ihr Herz? Was war los mit ihr?„Leider war ich geistig noch nicht bereit, mich zu …“Sie suchte wieder nach einem Wort.„ … zu zähmen. Ja, das ist es: Das Biest in mir zu zähmen.“Sie lächelte verlegen.„Ich wurde unersättlich, und unsere Liebe ging dabei den Bach 'runter. Ich hatte danach ein ziemlich … offenes Loch, auch wenn ich weiterhin in diesen Kreisen verkehrte. Mit neunzehn habe ich dann zum ersten Mal Geld genommen.“

Jacqueline erschrak über sich selbst.

„Entschuldige,“stammelte sie,„Ich hätte Dir das nicht erzählen sollen, weil …“

„ … ich zu jung bin?“Der Ton des Sheriffs wurde unmerklich härter.„Sicher, ich bin dreizehn, aber ich habe eine regelmäßige Periode von 21 Tagen, und jedesmal genau in der Mitte könnte ich jeden Kerl inklusive meinem Dad an die Wand klatschen, während mein Körper danach schreit, daß mich einer berührt.“Sie hielt sich die Hand vor den Mund, bemerkte, daß Jacqueline sie freundschaftlich anlächelte.„Ich bin der Sheriff, muß mich manchmal schon von Amts wegen mit solchen Dingen beschäftigen, und Clearwater ist leider nicht die Insel der Glückseligen!“Sie starrte nun auch auf die Tischplatte.„Auch wenn’s hier ganz gut läuft.“Sie blickte der Älteren direkt in die Augen.„Die letzte Hinrichtung hat mein Dad mir verboten, aber für mich war’s ein Vorwand, mich zu drücken. Das nächste Mal mache ich meinen Job.“

„Du gehst mit Deinem verrückten Leben erwachsener um, als ich je mit meinem,“lobte Jacqueline betroffen, zwang sich dann ein Lächeln ab.„Aber was Du jeden Monat erlebst, ist bei jeder Frau gleich. Bei einigen schwächer, bei einigen wie bei Dir stärker.“

„Bitte erzähl weiter,“drängte Mary-Rose.„Ich weiß noch viel zu wenig … für den Job.“

„Na, gut,“versuchte Jacqueline nicht allzu offensichtlich nicht zu lächeln.„Als ich als Professionelle angefangen habe, war ich süchtig danach. Ich hab‘ sogar mit meinem zusammengebumsten Geld einen Irrenarzt aufgesucht. Der wollte mir auch helfen, aber um ihn zu bezahlen, mußte ich arbeiten.“

„Ging also ziemlich in die Hose, was?“

„Genau. Fünfhundert Dollar für nichts.“Jacqueline gelang ein Lächeln.„Jetzt, wo ich’s nicht mehr brauche, könnte ich’s mir leisten.“

„Schlechtes Timing,“kommentierte Mary-Rose.„Aber wie kamst Du da 'raus?“

„Der Job war die Kur,“beichtete Jacqueline tonlos.„Irgendwann blieb die Lust aus, dann die Entspannung, und am Ende waren zehn Männer pro Nacht nur noch Druck.“

Mary-Rose sagte nichts, hörte nur zu.

„Jedesmal, wenn Onkel Julius eine ganze Nacht bezahlte, ging es mir besser, weil er, abgesehen von dem Einen einfach nur warm kuscheln wollte.“Jetzt hielt Jacqueline sich die Hand vor den Mund. Hatte sie das wirklich gerade gesagt? Was, wenn…? Mary-Rose faßte ihre Hände.

„Ich bin 'ne Pastorentochter,“erinnerte der Sheriff Jacqueline,„und weiß, was ein Seelsorgegeheimnis ist.“

Jacqueline entspannte sich.

„Jetzt kennst Du die ganze Wahrheit,“lächelte sie verlegen.

„Ich glaub‘, ich hab‘ kapiert.“Mary-Rose kippte ihren Kaffee hinunter, griff jetzt doch zur Zigarre.

„Steh‘ 'mal auf,“sagte Jacqueline.

Mary-Rose tat es.

„Für dreizehn ist das schon viel Brust, und die Hüften, na ja,“stellte Jacqueline fest.

Mary-Rose setzte sich wieder. Sie wirkte jetzt entspannter.

„Dann hab‘ ich ja noch Hoffnung.“

„Mach Dir bloß keinen Druck,“mahnte Jacqueline,„sonst hauen die Kerle ab, oder Du ziehst nur Nieten.“

„Manchmal wär’s halt schön, nicht nur mit Mum kuscheln zu können.“

Jacqueline lächelte:„Das ist die Gemeinsamkeit zwischen 13 und 31. Außer den Ziffern meine ich.“

Mary-Rose lachte.

„Kannst Du mir auch helfen?“

„Wie denn?“

Jacqueline zeigte auf das Klavier.

„Ich möchte spielen lernen,“sagte sie verlegen,„Bildung erwerben.“

„O.K.,“sagte Mary-Rose.„So haben wir wenigstens eine passende Ausrede für die Zigarre.“

Rupert fragte sich, wie lange Calista diesen Tag schon vorbereitet hatte. Der Ort an dem sie waren, eignete sich hervorragend für ein unbeobachtetes Picknik. Eine absolut blickdichte Tuja-Hecke umschloß den Platz am Fluß, etwa drei Meilen vor der Stadt von drei Seiten. Die Seite zum Fluß hin konnte mit einer Segeltuchplane, die auf einem Seil ähnlich einem Vorhang lief, verschlossen werden. Durch den Platz floß ein kleiner Bach, der drei Teiche speiste. Einen größeren und tieferen zum Schwimmen, einen kleineren, in dem mehrere Personen sitzen konnten, und einen, der sich mit gerade einmal fünf Fuß Durchmesser und anderthalb Fuß Tiefe allerhöchstens für zwei Leute oder spielende Kinder eignete. Der ganze Platz umfaßte sechzig mal vierzig Fuß, bot also genügend Platz. Davor waren Pfähle eingeschlagen, an denen die Pferde angebunden werden konnten.

Calista breitete die Picknickdecke aus, deckte auf, entkleidete sich und glitt ins Wasser. Sie winkte ihrem Mann, der ihr, wenn auch verwirrt so doch willig, folgte. Was war nur mit ihr los? So unternehmungslustig und hemmungslos hatte er sie noch nie erlebt.

Als sie am Ende jeder mit einem gefüllten Weinglas im kleinsten Teich saßen, fragte er sie:„Woher kennst Du das hier?“

Sie lächelte geheimnisvoll.

„Meine diskrete Helferin hat mir diesen Ort verraten,“erklärte sie.„Nein, nicht die, an die Du jetzt denkst.“

Wer war bloß diese Helferin? Egal! Er war hier. Calista war hier. Und sie retteten gerade ihre Ehe. Rupert war das schon jetzt lieber als der vorige Zustand.

Als Mary-Rose am späten Nachmittag nach Hause kam, wirkte sie auf Marge aufgeräumter als am Morgen. Allerdings roch die feine Nase der Mutter Rauch.

„Hab‘ Jacqueline Klavierunterricht gegeben und dafür 'ne Zigarre gekriegt,“erklärte Mary-Rose. Marge war sich sicher, daß es nicht nur um‘s Klavierspielen gegangen war. Mary-Rose aß schweigend, ging dann in den Stall, um anzuspannen. Offensichtlich wollte sie weiteren Fragen ausweichen.

Als Vater und Tochter auf dem Weg zu Sir Waldo waren, setzte sich Marge mit einem illustrierten Magazin, das ihr Mann ihr aus der Stadt mitgebracht hatte, ins Wohnzimmer. Es enthielt unter anderem Bilder der neuesten Mode im Osten.

„So kleiden sich also jetzt die Frauen der Greenhorns,“dachte Marge und kicherte bei dem Gedanken.

Als sie die Stadt verließen, gesellte sich ihnen ein weiterer Wagen hinzu. Mary-Rose blickte kurz hinüber und erkannte Onkel Julius und Jacqueline. Sie fuhren schweigend hintereinander.

Vor dem Anwesen des Engländers angekommen, staunte Mary-Rose nicht schlecht. Mittlerweile waren die Gräben für die Fundamente und der Keller des Erweiterungsbaues komplett ausgehoben. An einer Stelle hatte man sogar schon mit den Fundamentmauern angefangen. Das Ding wurde auf jeden Fall riesig. Die Wagen parkten sie in einer Umzäunung außerhalb, in der auch schon der Wagen der Alders stand. Sir Waldo begrüßte sie, wie immer, im Hausmantel mit seiner Pfeife im Mund, und drinnen warteten nicht nur Jack und Feodora, sondern auch Mike und Valerie Alder. Offensichtlich wollten hier einige Leute etwas für ihre Bildung tun. Und mit zwei Haarspaltern vom Kaliber des Sheriffs oder Mike Alders mochte das für die anderen ein anstrengender Abend werden.

Arthur sah von seinem Schreibtisch auf, als es klopfte, rief „Herein!“ und blickte durch die offene Tür zur Haustür, die gerade geöffnet wurde. Herein kamen Elmer Perkins und Wilbur Montgommery.

„Kommt durch in mein Büro,“rief Arthur.„Marge ist gerade weg.“

„Wissen wir,“meinte Wilbur.

„Haben drauf gewartet,“sekundierte Elmer.

„Warum das denn?“fragte Arthur, obwohl er schon so eine Ahnung hatte.

„Also, es ist so, daß …,“begann Elmer.

„Der Doc hat gesagt,“fiel Wilbur ihm ins Wort,„wir wären wieder ganz gesund.“

„Großartig!“freute sich Arthur.„Und warum kommt ihr dann zu mir?“

„Weil unsere Frauen wollen, …“erklärte Wilbur.

„ …, daß uns ein Priester begutachtet,“vollendete Elmer den Satz,„wie es das Gesetz befiehlt.“Er zog eine Grimasse.

„Kannst Du uns irgendwas schreiben, damit sie Ruhe geben?“fragte Wilbur.

Arthur grinste, dachte sich seinen Teil.

„Das wäre ja dann wohl nicht ganz richtig,“erinnerte er die beiden Männer ernst, legte dann ein Wolfsgrinsen auf.„Also Jungs: Hosen 'runter!“

Am nächsten Tag behaupteten einige Bürger Clearwaters, allesamt nüchterne Leute, sie hätten Wilma Perkins und Dorothy Montgomery durch die Stadt schweben sehen, das Gesicht selig vor Glück.

Herbst in Clearwater. Auf der großen Festwiese vor der Stadt tummelten sich Rindviecher beiderlei Geschlechts, aller Rassen und jeden Alters, wobei sich die Gehörnten noch am vernünftigsten aufführten. Die verrücktesten waren die Jungtiere derer, die auf den Pferden saßen. Kinder und Jugendliche zwischen 11 und 17 Jahren, die sich lateinische, griechische und hebräische Brocken zuwarfen, in aller Eile gepaukt, aufgeregt und ungeduldig. Immer dazwischen die Eltern, die ihre Kinder verabschieden wollten. Mit Kuß auf die Stirn die jüngeren, mit einem festen Händedruck die älteren. Manches junge Mädchen war nicht nur das erste Mal im Leben von zuhause weg, sondern hatte auch das erste Mal im Leben einen Revolver in der Hand. Na, ja: Fast. Mary-Rose hatte einige Kurse abgehalten. Jack Alder nahm sich vor, diese zu intensivieren, und hoffte, daß sie sie nicht brauchen würden. Nicht weit entfernt stand Ieyasu und verabschiedete seine Tochter Yukiko. Das Mädchen verneigte sich und bestieg sein Pferd. An der Seite hingen zwei Schwerter. Jack drängte sein Pferd näher zu ihr hin.

„Was willst Du denn mit den Kartoffelschälern?“fragte er scherzhaft.

„Vielleicht muß ich ja jemanden skalpieren, Alder-san,“lächelte sie und zeigte ihren Revolver. Jack lachte und wandte sich wieder seinen sonstigen Aufgaben zu.

Die erwachsenen Cowboys, von denen einige nicht 'mal Lesen und Schreiben konnten, hatten ebenfalls die Kommandos in der fremden Sprache lernen müssen, und die anderen Lehrer mußten zuweilen mit ihnen den Fußboden wischen.

Jack wollte gerade das Zeichen zum Aufbruch geben, als der Sheriff an seiner Seite auftauchte. Mary-Rose behielt von ihrem Pferd aus den Überblick, hatte gerade eben die besorgten Eltern etwas zurückgedrängt.

„Du kannst immernoch mit,“begrüßte er sie.

„Nein,“schüttelte sie den Kopf.„Die Stadt braucht mich jetzt ganz besonders.“

„Meinst Du, es werden viele Viehtrecks durchziehen?“Die Frage war rein rhetorisch. Jack kannte die Realität. Clearwater konnte auf seinen Sheriff nicht verzichten. Irgendwie tat sie ihm leid, aber welche Dreizehnjährige durfte schon mit scharfer Waffe Sheriff spielen?

„Viel Glück, Onkel Jack,“wünschte sie ihm und nahm ihr Pferd aus der Masse.

Jack gab das Zeichen zum Aufbruch, und langsam aber sicher setzte der Treck sich in Bewegung. Mike setzte sich ans Ende des Zuges, damit niemand zurückblieb. Einige der Kinder hatten Hütehunde mitgebracht, die die Herde noch zusätzlich zusammen und auf Trab hielten. Nach einiger Zeit kam Clearwater außer Sicht, und der einzige altsprachliche Viehtreck von Clearwater nach Albuquerque im ganzen Westen war auf sich gestellt.

Mary-Rose blickte dem Treck nach, wie er im Süden verschwand. Sie bedauerte ein wenig, nicht mitreiten zu können, aber Sheriff sein machte viel mehr Spaß. Einige der Mütter hatten ihr Taschentuch gezogen, winkten damit, bevor sie sich die Tränen trockneten. Die Kinder schauten sich nicht einmal um, waren schon voll auf ihre Aufgabe konzentriert.

Der Sheriff ritt zurück in die Stadt, vorbei an den großen Fences, in denen die durchreisenden Herden sozusagen geparkt wurden, vorbei an der Hütte, in der der Auktionator die Zuschläge gab, vorbei an der neuen Schule. Ihre Gedanken wanderten dabei zurück zum letzten Herbst. Sie versuchte sich das kleine Mädchen mit dem Matrosenhut vorzustellen. Es gelang ihr nicht mehr. Aber das Bild, daß sie eigentlich vergessen wollte, stand ihr immernoch vor Augen: Elija Ferguson, wie er auf Myrna lag, noch eingedrungen und mit dem Messer in der Hand, um sie zu erstechen. Mary-Rose hatte ihn nur kurz abgelenkt, aber ihr hatte das genügt. Der Knall, und dann spritzte Blut aus seiner Stirn. Als er von Myrna herunterrollte, sah sie sein eregiertes Gemächt, das rigor mortis auch nicht mehr erschlaffte. Er war so begraben worden. Dann kamen Tante Ethel und ihr Vater, der Richter, der Bürgermeister …

„Morgen, Sheriff,“brachte eine Stimme Mary-Rose ins hier und jetzt zurück. Sie schüttelte den Kopf.

„Warst gerade wohl meilenweit weg, was?“fragte dieselbe Stimme.

„Alte Geschichten,“grinste Mary-Rose. So langsam lichtete sich der Schleier vor ihren Augen. Sie sah einen Planwagen und auf dem Bock den Sprecher: Gun!

„‚Alte Geschichten‘ hört sich bei Dir so komisch an,“grinste Gun.

„Ein Jahr ist ein Dreizehntel meines Lebens,“konterte Mary-Rose,„und es erscheint mir wie ein Jahrhundert.“

„Mag sein,“stimmte Gun zu, drehte sich um und gab den Blick auf seine Begleiterin frei.„Darf ich Dir meine Frau Clarisse vorstellen? Dies ist der Sheriff von Clearwater, Mary-Rose Robinson.“

„Mein Mann hat mir schon viel von Ihnen erzählt,“hielt Clarisse ihre Hand hin. Mary-Rose ergriff sie.

„Hoffentlich nur Gutes, Ma’am,“grinste sie schief, wandte sich dann wieder an Gun.

„Was tut Ihr hier?“

„Barney hat uns als Show während des Viehtriebs gebucht,“erklärte Gun.

„Und als was?“

„Messerwerfer.“

Mary-Rose sah sich daraufhin Mrs. Mayweather genauer an. Schon das Abbild der Messer sollte die Kerle im Saloon halten!

„Gut für Dich,“fletschte sie die Zähne,„sonst hättest Du jetzt die rechte Hand gehoben.“

„Bin also von der Dienstpflicht befreit?“lachte Gun.

„Entscheide ich nach der Generalprobe,“drohte Mary-Rose scherzhaft und ritt weiter.

„Dienstpflicht?“fragte Clarisse erstaunt.

„Sie hätte mich sonst wieder als Deputy verpflichtet,“erklärte ihr Mann.

„Hast Du ihren Stern bemerkt?“

„Nein,“antwortete Gun plötzlich nachdenklich.„Sollte sie etwa …?“

Er ließ den Wagen wieder anfahren. Barney würde Bescheid wissen.

Die Haustür ging, kurz danach krachte die Tür von Mary-Roses Zimmer ins Schloß. Marge sah auf die Uhr. 10 Uhr vormittags! Normalerweise kam ihre Tochter samstags nicht so früh. Meistens erschien sie nicht einmal zum Mittagessen. Marge schloß die Haustür und klopfte beim Sheriff.

„Laßt mich in Ruhe!“tönte es von drinnen.„Alle!“

Marge öffnete die Tür.

„Ich komme jetzt 'rein,“sagte sie laut.„Ich bin unbewaffnet, also schön ruhig.“

Als die Tür ganz offen stand, lächelte Mary-Rose schon wieder.

„Laß‘ den Quatsch, Mum,“brummte sie. Marge setzte sich neben ihre Tochter aufs Bett.

„Was ist los?“

„Barney hat Gun als Show engagiert,“antwortete der Sheriff tonlos.

„Aha.“Marge kannte jetzt das Problem.„Und?“

„Er ist jetzt Messerwerfer,“erklärte Mary-Rose ärgerlich,„und hat geheiratet.“

„Oh, oh!“

„Gegen diese Tusse ist Jacqueline so flach wie das Brett, auf das er die Messer wirft!“Mary-Rose hätte wahrscheinlich am liebsten ihr Kopfkissen zerrissen, beherrschte sich aber, fluchte nur laut und völlig unpastorentochterhaft über ihre zurückgebliebene Entwicklung, die gemeinen Vorteile irgendwelcher Schlampen, die Verkommenheit der Männer.

Bei den letzten Worten schaute ihr Vater, der wohl gerade zurückgekehrt war, um die Ecke. Marge nahm ihn sofort mit in die Küche, gab ihm flüsternd einen Auftrag und Geld. Er verließ das Haus, schwang sich aufs Pferd und war weg. Marge suchte im Kleiderschrank nach dem besten Kleid ihrer Tochter, holte Kämme, Bürsten und ihren Schmuckkoffer.

„Du willst also diesen ganzen Leuten zeigen, was eine Frau ist?“fragte sie Mary-Rose. Die nickte nur etwas verständnislos.

„Dann runter mit diesen scheußlichen Klamotten und setz Dich hierher!“

Ihre Tochter gehorchte aufs Wort.

Joe machte große Augen. Der Pastor hatte bei ihm noch nie Schminkzeug gekauft. Er schien auch trotz genauer Anweisung etwas hilflos.

„Für Marge?“fragte Joe.

„Eher für den Sheriff, nehme ich an,“brummte Arthur verlegen.

„Gun ist wieder in der Stadt,“nickte Joe verständnisvoll,„und nicht allein.“

„Aha!“Arthur ging ein Kronleuchter auf.„Daher weht also der Wind.“

„Marge läßt Mary-Rose also von der Leine?“

„Sie sorgt für die Sicherheit der Stadt,“erklärte Arthur mit gespieltem Ernst. Joe brauchte ein paar Sekunden, um ihn zu durchschauen, lachte dann Tränen. Er gab Arthur die gleichen Sachen, die er Valerie Alder verkaufte.

„Und noch eine von diesen Zigarren,“bat Arthur.

Joe gab sie ihm.

„Vielleicht verraucht die Wut damit etwas,“meinte Arthur, als er bezahlte.

„Wird auf jeden Fall spannend,“lachte Joe.

Als der Pastor hinausging, kam Grand nach vorne, und Joe mußte ihm erklären, was los war.

„Könnte interessant werden,“war der trockene Kommentar.

Als Arthur wieder nach Hause kam, zog Mary-Rose sich gerade an. Er blieb vor der verschlossenen Tür, wie er es seit ihrer ersten Blutung immer gehalten hatte, reichte nur das Schminkzeug hinein, setzte Wasser auf, suchte den Kaffee. Marge hatte doch heute Morgen einen Kuchen gebacken. Wo hatte er nur seine Augen? Der Kuchen stand auf dem Tisch zum Auskühlen.

Marge modellierte den Mund ihrer Tochter. Mary-Rose hielt dabei absolut still. Offensichtlich gefiel ihr, was sie im Spiegel sah. Als sie fertig geschminkt war, holte ihre Mutter noch Schuhe.

„Ich glaube, die passen Dir,“vermutete sie, und Mary-Rose stieg hinein. Sie paßten, aber es war ungewohnt. Sie machte einige Schritte, um sich daran zu gewöhnen, mußte von ihrer Mutter gestützt werden. Als ihre Tochter einigermaßen sicher lief, schaute Marge in ihrem kleinen Schmuckkoffer nach, fand eine Kette und ein Armband, legte es ihrer Tochter an. Der Ring dazu paßte allerdings nur über Mary-Roses Zeigefinger. Sie sah wieder in den Spiegel.

„Hm,“meinte der Sheriff,„leider habe ich keine Ohrlöcher.“

Marge hängte ihr ein Paar Clips an die Ohren. Nach einem weiteren prüfenden Blick öffnete Mary-Rose die Tür und präsentierte sich ihrem Vater.

„Jetzt siehst Du endlich wieder wie meine Tochter aus,“lächelte der galant, reichte ihr die Zigarre. Mary-Rose schüttelte nur den Kopf.

„Vielleicht heute Abend, Dad.“

Sie aß ein Stück Kuchen, trank eine Tasse Kaffee, schnallte dann wie gewohnt ihren Patronengurt um, steckte den Stern an. Nach einem skeptischen Blick auf den Ring an der rechten Hand versuchte Mary-Rose jetzt, ihre Colts zu ziehen, und … scheiterte. Die Griffe zeigten zu weit nach innen. Nach einem völlig undamenhaften Fluch ließ sie den Gürtel um ein Loch nach. Der rutschte ihr etwas auf die Hüften. Jetzt klappte das Ziehen problemlos wie sonst auch.

„Siehst Du, wie fraulich Deine Figur schon ist,“erklärte ihr Marge.

„Sagt Jacqueline ja auch immer,“meinte Mary-Rose nachdenklich.

„Sie ist sicher eine Expertin in weiblichem Aussehen,“bemerkte ihr Vater trocken. Mary-Rose brauchte einen Moment, den Witz zu verstehen.

„Sie hat eben viel Erfahrung,“lächelte sie kokett, und Marge fragte sich, ob die Putzaktion richtig gewesen war.

„Normalerweise müßtest Du jetzt einen Sonnenschirm haben.“Der Pastor bewies Sinn für Stil.

„Fällt beim Ziehen doch nur in den Dreck,“wehrte Mary-Rose ab. Ihr Vater nickte, und ihre Mutter öffnete die Tür.

„S’il vous plait, Mademoiselle.“Grandma O’Kelley kam aus Frankreich.

„Merci, maman,“antwortete ihre Tochter und stöckelte durch die Tür. Arthur und Marge sahen ihr hinterher.

„Eigentlich wollte ich ja nur, daß sie merkt, wie weit sie schon ist,“seufzte Marge.

„Und jetzt hast Du Angst, daß sie sich wirklich für erwachsen hält?“fragte Arthur amüsiert.

„Hast Du gesehen, wie sie beim Gehen mit ihrem Hintern wackelt?“konterte Marge bissig.

„Mit den Schuhen hast Du auch mit dem Hintern gewackelt.“

Marge haßte es, wenn ihr Mann Recht hatte.

„Und mich damit geködert.“

Marge drehte sich um, sah ihn an:„War es wirklich mein Hintern?“

„Na, ja,“lächelte er süffisant,„da hat damals zumindest jeder hingesehen.“

Marge brauchte eine Weile, bis sie merkte, daß Arthur sie neckte. Er nahm seine Frau in den Arm:„Und dann hast Du mir Dein Herz unter dem formidablen Dekolleté gezeigt, und das hat mich völlig überzeugt.“

„Und was wurde aus diesem großen gutaussehenden jungen Gentleman, der mir damals nach allen Regeln der Kunst den Hof gemacht hat?“fragte sie scherzhaft.

„Ein Baptistenprediger in Clearwater, Colorado,”antwortete er trocken.„Kennst Du die Stadt zufällig?“

„Flüchtig,“lächelte sie und schaute ihrer Tochter hinterher.

Clive Carstairs fluchte. Beinahe wäre ihm so kurz vor der Stadt die Herde durchgegangen. Nur seine Hunde hatten die Rindviecher zusammengehalten. Jetzt war die Fence fast erreicht. Ein Beauftragter der Stadt wies sie ein, hielt ihn dann auf.

„Der Sheriff möchte noch mit Ihnen reden, bevor Ihre Leute die Stadt betreten,“eröffnete der ihm. Carstairs blickte ihn ungläubig an.

„Clearwater hat einen Sheriff?“

Der Sekretär nickte:„Holen Sie bitte ihre Leute zusammen.“

Carstairs tat es, und der ganze Zug bewegte sich in Richtung Stadt. Am Stadtrand trat ihnen eine attraktive junge Dame entgegen, die sich offensichtlich etwas älter geschminkt hatte. Sie trug einen Patronengurt mit zwei Colts.

„Hallo, Charlie,“grüßte die Dame.

„Hallo, Sheriff,“grüßte Charlie Steward zurück.„Die erste Herde ist da. Das ist Mr. Carstairs.“

Die Dame streckte die Hand aus:„Mary-Rose Robinson, Sheriff.“

„Clive Carstairs, Viehzüchter,“antwortete der verblüffte Carstairs nur.

„Ihre Leute?“

Der Viehzüchter nickte, und der Sheriff winkte die Leute heran.

„Seht Ihr den Ast?“

Die Leute folgten ihrem Finger und nickten. Der Ast war etwa 50 Yards entfernt und dünn. Der Sheriff zog und schoß aus der Hüfte dem Ast die Spitze weg.

„Ich heiße Mary-Rose Robinson und bin der Sheriff von Clearwater.“Sie zeigte auf ihren Stern.„Man sagt mir nach, ich sei schnell und schösse selten daneben.“Pause.„Ich dulde in meiner Stadt keinen Ärger, und letztes Jahr hat deswegen einer ins Gras gebissen. Hat ihm nicht geschmeckt.“Rohes Gelächter beantwortete den schlechten Witz.„Jeder, der sich nicht benimmt, landet vor dem Richter. Und dann im Bau oder am Galgen. Ich dulde keine Duelle oder Schlägereien, und wer die Mädchen im Saloon zu irgendetwas zwingt, landet dafür am Galgen, wie es das Gesetz vorsieht.“Sie blickte in die Runde.„Verstanden?“

Alle nickten. Der Sheriff trat zur Seite.

„Willkommen in Clearwater.“

Die Männer ritten weiter. Der Sheriff setzte sich wieder in ihren Liegestuhl. Am Horizont war schon die Staubwolke der nächsten Herde zu sehen.

Als Mary-Rose spätabends nach Hause kam, machte sie ein sehr zufriedenes Gesicht, setzte sich ins Wohnzimmer zu ihren Eltern und zündete sich die Zigarre an. Nicht 'mal die Schuhe zog sie aus. Ihre Eltern sagten nichts, beobachteten sie nur. Irgendwann setzte der Sheriff sich mit der Zigarre im Mund ans Klavier, spielte geistliche Lieder, und die Robinsons ließen den Tag ausklingen.

Sonntag Abend in Clearwater. Normalerweise eine Zeit der besinnlichen Ruhe, aber heute herrschte Verkehr auf der Straße. Der Sheriff saß auf dem Damensattel ihrer Mutter hoch zu Roß, um den Überblick zu behalten. Wagen um Wagen kam in die Stadt, suchte einen Parkplatz. Die Stadtbewohner kamen gleich zu Fuß. Am Eingang des Saloons stand Barney und verkaufte Karten. Alle Alders kamen. Tante Ethel zeigte, daß ihr Kleiderschrank mehr hergab als die Alltagskleider. Alle vier Jenkins betraten den Saloon, bzw. der jüngste wurde getragen. Kurzum: Jeder wollte Guns erste Show sehen. Am Ende parkte auch der Sheriff ihr Pferd und betrat den Saloon. Glücklicherweise hatten ihre Eltern ihr einen Platz freigehalten. Es war voll. Überall standen die Leute.

Dann begann die Show. Zuerst tanzten die Mädchen des Saloons, allerdings weit weniger provozierend als normal. Trotzdem hielten einige Eltern ihren Kindern, vor allem den Mädchen, die Augen zu. Mary-Rose mußte sich Mühe geben, nicht zu lachen. Die neidischen Blicke der älteren jungen Damen von Clearwater ignorierte sie.

Es folgten ein Taschenspieler, ein Jongleur, ein Equilibrist, danach als Höhepunkt vor der Pause Gun mit den ersten Nummern. Clarisse betrat die Bühne, und die Kerle pfiffen. Clarisse schüttelte nur den Kopf, zeigte ihren Ehering und präsentierte dann ihren Mann, als er die Bühne betrat. Sie sah in ihrem Kostüm hinreißend aus, wie sich sogar Mary-Rose ehrlicherweise eingestehen mußte, was ihre Abneigung gegen diese Frau aber nur verschärfte. Es folgten nun einige Würfe zum Warmwerden. Danach flogen die Messer wirklich. Zack, Zack, Zack, und Gun bildete seine Frau in den verschiedensten Haltungen mit den Messern ab. Jedes Mal, wenn Clarisse vom Brett wegtrat, blieb eine attraktive Messerfigur übrig.

In der Pause redete jeder mit jedem, neue Getränke wurden bestellt. Mary-Rose blieb heute alkoholfrei, was ihre Mutter sehr freute, ihren Vater aber verwunderte. Auf seinen fragenden Blick schüttelte sie nur den Kopf.

Nach der Pause folgten noch ein paar gute Nummern, bis Gun wieder auftrat. Diesmal wurde Clarisse durch eine Papierbahn verdeckt. Gun warf die Messer, und natürlich blieb Clarisse unverletzt.

Zuletzt wandte Gun sich ans Publikum:„Welche junge Dame hat den Mut, sich vor das Brett zu stellen, während ich ihren Körper darauf abbilde?“

Stille.

„Also gut,“meinte Gun,„dann machen wir’s wie bei der Army, und ich bestimme die Freiwillige.“Die Menge lachte, wartete gespannt darauf, wer wohl das Opfer sein würde.

„Tante Ethel?“fragte Gun.„Nein, das wäre ein zu großer Verlust.“Die Menge lachte.„Myrna Jenkins?“Gun schüttelte den Kopf.„Die hat ein Kind zu versorgen.“Gun grinste hinterhältig.„Es müßte eine sein, die jung, attraktiv und eine Nervensäge ist … natürlich! Der Sheriff!“Gelächter und Applaus wurden so heftig, daß Mary-Rose aufstand, auf die Bühne ging und sich lächelnd vor dem Brett in Pose warf.

„Bereit?“fragte Gun.

Mary-Rose wackelte etwas mit den Hüften, stand dann sicher, nickte. Gun ließ das erste Messer fliegen, und Mary-Rose wurde es anders zumute. Sie mußte sich zwingen, zu lächeln und vor allem still stehen zu bleiben. Höher und höher stiegen die Messer. Mary-Rose hatte eine Pose mit erhobenen Armen gewählt, und Gun formte ihr Bild genau nach. Als das letzte Messer geflogen war, trat Mary-Rose vor und präsentierte ihr Bild genauso, wie sie es bei Clarisse gesehen hatte. Jeder blickte gespannt auf die Reaktion von Marge Robinson, auch ihre Tochter. Doch Marge stand auf und klatschte und der ganze Saal mit ihr.

Gun hatte unterdessen die Messer wieder herausgezogen, kam jetzt mit einem Messer und einer Zigarre zum Sheriff, bot ihr die Zigarre an. Der Sheriff nahm, bekam von Clarisse Feuer, und verzog das Gesicht.

„Was rauchst Du denn für’n Kraut, Gun?“

„Deinen Geschmack kann ich mir leider nicht leisten,“lachte Gun, wies sie wieder zum Brett. Mary-Rose verstand sofort, stellte sich mit nach vorne gerecktem Kopf auf und lächelte mit der Zigarre zwischen den Zähnen. Im Saal war es totenstill. Als das Messer flog, krachte plötzlich ein Schuß, dann schnitt das Messer die Zigarre genau einen Zoll vor den Lippen des Sheriffs ab, die mit ihrem Revolver über die Köpfe des Publikums zielte. Erst danach drehten sich alle um, um zu sehen, wem der Schuß des Sheriffs gegolten hatte. Ein lautes „Iiiiih!“ aus Richtung der Treppe deutete an, wo der Schuß getroffen hatte. Mary-Rose kämpfte sich einen Weg durch die Leute. Auf der Treppe lag ein toter Mann, mitten ins Herz getroffen. In der Hand hielt er einen geladenen Revolver.

„Kennt ihn jemand?“fragte Mary-Rose, während Rivers den Toten untersuchte. In Ihrem Kopf schwirrte es. Hatte sie es richtig gesehen? Hatte er gezielt? Oder doch nur in die Luft schießen wollen?

Gun und Clarisse kämpften sich heran, während Marge von ihrem Mann zurückgehalten wurde. Clarisse sah den Toten, schrie – auch einen Namen, den Mary-Rose aber nicht verstand – und wandte ihr Gesicht heulend ab. Mary-Rose sah Gun an, ihre Augen trafen sich, die von Gun waren komplett hilflos, sein Schulterzucken eigentlich überflüssig.

„Gut getroffen, Sheriff,“meinte Rivers jetzt.„Er war sofort tot.“

Mary-Rose nickte nur, trat zu Gun und Clarisse hin, legte ihr die Hand auf den Arm.

„Mrs. Mayweather,“sagte sie, während der Sheriff wieder die Oberhand gewann,„kann ich irgendwo ungestört mit Ihnen reden?“

Clarisse sah sie an, nickte dann.

„Gehen wir in mein Büro.“

Als sie den Saloon verließen, fiel Mary-Rose noch etwas ein:„Hat sonst noch jemand was gesehen?“Eigentlich eine überflüssige Frage. Der Mann hatte ganz hinten gestanden. Trotzdem gingen zwei Hände hoch, zwei Artisten. Mary-Rose suchte jemanden.

„Onkel Doug,“rief sie.

„Ja,“kam es von hinter ihr. Sie drehte sich um.

„Heb‘ die rechte Hand.“

Doug Alder wagte es nicht, zu diskutieren und wurde vereidigt.

„Nimm bitte die Aussagen auf und laß die Leiche wegschaffen.“

„Ich kümmer mich hier um alles,“beruhigte Doug sie.

Mary-Rose verließ mit Gun und Clarisse den Saloon. Der Weg zum Office war kurz, aber Clarisse mußte gestützt werden. Dort angekommen, stellte Mary-Rose einen Stuhl vor die Tür. Gun verstand den Wink und blieb draußen.

Drinnen machte der Sheriff Licht, setzte Kaffeewasser auf, legte sich einige Blätter Papier und eine Feder zurecht, schraubte das Tintenfaß auf. Glücklicherweise war noch soviel Glut in dem kleinen Ofen, daß das Feuer schnell entfacht und das Kaffeewasser bald heiß war. Mary-Rose stellte zwei Tassen auf den Tisch, reichte Gun eine nach draußen.

„Sie kannten den Toten, Ma’am?“begann Mary-Rose die Befragung.

„Roy Bannister,“nickte Clarisse,„ein ehemaliger Orchesterkollege meines verstorbenen ersten Mannes.“

„Und wie standen Sie zu dem Toten?“

„Nach dem Tod meines Mannes machte er mir den Hof,“berichtete die Artistin,„aber ich wies ihn ab. Er gab allerdings nicht auf.“

„Niemals?“

Clarisse schüttelte den Kopf:„Niemals. Noch am Vorabend unserer Hochzeit erreichte mich ein Brief, in dem er drohte, Gun zu töten.“

„Haben Sie diesen Brief noch?“

Clarisse nickte:„Hätte ich das doch nur geahnt!“

„Hielten Sie es für eine leere Drohung?“fragte Mary-Rose erstaunt.

„Der Mann war ein Schwätzer, ein Virtuose nur auf seiner Geige,“erklärte Clarisse.

„Wie kam eigentlich ihr erster Mann ums Leben?“Der Frage fehlte in Clarisses Augen der Zusammenhang. Aber sie war ja nicht der Sheriff.

„Cyrus, mein erster Mann,“erzählte sie,„kam vor etwa drei Jahren von einer Probe nach Hause, schwankte, hielt sich den Kopf und brach zusammen. Eine Stunde später war er tot.“

„Ist er obduziert worden?“

„Nein. Man hielt es nicht für nötig.“

„Würden Sie einer Exhumierung zustimmen?“

„Warum?“fragte Clarisse verwirrt zurück.

„Um vielleicht herauszufinden, ob ihr erster Mann ermordet wurde.“

„Sie meinen?“dämmerte es Clarisse.

Der Sheriff nickte grimmig:„Es könnte sein.“

„Tun Sie bitte, was Sie für nötig halten.“

„Wußte Gun von diesem Bannister?“

„Nein, ich hielt es nicht für bedeutend und wollte ihn nicht verunsichern.“Clarisse lächelte.„Von seiner sicheren Hand hängt mein Leben ab.“

In den nächsten Sekunden schossen Mary-Rose mehrere unwürdige Gedanken durch den Kopf. Sie verscheuchte sie, ging zur Tür und schaute hinaus.

„Kommst Du bitte herein, Gun?“

Marge wachte auf. Wie jeden Montagmorgen machte sie Frühstück, bis sie zum Küchenfenster hinausblickte. Im ersten Büchsenlicht sah sie eine Gestalt in einem Kleid auf der Bank hinter der Kirche sitzen. Sie faßte ihren Morgenmantel fester und ging hinaus.

„Sitzt Du schon die ganze Nacht hier, Schatz?“fragte sie ihre Tochter.

Mary-Rose nickte, sagte aber kein Wort.

„Komm ins Haus,“bat Marge.„Zum Reden ist auch später noch Zeit.“Ihr kam ein Gedanke.„Anordnung der Mutter des Sheriffs.“

Der Sheriff lächelte gequält und folgte ihrer Mutter zu Kaffee und Waffeln.

Nach dem Frühstück badete Mary-Rose, zog ein frisches Kleid an, schminkte sich, stöckelte auf sehr hohen Schuhen aus dem Fundus ihrer Mutter zu ihrem Pferd und ritt zur Schule. Marge wagte keinen Widerspruch.

Feodora Alder blickte aus ihrem Büro im vierten Stock der Schule auf den Schulhof. Draußen, wo die Pferde abgestellt werden durften, kam gerade der Sheriff an, schickte ihr Pferd in die Fence, nachdem sie den Sattel und das Zaumzeug abgenommen und in ihrem Fach eingeschlossen hatte, daß sie sich für einen Dollar im Monat leistete. Zwanzig davon gab es, das reichte für die Weißen bei dem Preis. Und die Indianer ritten ohne Sättel.

Vor Betreten des Schulhofs richtete der Sheriff ihr Gesicht in einem kleinen Taschenspiegel. Dann ging sie, ohne sich aufzuhalten, zu ihrem Klassenraum. Feodora sah, welche Blicke die sechzehn- bis achtzehnjährigen Mädchen dem Sheriff zuwarfen. Mary-Rose schien sie zu ignorieren. Feodora mußte zugeben, daß die Haltung der Dreizehnjährigen bewundernswert war.

Als Feodora den Klassenraum betrat, saßen alle schon auf ihren Plätzen. 22 Kinder und eine junge Frau standen auf, begrüßten ihre Rektorin artig und setzten sich wieder. Die junge Frau hatte ihren Waffenladen sogar an den kleinen Haken für die Schultaschen gehängt, die an den Bänken angebracht waren. Die Mathematikstunde verlief wie gewohnt, nur daß der Sheriff ungewöhnlich still war. Sie schrieb mit, versuchte – wie gewöhnlich – ihr Haar zu bändigen, das ihr ständig ins Gesicht fiel, und in dem sich heute auch noch ihre Ohrclips verhedderten. Irgendwann gab sie es auf, verschob die Klärung offensichtlich bis nach dem Unterricht.

Als der Unterricht zu Ende war, ging die Rektorin auf den Sheriff zu, hielt sie zurück.

„Was ist los mit Dir?“fragte Feodora, lehnte sich bequem an eine der Bänke.„Alles in Ordnung?“

Der Sheriff setzte sich wieder, enthedderte die Ohrclips.

„Was soll schon sein, Tante Feodora,“brummte sie.„Hab‘ einen Mann erschossen. Völlig normal für 'nen Sheriff.“Sie blickte auf.„Oder?“

„Du bist aber kein normaler Sheriff,“erinnerte Feodora.

„Vielleicht,“gab die Dreizehnjährige zu, nachdem sie Haare und Schmuck in Ordnung gebracht hatte.

„Wenn Du sie zusammenbindest, kommt das Geglitzer besser zur Geltung,“riet Feodora.„Aber die Mädchen reden ja jetzt schon.“

„Sollen sie doch,“brummte Mary-Rose jetzt noch mürrischer.„Deren Probleme möchte ich haben, und die Einkünfte von Onkel Julius.“

Feodora mußte lächeln.

„Ich meine ja nur, daß Du vielleicht einen anstatt zwei Zoll Schminke aufträgst und etwas flachere Schuhe nimmst.“

„Brauche im Moment zwei Zoll, um mich zu verstecken,“grinste Mary-Rose jetzt schief.

Feodora verstand.

„Du kannst immer kommen, wenn Du willst,“bot sie an.

„Danke.“

Die Kinder kamen wieder, und der Unterricht ging mit Englisch weiter.

In der großen Pause scharten sich die Jungs um Mary-Rose, die sich die Ablenkung gefallen ließ. Sie lächelte, wenn ihr einer der Jungs etwas von seinem Sandwich abgab, sie aus seiner Flasche trinken ließ, um dann schnell hinterher etwas vom klebengebliebenen Lippenstift zu erhaschen. Feodora lächelte, bis sie die Blicke der älteren Mädchen sah.

Nacht auf dem Viehtreck. Die vierte seit der Abreise. Kinder und Lehrer saßen an mehreren Lagerfeuern, jedes für eine andere Sprache. An einem Lagerfeuer saß ein Lehrer mit den Cowboys, die noch Lesen und Schreiben lernen mußten. Ein paar der älteren Schüler bewachten mit den Hunden die Herde. Gegen zehn Uhr abends legten sich alle bis auf die Wachen schlafen.

Jack Alder erwachte, weil sich seine Arme und Beine seltsam anfühlten. Er hatte wie ein Stein geschlafen, und jetzt … war er unbeweglich, allerdings durch Fesseln. Er öffnete die Augen, legte sich auf die Seite.

„Hey, Du,“blökte eine rauhe Stimme.„Bleib ganz ruhig liegen!“

Jack sah den Sprecher an. Kein sonderlich intelligentes Gesicht, fand er, aber das konnte täuschen. Ein Blick in die Runde sagte ihm, daß alle gefesselt waren. Wie war das möglich?

Der Mann, der bis jetzt mit dem Rücken zu Jack gesessen hatte, drehte sich um.

„Da staunst Du, Jack Alder,“lachte er.„Na, erinnerst Du Dich?“

Jack mußte eine Weile in seinem Gedächtnis kramen, dann … .

„Richtig, Sir,“bemerkte der andere.„Dodge City vor sechs Jahren. Gehörtest zu den Arschlöchern von Geschworenen, die mich schuldig gesprochen haben.“

„Hatten wir Dich nicht zu zwanzig Jahren verurteilt?“fragte Jack.

Der andere zuckte mit den Schultern:„Mit guten Freunden ist ein Ausbruch immer drin.“

„Hab‘ ich ein Glück,“stöhnte Jack. Die drei Kerle lachten.

„Was mußtest Du ihn auch verurteilen?“fragte Mike bissig.„Und dann nicht 'mal aufhängen!“

Die Kerle lachten noch mehr.

„Du hast es ja nie bis zum Geschworenen geschafft,“spielte Jack mit. Irgendeinen Grund würde sein Bruder schon haben.

„Ist doch süß,“lachte der Entflohene.„Eine rührende …“

Weiter kam er nicht, denn aus dem Gebüsch hinter ihnen kam eine schattenhafte Gestalt hervor, zog ein Schwert und zog durch. Drei Köpfe fielen zu Füßen ihrer Besitzer, bevor die umfielen.

„Skalpieren geht aber anders,“kommentierte Jack leise, als Yukiko ihn losschnitt.

„So skalpieren wir in Japan,“entgegnete sie.

„Hätte sich verhindern lassen, wenn der gleich aufgehängt worden wäre,“meinte Mike.

„Wie ist das überhaupt passiert?“fragte Jack seine Schülerin.

„Ich hatte mich zum Austreten hinter ein Gebüsch zurückgezogen, als diese Männer sich leise näherten, jedem erst ein Tuch vor den Mund hielten und ihn dann fesselten,“erklärte Yukiko.„Ich hielt mich versteckt, beseitigte zuerst die zwei Männer bei der Herde und dann diese drei.“

„Die Herde ist unbewacht?“

„Nein. Eine Wache war schon erwacht, und ich habe sie befreit.“Der Ton des Mädchens klang ruhig und überlegt. Jack fragte sich, ob hinter der glatten Stirn das gleiche vorging wie bei Mary-Rose letztes Jahr.

„Woher hattest Du Dein Schwert?“

„Eine Samurai trennt sich nie von ihren Schwertern,“erklärte die Japanerin,„aber jetzt muß ich Sie, Alder-san, bitten, die anderen zu befreien.“Sie verneigte sich und eilte zu der improvisierten Latrine, die sie ausgehoben hatten.

Jack trat zu seinem Bruder.

„Bereust Du, oder willst Du liegen bleiben?“fragte er.

„Na, gut,“stöhnte Mike,„ich häng‘ die nächsten Delinquenten.“

Jack sah ein, daß mehr nicht zu erreichen war, und band seinen Bruder los. Innerhalb von zehn Minuten waren alle wieder frei. Jack gab einigen älteren Jungs die Anweisung, die Leichen in Säcke einzunähen. Sie würden sie morgen in der nächsten Stadt beim Sheriff abliefern.

Nach einer relativ kurzen Nacht und einem freudlosen Frühstück bauten die indianischen Kinder eine Schleife, auf die die Leichensäcke gelegt wurden. Yukiko bestieg ihr Pferd. Ihr Gesicht war ruhig wie immer.

„Wer macht den Kundschafter?“fragte Jack, wie jeden Morgen.

Es meldeten sich mehrere Indianer und … Yukiko. Jack ließ das Mädchen vorausreiten und wählte einen Osagen als Begleiter.

Die nächste Stadt hieß Cow Hill, und während die meisten die Herde bewachten, ritten Jack, Mike, Yukiko und ein paar andere in die Stadt. Am Sheriff’s Office hielten sie an, stiegen ab und traten ein.

„Guten Tag,“grüßte Jack.„Ist der Sheriff zu sprechen?“

„Sicher,“antwortete der Mann hinter den Schreibtisch.„Ich bin es selbst.“Er mochte etwa Vierzig sein, hatte Mikes Figur und einen grauen Bart, hielt jetzt die Hand hin.„Jessup Styles. Um was geht es?“

„Oh,“machte Jack und ergriff die Hand, während Mike breit grinste.„Jack Alder, mein Bruder Mike. Wir haben eine Anzeige zu machen und ein paar Tote abzuliefern.“

„So?“fragte der Sheriff nun schon interessierter.„Jack und Mike Alder bringen mir ein paar Leichen? Muß ja 'ne interessante Geschichte sein, Gentlemen. Erzählen Sie 'mal.“

„Dann kommen Sie mit 'raus,“lud Mike ihn ein.

„Dann wollen wir 'mal,“lächelte Styles und nahm seinen Hut.

Als sie durch die Tür gingen, fragte Mike Jack flüsternd:„Wen hattest Du eigentlich erwartet?“

„Frag‘ nicht,“zischte Jack genauso leise zurück. Yukiko lächelte verhalten und vor allem für die Brüder unsichtbar.

Draußen warf Styles einen Blick in die Säcke, lief leicht grünlich an und ließ sich die Geschichte erzählen. Danach sah er die junge Samurai genau an. Yukiko verneigte sich mit einem freundlichen Lächeln, das Styles zwang, es ihr gleichzutun. Er kratzte sich am Kopf, ließ sich das Schwert zeigen, kratzte sich wieder.

„Sehr ungewöhnlicher Fall, Gentlemen,“sagte er,„und, ganz offen gesagt, ihre Namen machen es nicht leichter.“Er blickte die Alders an.„Verzeihen sie bitte.“

„Wir wissen, daß wir keine Chorknaben sind, Sheriff,“antwortete Jack.

„Aber wir sind hier,“half ihm Mike.„Wir hätten sie auch einfach verscharren können.“

„Das ist richtig,“stellte der Sheriff fest, nahm seinen Hut und sagte, er wolle den Rest des Trecks verhören.

Am Morgen des nächsten Tages ließ Sheriff Styles den Treck weiterziehen und machte sich auf den Weg nach Hause. Nach durchwachten Nächten merkte er, daß er keine Zwanzig mehr war. Bevor er nach Hause ging, schloß er das sichergestellte Tuch und die Flasche mit dem Betäubungsmittel im Safe seines Office ein. Sobald er ausgeschlafen war, würde er den Doktor dazu befragen.

Mary-Rose hielt den Umschlag mit dem Telegramm in der Hand, konnte sich aber nicht entschließen, ihn zu öffnen. Wem nützte die Nachricht überhaupt? Was war denn bewiesen, selbst wenn die Nachricht positiv war? Der Sheriff rief sich zur Ordnung und gestand sich ehrlich ein, daß sie Angst vor einer negativen Nachricht hatte. Schließlich steckte sie den Brief in ihre Manteltasche und machte sich auf den Weg zum Saloon.

Dort angekommen, betrat sie den großen Saal und hätte vor Schreck beinahe geschrien.

„Was ist denn hier los?“fragte sie nur sehr bestimmt.

„Alles in Ordnung, Mary-Rose,“meinte Myrna.„Ich bekämpfe nur meine Angst.“

„Und wenn Du in Panik gerätst?“fragte Mary-Rose besorgt.„Wenn Du’s vermuckst, kann das Messer treffen.“

„Deshalb ja auch die Augenbinde,“lächelte Myrna.„So sehe ich die Messer nicht.“

„Wir machen schon den dritten Durchgang,“grinste Gun.

„Paß bloß auf, Gun!“drohte der Sheriff.„Wo ist Deine Frau?“

„Hinten,“zeigte Gun mit einem Messer.

Mary-Rose ging hinter die Bühne, fand Clarisse dort beim Bügeln.

„Mrs. Mayweather,“sagte sie und zog den Umschlag hervor,„ich habe das Ergebnis der Exhumierung.“

Clarisse stellte das Eisen weg, nahm den Umschlag, wog ihn in der Hand.

„Wollte ihn nur in Ihrem Beisein öffnen,“erklärte der Sheriff.

Clarisse öffnete den Umschlag, zog das Telegramm vorsichtig heraus, hielt es zusammengefaltet in ihrer Hand. Mary-Rose trat neben sie, legte ihr den Arm um die Schultern. Clarisse öffnete den Umschlag, und die beiden Frauen lasen. Danach setzte Clarisse sich stumm auf einen Stuhl. Mary-Rose blickte sie an, ging dann nach vorne, als sie keine einschlagenden Messer mehr hörte.

„Gun,“sagte sie nur,„kümmer Dich bitte um Deine Frau.“

Gun ging sofort nach hinten. Mary-Rose blickte ihm nach.

„Was ist denn los?“fragte Myrna.

„Amtsgeheimnis,“antwortete Mary-Rose nur, blickte zu Boden.„Frag‘ Deine Eltern schon 'mal um Erlaubnis.“

„Wofür?“

„Für den Auftritt heute Abend,“meinte der Sheriff.„Clarisse wird’s wohl nicht schaffen.“

„Übernimmst Du das für mich,“bat ihre Freundin.„Du bist überzeugender.“

„Mach‘ ich,“lächelte Mary-Rose.„Und Du sagst Gun, daß er heute Abend wieder Messer nach mir werfen darf.“

„Klar, Sheriff.“

Myrna umarmte ihre Freundin, die den Saloon verließ. Es hatte Mary-Rose nie so wenig gefreut, Recht behalten zu haben.

Abends trug Myrna ein Kleid, das Augusta beigesteuert hatte, während Mary-Rose bei Valerie betteln mußte. Elvira hatte zunächst skeptisch geguckt, Isaiah erstaunlicherweise aber nicht, obwohl das Kleid einige sehr tiefe Einblicke zuließ. Er hatte bei Myrnas Erklärungen nur genickt. Hinter der Bühne konnte Mary-Rose deutlich sehen, wie Myrna ihre Angst niederkämpfte. Der Sheriff hatte beide Colts umgeschnallt.

„Angst?“fragte sie.

„Ja,“gab Myrna zu,„aber nicht die Messer, die Leute.“

„Du wußtest es.“

„Natürlich, aber real ist was Anderes.“Myrna zwang sich zu einem Lächeln.„‚Wer überwindet, …‘,“zitierte sie aus der Bibel, und der Sheriff mußte sich das Lachen verbeißen.

Als sich der Vorhang hob, stöckelte Myrna auf die Bühne, präsentierte sich selbst und Gun, stellte sich vor das Brett, während Mary-Rose Gun die Messer reichte. Die Eltern der Mädchen saßen ganz hinten, die Mütter verzogen bei den Pfiffen der Männer das Gesicht, während beide Väter lediglich amüsiert lächelten und dadurch ihre jeweiligen Ehefrauen nur noch mehr aufregten.

Im Laufe der Show wurde Myrna immer lockerer, wackelte kurz vor der Pause sogar syncron mit ihrer Freundin mit den Hüften. Das Publikum johlte. Dann fiel der Vorhang.

Clarisse nahm die beiden Mädchen hinten in Empfang.

„Sehr gut!“lobte sie.„Vor allem Du, Myrna.“

„Danke,“atmete Myrna tief durch.„Ich hatte das Publikum wirklich in der Hand!“Sie war etwas ratlos.„Es war, als würde ich das steuern.“

„Völlig normal,“klopfte Gun ihr auf die Schulter.„Das Publikum erwartet von Dir, daß Du es mitnimmst. Ich werfe die Messer, aber die da draußen sehen nur Dich, fiebern mit Dir.“

„Ich mach‘ gleich das Todesrad,“verkündete Myrna.

„Bist Du sicher?“wollte Mary-Rose eigentlich fragen, hielt aber den Mund. Gun nickte ihr nur verstohlen zu.

„Isaiah, ich hab‘ Angst,“sagte Elvira leise während der Pause.

„Wovor?“fragte der zurück, obwohl er die Antwort kannte.

„Davor, daß einer der Kerle Myrna für Freiwild hält!“zischte Elvira.

„Sie hat das Publikum absolut im Griff,“beruhigte sie Arthur.„Auf diese Art erzeugt sie ein Gefühl der Unerreichbarkeit.“

Elvira wollte Arthur gerne glauben, blieb aber skeptisch.

„Außerdem ist sie hier nicht allein,“erinnerte Isaiah,„und alles, was sie gegen ihre Angst unternimmt, ist gut.“

„Sie möchte diesen Damenrevolver bei Tamblyn,“erklärte Elvira.

„Vielleicht 'ne gute Idee.“Arthur klang nachdenklich.„Paßt in die Handtasche, sogar in eine Tasche am Kleid. Mary-Rose könnte ihr beibringen, wie man damit umgeht.“

„Noch ein Mädchen mit Revolver?“Marge war skeptisch.

„Vielleicht braucht sie ihn ja nur zur Abschreckung,“erklärte Arthur.„Weil er da ist, muß sie ihn nicht benutzen.“

„Sie hat doch einen Revolver,“wandte Elvira ein.

„Wenn sie das Ding anfaßt,“erinnerte ihr Mann sie daran, daß dieser Revolver eine Geschichte hatte.

„Habt ihr gesehen, wie gelöst sie am Ende der Show war?“wechselte Arthur jetzt das Thema.„Sie schien fast ohne Angst.“

„Deshalb habe ich’s ihr erlaubt,“sagte Isaiah.

„Ich weiß,“erklärte Elvira gereizt,„aber meine Tochter in diesem Aufzug vor einer Horde Männer!“

„Wenn die Frau des Pastors damit zurechtkommt,“lächelte Marge ganz gegen ihre Überzeugung,„kannst Du das auch.“Elvira verdrehte die Augen.„Und meine Tochter ist jünger.“

Als Elvira ihre Tochter nach der Show hinter der Bühne in ihre Arme schloß, gab es keinen Vorwurf. Elvira war einfach nur glücklich, daß ihr Kind glücklich war.

„Danke, Gun,“sagte Myrna.

„Was sagt man dazu?“grinste Gun schief.„Ich werf mit scharfen Messern nach ihr und sie bedankt sich.“

Myrna lächelte. Elvira las in ihren Augen eine ganz bestimmte Frage, die sie dort nicht sehen wollte. Gun und Clarisse hatten es ebenfalls gemerkt, nickten sich zu.

„Du kannst gerne weitermachen, Myrna,“bot Gun deshalb an.

Elvira schluckte, während ihr Mann nachdenklich schaute. Mary-Rose, ja eigentlich alle Robinsons verhielten sich extrem neutral.

„Aber nicht so viel mit den Hüften wackeln,“grinste Isaiah schief.

„Meinst Du so, Dad?“fragte Myrna provozierend und gab ein ziemlich heftiges Beispiel. Ihr Vater mußte lachen, nickte.

„Genau das,“bestätigte er.„Übertreib’s nicht.“

„Danke, Dad.“Myrna umarmte ihren Vater.

Zuhause bei den Robinsons lag Spannung in der Luft. Marge betrachtete ihre Tochter, wie sie sich abschminkte, als würde sie gleich explodieren. Irgendwann wurde es Mary-Rose zu dumm.

„Was ist, Mum?“fragte sie genervt.

Marges Gesicht wurde milder.

„Ich möchte das Du weißt,“fing sie an,„daß ich es hochanständig finde, daß Du Gun aus der Klemme geholfen hast.“Marge atmete tief durch.

„Aber?“fragte Mary-Rose.

„Ich hätte es lieber gesehen, wenn Du bei der Zurschaustellung Deiner Weiblichkeit etwas zurückhaltender gewesen wärst.“

Arthur zog vorsichtshalber den Kopf ein, als das Gesicht seiner Tochter in schneller Folge alle möglichen Ausdrücke annahm. Schließlich entspannte sich Mary-Rose und nahm ihre Mutter in den Arm.

„Keine Angst, Mum,“beruhigte sie ihre Mutter.„Das war doch nur für die Show.“

„Ich weiß,“gab Marge zu,„aber trotzdem habe ich Angst um Dich. Du setzt als Sheriff jeden Tag Dein Leben aufs Spiel – ganz besonders jetzt. Du hast schon zwei Männer erschossen, und ich weiß, daß Du da noch nicht drüber weg bist. Und Du würdest wohl kaum so häufig zu Jacqueline gehen, wenn Du keine Probleme mit dem Frauwerden hättest.“Sie umarmte ihre Tochter.

„Es ist alles in Ordnung, Mum,“beteuerte Mary-Rose,„wirklich! Auch wenn die genannten Punkte manchmal durchaus schwierig sind.“

Marge lächelte.

„Noch einen Tee oder ein Sandwich?“

„Nur Wasser, Mum,“antwortete der Sheriff.„Ist schon ein komisches Gefühl, wenn die Messer neben einem einschlagen.“Sie blickte zu ihrem Vater.„Man wird sich der eigenen Sterblichkeit bewußt.“

Marge schüttelte den Kopf und brachte ihrer Tochter das Wasser.

„Verrat mir Eins, Arthur,“bat Jack.

„Ja?“fragte Arthur, wieder einmal auf dem Endpunkt seines Gemeindeumritts.

„Wie kommt ein Totaltheoretiker wie Du ausgerechnet nach Clearwater?“Jack bat mit seinem Blick um Verständnis.„Ich meine, bin ja froh, daß Du hier bist, aber eigentlich paßt Du doch mehr an eine Hochschule als in den Westen.“

Arthur lächelte:„Ich war vorher an einer Hochschule, und das hat auch Spaß gemacht.“

„Und warum dann Clearwater?“Doug.

„Frag‘ lieber, wozu, Doug.“

„Theologen,“lachte Feodora und setzte sich mit ihrem Babybauch auf den Schoß ihres Mannes.

„An unserer Bibelschule herrschte damals ein eher gesetzliches Klima,“begann Arthur.„Vergebung war mehr eine theoretische Möglichkeit.“Er lächelte.„Dazu kam, daß ich damals noch besser aussah als jetzt und mit einem Feger von Ehefrau nicht in die sauertöpfische Gesellschaft paßte.“Er lehnte sich zurück, schloß die Augen.„Als dann Mary-Rose geboren wurde, wollte ich ihr ein anderes Bild vom Glauben mitgeben.“

„Erfolgreich, wie ich bemerken darf, Reverend,“dozierte Mike in einer Parodie professoralen Verhaltens.

„Danke,“grinste Arthur.„Und Marge war es definitiv leid, in Sack und Asche herumzulaufen. Sogar meine Schwiegermutter war mit mir einer Meinung, was relativ selten vorkommt. Hier war gerade der alte Reverend gestorben, und Eure Mutter wollte einen jüngeren Pastor. So kam ich hierher.“Er blickte in die Runde.„Hatte – ganz ehrlich – ein bißchen Schiß, weil ich zwar Reiten aber zum Beispiel nicht schießen konnte. Außerdem waren mir Gemeindedienst und Seelsorge völlig fremd.“

„Kannst Du auch heute noch nicht,“neckte ihn Feodora.„Schießen, meine ich.“

„Das sagt die Richtige,“grinste Arthur zurück.„Zuerst hatte ich riesige Probleme. Ohne Tante Ethel und Eure Mutter wäre ich untergegangen.“

„So langsam verstehe ich Deine Leichenrede damals,“meinte Doug.

„An diesem Tag kamen vier Rüpel und Grobiane nach Hause,“fuhr Arthur fort,„die als erstes die Stadt aufmischten.“

„Hatten ja auch Grund dazu,“brummte Jack.

„Unbestritten,“bestätigte Arthur.„Aber vor allem stellte ich fest, daß ich mich in Eurer Gegenwart entspannen konnte.“Er lächelte.„Du Jack hast mir so viel beigebracht, daß jetzt zumindest der Raum hinter meinem Colt sicher ist.“

Jack lachte bei der Erinnerung. Arthur und sein Revolver! Aus ganz anderen Gründen eine ähnlich interessante Geschichte wie die seiner Tochter.

„Er ist auf jeden Fall groß genug, um abzuschrecken, Arthur,“lachte Mike.„Feodora muß schießen.“

„Jeder, wie er kann,“nahm Augusta ihre Schwägerin in Schutz.„Auf jeden Fall hast Du Vergebung in diese Gemeinde eingepflanzt.“

„Hab‘ mir Mühe gegeben.“

„Aber du hast gesagt, die Frage laute: Wozu?“erinnerte Ron.

„Den ersten Teil hat Augusta gerade beantwortet,“erklärte Arthur.„In der Gemeinde und der Stadt mußte sich was ändern, sonst hätte es keinen Frieden mit den Indianern gegeben.“

„Die sind doch extra deswegen hierhergezogen,“nickte Jack.

„Fünf Bären suchte damals nur einen gerechten Richter,“erzählte Arthur weiter.„Und unserer ist rot.“

„Und der zweite Teil?“Valerie war richtig neugierig.

„Wird mir seit letztem Jahr immer klarer.“Arthurs Gesicht wirkte versonnen.„Ich weiß bis heute nicht, warum ich Mary-Rose die Colts nicht gleich wieder abgenommen habe. Irgendwas – oder irgendwer – hat mich daran gehindert.“Er blickte jeden und jede Alder einzeln an.„Aber was wäre unsere Stadt heute, wenn ich es getan hätte?“

Alle Anwesenden nickten zustimmend.

„Clearwater wäre noch immer kein sicherer Ort,“stimmte Doug für alle zu.

„Wir hatten damals im Saloon ständig Angst,“erklärte Augusta.

„Und wir außerhalb auch,“gab Feodora zu.

„Ich denke, Gott wollte es so,“erklärte Arthur,„zu unser aller Segen.“

„Stimmt,“meinte Valerie.„In einer anderen Stadt könnten Augusta und ich wohl nie Lehrerinnen werden.“

Feodora machte ein betretenes Gesicht, schien sich irgendwie unwohl zu fühlen.

„Ist was mit dem Baby, Feo?“fragte Augusta, ihren eigenen Bauch haltend, der schon etwas runder war.

„Nein, sondern ich muß Euch was beichten,“erklärte Feodora.„Paßt also, daß Arthur hier ist.“Sie versuchte ein Lächeln.

„Erleichtere Dein Gewissen, meine Tochter,“gab Arthur sich so pastoral, wie er nur konnte. Feodora mußte lachen.

„Danke Arthur. Du machst es mir leichter.“Sie holte tief Luft.„Wollt ihr wissen, warum ich nach Clearwater gekommen bin?“

Ein Riss auf allen Sitzen beantwortete die Frage. Worte waren unnötig.

„Ich hab‘ Euch doch 'mal erzählt, daß ich zu Hause in New York die bessere Gesellschaft unsicher gemacht habe.“

Alle bis auf Arthur nickten. Arthur hörte nur zu.

„Die Wahrheit ist, daß die sogenannte galante Lebensart bei mir höher im Kurs stand als Anstand, Sitte oder Moral.“Sie atmete zum zweiten Mal tief durch, suchte nach Worten, als sie bemerkte, daß außer Arthur niemand etwas verstanden hatte.„Ich war 'ne Matraze.“Geschockte Blicke von Augusta und Valerie, Schmunzeln der vier Brüder, ruhiger Gleichmut des Pastors.„Glücklicherweise wurde ich nie schwanger, ließ mich auch nie aushalten, dachte damit wär ich besser als …“Ihre Schwägerinnen nickten.„Irgendwann hatte ich dann nicht nur alle Männer mehrfach durch, ich wurde auch uninteressant für sie. Das war der Moment, wo ich floh: Zuerst aufs Lehrerseminar in Saint Louis und dann hierher, in der Hoffnung, meine Vergangenheit hier loszuwerden.“Sie seufzte.„Hat nicht geklappt, was?“

„Wieso wirst Du dann aber bei jedem dreckigen Witz rot?“wollte Valerie wissen.

„Weil ich – im Gegensatz zu Euch beiden – bis heute vor meiner Vergangenheit davongelaufen bin,“erklärte Feodora.„Hier gab’s ja auch Männer, und ich mußte mich in Acht nehmen, um nicht wieder die gleichen Dummheiten zu machen.“Sie strich sich über den Bauch.„Nur Deine Hochzeit mit Jack, Augusta, gab mir die Kraft, Ron an mich heran zu lassen. Ich hatte einfach Angst, er würde mein Vorleben als etwas …“Sie suchte nach Worten.„ … zu wild empfinden.“Sie blickte ihre Schwägerinnen an.„Ihr habt es aus Not getan, zumindest teilweise.“Sie blickte zu Boden.„Ich habe nie Not gelitten.“Sie machte eine Pause.

„Dann hat’s Dir wenigstens Spaß gemacht,“kommentierte Valerie die andere Sicht der Dinge.

„So könnte man es auch nennen,“gab Feodora zu.„An unserem Hochzeitstag hatte ich Ron gerade meine Verfehlungen gebeichtet, und er …“

„Und ich habe gesagt,“half ihr Ron,„daß ich mir ein Vorbild an meinen großen Brüdern nehmen und mir nichts draus machen werde.“

„Hey,“platzte Mike heraus,„haben Jack und ich Dir nicht immer gepredigt, Du sollst Dir kein Vorbild an uns nehmen?“Er zuckte mit den Schultern.„War wohl Blödsinn.“

„Ihr seid genauso verrückt, wie der Rest dieser Stadt,“schüttelte Arthur seinen Kopf.

„Wir sind hier geboren,“grinste Doug.

Augusta und Valerie nahmen Feodora in ihre Arme.

„Komm her, …,“begann Augusta.

„…, Mitschlampe,“vollendete Valerie, und Feodora schien über diesen Titel fast froh zu sein.

„Ich bin im Bett,“kündigte Doug unvermittelt an und verabschiedete sich.

„Was ist denn mit dem los?“fragte Arthur, als er weg war.

„Es ist einfach zu kalt, um in der Scheune zu schlafen,“kommentierte Jack, und setzte Arthur mit ein paar weiteren Worten ins Bild.

„Warum baut Ihr nicht einfach an?“fragte Arthur.„Jeder Familie ihren eigenen Bereich, und schon ist Ruhe.“

„Arthur, Du wächst über Dich hinaus,“lachte Jack.

„Dann nehme ich mir nur ein Beispiel an Dir,“grinste Arthur, und auf Jacks dummes Gesicht:„Du bist der wahrscheinlich gebildetste Mensch, den ich kenne, und so langsam wirst Du auch zivilisiert.“Jacks Gesicht war nicht zu deuten.„Aber bleib bitte Du selbst. Ich glaube, einen zivilisierten Jack Alder könnte dieser Planet nicht ertragen.“

Jack mußte lachen.

„Wen hälst Du denn für den zivilisiertesten Menschen, Arthur?“fragte Ron neugierig. Arthur überlegte eine Weile.

„Gun,“sagte er dann und nickte wie zur Bestätigung.„Ja, eindeutig Gun.“

„Gun?“lachte Mike.„Dann kennst Du ihn aber schlecht.“

Arthur schüttelte den Kopf:„Hab‘ ihn mir schon beim ersten Mal ganz genau angesehen. Hätte ja immerhin mein Schwiegersohn werden können.“

„Werde ihm bei Gelegenheit stecken, daß er nicht an Dir gescheitert ist,“lachte Mike.

Doc Rivers setzte sich stöhnend in den Wagen neben den Sheriff. Daß Babys auch immer nachts kommen mußten. Der Wagen setzte sich in Bewegung, im Galopp. Als sie ankamen, war Elvira Jenkins auch schon da.

„Du machst das großartig, Marge,“sagte sie, während der Arzt sie untersuchte.

„Wird schon, Mum,“meinte Mary-Rose.„Myrna sah schlechter aus.“Sie überprüfte die Ladung ihrer Colts.

„Alles nichtmedizinische Personal 'raus,“fauchte Marge.„Anordnung der Mutter des Sheriffs.“Arthur und Mary-Rose zogen sich zurück. Der Pastor nahm sich seine Zeitung und seine Pfeife, während der Sheriff aufgeregt auf und ab ging.

Nach einer Viertelstunde nahm Arthur seine Pfeife aus dem Mund und bemerkte:„Genauso bin ich auch hin und her getigert, bei Deiner Geburt vor fast vierzehn Jahren.“

Mary-Rose blieb stehen, lächelte gequält:„Ich halte diese Warterei nicht länger aus, Dad, wäre viel lieber da drin und könnte irgendetwas tun.“

„Deine Mutter ist nicht Myrna,“gab ihr Vater zu bedenken.„Du hilfst ihr am Besten, wenn Du sie in Ruhe läßt.“

Mary-Rose blickte nach oben:„Oh, Herr, schenk‘ mir Geduld,… aber bitte sofort.“

Der Pastor lachte.„Man könnte fast meinen, es wäre Dein Kind, das da drin geboren würde.“

„Dann wäre ich ja wohl dabei,“brummte seine Tochter, setzte sich hin und nahm sich das Andachtsbuch.

„Liebe Deinen Nächsten, wie Dich selbst,“las sie und blickte auf.„Aber wir sollen doch unser Kreuz auf uns nehmen und unseren alten Menschen ausziehen?“Ihr Gesicht war ein einziges Fragezeichen.„Wie paßt das zusammen?“

„Geht schon,“nahm ihr Vater bereitwillig die Diskussion auf.„Denn in dem Moment, wo Du Dich unter Gottes Willen stellst, tust Du ja das Beste für Dich selbst.“

„Also das ist mir jetzt zu platt,“verschränkte Mary-Rose die Arme.

„Hattest Du eine hochtheologische Begründung erwartet?“

„Nicht in dieser Situation. Nein.“Der Sheriff grinste herausfordernd. Sie hätte genausogut „En Garde!“ sagen können. Ihr Vater brauchte die Aufforderung aber nicht, ging gerne auf die Möglichkeit einer theologischen Haarspalterei ein.

Und so kreuzten in der nächsten halben Stunde die beiden größten Theologen Clearwaters die metaphorischen Klingen, bis ein durchdringendes Geplärr ihnen verriet, daß wieder ein Erdenbürger aus seiner ersten Wohnung vertrieben worden war. Elvira kam heraus, winkte sie ins Zimmer, wo sie Mutter und Kind wohlauf vorfanden.

„Und?“fragte Mary-Rose, zum Platzen neugierig.

„Ein Junge,“bestätigte der Arzt.

Die drei Robinsons verständigten sich stumm.

„Wie wär’s mit Aaron?“fragte Mary-Rose.„War ein Priester.“

Ihr Vater nickte:„Und als zweiter Name?“

„Isambard,“meinte der Sheriff.

„Wieso ausgerechnet Isambard?“fragte ihre Mutter verblüfft.

„Weis nicht,“antwortete Mary-Rose versonnen.„Sieht irgendwie wie einer aus.“Sie streichelte Aaron über den Kopf.„Hallo, kleiner Bruder des Sheriffs.“Sie sah ihn zärtlich an.„Jahaa. Immer schön Happa-Happa machen, damit Du schnell einen Colt halten kannst.“

Marge zog scharf die Luft ein, während ihre Tochter den Raum verließ. Kurz darauf hörte man Salut und dann die Glocken der Kirche. Man schrieb den 22. Januar 1871.

Marge hörte die Tür und das charakteristische Klack-Klack der Stiefel ihrer Tochter. Mary-Rose steckte auch sofort den Kopf zur Wohnzimmertüre herein, fand ihre Mutter stillend. Aaron war gerade eingeschlafen.

„Nimmst Du Aaron kurz?“fragte Marge.„Ich muß wohin.“

Mary-Rose nahm ihren Bruder, der dadurch wieder aufwachte. Als Marge das Wohnzimmer verließ, hörte sie schon die ersten Anzeichen, daß Aaron Isambard Robinson – bekennender Vielfraß – a) noch lange nicht genug hatte und b) auch nicht unbedingt bei seiner Schwester bleiben wollte. Sie beeilte sich auf dem stillen Örtchen, hörte aber die durchdringende Stimme ihres Sohnes, bis die abrupt aufhörte. Marge begab sich zurück ins Wohnzimmer, wo Mary-Rose in ihrem Sessel mit dem Rücken zur Tür saß. Sie ging um den Sessel herum und sah, … wie Aaron an der Brust seiner Schwester saugte!

„Mary-Rose!“rief Marge geschockt.

„Was denn?“verteidigte sich der Sheriff.„Ich hab‘ seit einiger Zeit Milch. Frag mich nicht, warum.“Sie blickte ihre Mutter flehend an.„Du sagst doch immer, daß er mehr Hunger hat, als Du liefern kannst. Ich seh‘ doch, wie Dich das aufzehrt.“

Marge beruhigte sich, bemerkte wie ihre Tochter es genoß, wie zärtlich sie ihrem Bruder den Kopf streichelte. Aaron streckte sein Ärmchen nach dem Stern aus, wollte wohl mit dem großen blinkenden Ding spielen. Mary-Rose verlagerte ihn etwas, damit er 'rankam. Aaron patschte auf den Stern, versuchte sogar, ihn zu drehen.

„Ich komm‘ schon zurecht,“meinte Mary-Rose, Ihre Mutter legte sich aufs Sofa und schlief sofort ein.

Mary-Rose wachte auf. Aaron quengelte, war wohl eben aufgewacht. Ihre Zimmertür und die Tür zum Schlafzimmer standen offen. Schlaftrunken wankte sie zu Aarons Kinderbett, bemerkte, daß ihre Eltern nicht da waren. Sie nahm Aaron, machte ihn sauber, fand in der Küche einen Zettel, auf dem ihre Eltern ihr mitteilten, daß sie leider schon früh fort gemußt hatten und ihr zum Geburtstag gratulierten. Wenigstens hatten sie daran gedacht. Der Sheriff nahm ihren kleinen Bruder mit ins eigene Bett, ließ ihn trinken. Es war noch Zeit für eine Runde Schlaf.

Als sie zwei Stunden später aufwachte, schien die Sonne durch die Ritzen ihrer Fensterläden. Aaron war natürlich putzmunter, lächelte sie sogar an. Sie nahm ihn mit in die Küche, legte ihn dort in seine Wiege, machte für sich Frühstück. Ein paar Scheiben Toast, Butter, Marmelade und Kaffee reichten ihr. Als sie am Frühstückstisch saß, quengelte ihr Bruder schon wieder. Mary-Rose gab ihm die andere Brust, während sie ihren Toast aß, und dachte dabei, daß sie wohl der einzige stillende Sheriff in den USA war.

Als sie Aaron und sich angezogen hatte, band sie sich Aaron mit einem langen Schal vor den Bauch, sattelte ihr Pferd und ritt in die Stadt. Einige Leute, die ihr unterwegs begegneten, schmunzelten, aber es waren für einen Samstagmorgen nur wenige Leute auf der Straße. Die Stadt schien fast wie ausgestorben. Hatte etwa die Entrückung ohne sie stattgefunden? Die Leute, die sie auf der Straße sah, schienen das zu bestätigen.

Barneys Saloon machte gerade auf. Sie hatte sich mit ihrer Morgenroutine wirklich Zeit gelassen. Als sie gerade auf der Höhe des Saloons war, ertönte aus der Tür Gekeife, männliches Schimpfen und Gläserklirren. Der Sheriff seufzte: Am frühen Morgen! Sie stieg ab und betrat mit der Hand am Colt breitbeinig den Saloon.

„Was ist denn hier los?“wollte sie gerade brüllen, als ihr ein vielstimmiges „Überraschung!“ entgegenschlug. Sie erkannte ihre Eltern, alle Alders, Onkel Julius mit Jacqueline, den Bürgermeister, Myrna und viele andere. Eben schoben die Mädchen eine riesige Geburtstagstorte mit vierzehn Kerzen herein. Mary-Rose lächelte. Ihre Mutter nahm ihr Aaron ab, und Augusta und Valerie zogen sie in die Garderobe. Dort mußte sie sich ausziehen, bekam einen Frisiermantel an, und die beiden erfahrenen Frauen kümmerten sich um Make-Up und Haare. Erst danach enthüllte Augusta ein Kleid, das in seiner Art in Clearwater wohl einzigartig war. Mary-Rose zog es an, betrachtete sich im Spiegel. Valerie reichte ihr ihre Revolver. Mary-Rose schaute verdutzt, untersuchte das Kleid, fand erstaunt die beiden Holster und steckte die Colts hinein. Augusta steckte ihr den Stern an, der wie eine Brosche wirkte. Dann schlüpfte sie in die Schuhe. Valerie warf ihr noch einmal ein Handtuch über die Schulter.

„Tut jetzt etwas weh,“meinte Augusta und stach dem Sheriff Löcher in beide Ohrläppchen. Valerie hängte große Kreolen hinein, tupfte einen Blutstropfen ab. Dann kamen das Collier, die Handschuhe, das Armband und die Ringe.

Der Sheriff begutachtete sich im Spiegel … und lächelte zufrieden. Augusta hielt ihr die Tür auf.

Als sie den großen Saal wieder betrat, waren alle Kronleuchter angezündet, die Kerzen auf der Torte auch. Mary-Rose holte tief Luft und pustete sie in einem Atemzug aus.

„Mögen alle Deine Wünsche in Erfüllung gehen,“wünschte ihr Tante Ethel, und alle gratulierten ihr.

Clearwater

Подняться наверх