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Ein ganz normaler Teenager und ein außergewöhnlicher Fremder

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Dienstag Abend im Hause Robinson. Marge und Arthur saßen in der guten Stube und ließen den Tag geruhsam ausklingen. Besonders Marge merkte jetzt, daß eine Schwangerschaft jenseits der vierzig doch anders war. Die Uhr schlug neun, und Marge blickte unwillkürlich zur Tür.

„Sie kommt noch nicht,“lächelte Arthur.

„Wenn wenigstens Du weißt, wo sie ist,“seufzte Marge.

„Es ist alles in Ordnung.“Er stand auf und gab ihr einen Kuß.

„Deshalb war sie also heute so freundlich,“sinnierte Marge.„Sie wußte, daß sie länger wegbleibt.

„Freundlich?“

„Deine Tochter hat die ganze Wäsche weggebügelt.“

„Das läßt auf einen Schwiegersohn hoffen.“

Marge lächelte gequält:„Ihren Humor hat sie jedenfalls von Dir.“

„Und Du müßtest eigentlich gut mit Waffen umgehen können.“

Marge verstand den Seitenhieb, mit dem Arthur größtenteils sich selbst verulkte. Wo war nur Mary-Rose?

Im Saloon ging alles seinen geruhsamen Dienstag-Abend-Gang. Barney hatte alles im Blick. Die paar Leute an der Bar. Die neuen Mädchen, die er schon vor Wochen engagiert hatte. Er schüttelte den Kopf. Als wenn er es geahnt hätte. Und zuletzt der Pokertisch. Nichts Dramatisches also.

„Große Straße,“grinste Mary-Rose, und Julius lachte laut auf, während Mike Alder beinahe geflucht hätte. Mary-Rose konnte ein richtiges Pokerface machen. Zweimal schon hatte sie die Runde schamlos ausgeblufft und jetzt das! Wenigstens sah Hanson nicht, wie das von ihm durchgesetzte Gehalt verwendet wurde, … weil er nie in den Saloon kam.

„Mit Gun wäre das wirklich nichts geworden,“grinste Mike.

„Warum?“fragte Mary-Rose.

„Ihr seid Euch zu ähnlich.“

Sie verbeugte sich im Sitzen:„Ich nehme das als Kompliment, Sir.“

Die Runde lachte.

Genau in diesem Moment kam Feodora Alder durch die Tür.

„Mike?“fragte sie ihren Schwager.„Können wir?“

„Natürlich,“antwortete der und stand auf. Das war für alle das Zeichen. Jeder zahlte seine Zeche.

„Bis morgen früh, Sheriff,“verabschiedete Feodora sich, und Mary-Rose verstand den Wink. Sie ging nach Hause. Feodora sah ihr nach, bis der Wagen sich in Bewegung setzte.

„Hälst Du das für gut?“

„Sie ist der Sheriff,“meinte Mike.„Sie hat sich ihre Position verdient. Und außerdem … “

„Was?“

„Arthur hat’s erlaubt.“Mike grinste.„Sie ist den ganzen Abend bei Limonade geblieben. Schon vom Geruch unseres Whiskys wurde ihr beinahe schlecht.“

„Lerneffekt,“kommentierte Feodora.

„Wie geht’s mit der Schule?“

„Dein Bruder und seine Ideen,“stöhnte sie.„Ich habe gerade die letzten Akten hinter mir.“

„Immerhin wirst Du Rektorin der größten Schule diesseits des Missippi.“

Sie ließ das Thema auf sich beruhen, als ihr Schwager die Pferde jetzt antraben ließ.

Es war nach zehn Uhr als Mary-Rose endlich nach Hause kam. Marge tat völlig unbeteiligt.

„Na, war’s nett?“fragte sie.

„Ooch, ja,“antwortete Mary-Rose in genau dem Tonfall, den Jugendliche immer dann benutzen, wenn sie keine weiteren Auskünfte geben wollen.

„Wieviel?“fragte ihr Vater hinterhältig.

„20 Dollar, Dad,“antwortete Mary-Rose aufgeregt,„und Du hättest das Gesicht von Onkel Mike sehen sollen. Er hat beinahe in die Tischkante gebissen. Meinte doch glatt, Gun und ich wären uns sowieso zu ähnlich gewesen.“

„Wie bitte?“fragte Marge entsetzt.„Du warst am Pokertisch?“

„Hab‘ sogar richtig gewonnen,“grinste ihre Tochter, sie wieder einmal absichtlich mißverstehend.„Und reg‘ Dich bitte nicht auf. Das ist nicht gut für mein Brüderchen.“

Marge entspannte sich. Sie hatte Recht, und ändern konnte man sowieso nichts mehr.

„Außerdem wußte Dad Bescheid.“

„Arthur!“sagte Marge vorwurfsvoll.

„Ich bin im Bett,“verkrümelte sich Mary-Rose.

Arthur lächelte:„Sie macht die Arbeit eines Erwachsenen, sie übernimmt Verantwortung wie ein Erwachsener …“

„… und sie feiert wie eine Erwachsene,“beendete Marge die Aufzählung.

„Und sie ist jeden Morgen pünktlich in der Schule,“erinnerte Arthur.

„Demnächst bringt sie wohl auch noch einen verliebten Farmerssohn mit nach Hause,“kommentierte Marge bissig.

„Von denen traut sich eh keiner,“beruhigte sie Arthur,„und den Vergleich mit Gun halten die sowieso nicht aus.“

Arthur hatte Recht, mußte Marge sich eingestehen. Wie schaffte er es nur, so gelassen zu bleiben. Marge wollte ihrer Tochter ja auch vertrauen, aber …

Sie nahm sich Mantel und Hut, ging hinaus und klopfte beides gründlich aus.

Beddowes machte große Augen. Der Sheriff ließ sich nur selten in der Bank sehen, normalerweise in Begleitung ihres Vaters. Heute war sie allein. Mit Hose, kariertem Hemd, Hut und langem Staubmantel sah sie nicht aus, als wäre sie ein kleines Mädchen, und den Sheriffstern trug sie stolz auf dem Hemd. Sie knallte ein Säckchen auf den Tresen, in dem Münzen klimperten.

„Morgen, Mr. Beddowes,“sagte sie dazu.„Ich wollte ein Konto eröffnen.“

„Mit diesem Geld?“Er zeigte auf das Säckchen.

„Erraten, Sir,“grinste Mary-Rose.„Und hier ist auch eine Vollmacht meines Vaters.“

Beddowes las und nickte. Sie hatte wirklich an alles gedacht. Er füllte die nötigen Papiere aus und erklärte ihr einige Dinge. Sie stellte ein paar kluge Fragen, unterschrieb. Der Bankier zählte das Geld, verbuchte es, und der Sheriff von Clearwater verließ die Bank mit ihrem Kontobuch.

Beddowes blickte ihr nach und dann auf die Buchung. Pokern wurde in Clearwater so langsam ein teures Vergnügen.

„Möchtest Du noch einen Tee, Mum,“fragte Feodora.

„Sicher.“Mrs. Blake hielt ihre Tasse hin. Feodoras Eltern waren seit ein paar Tagen zu Besuch auf der Alder-Ranch, mit der letzten Postkutsche angekommen. Nun fanden sie sich gerade in den Alltag ihres Mannes und seiner Brüder ein. Vor allem ihrer Mutter war anzusehen, daß sie mit dem Westen so ihre Schwierigkeiten hatte.

„Essen ist fertig!“rief Augusta.

Die ganze Gesellschaft begab sich zu Tisch. Gerade kam auch Jack herein. Er war den ganzen Tag draußen gewesen, um den Jungtieren die Brandzeichen zu verpassen.

„Du kannst nächste Woche ein paar schöne Fohlen und Jährlinge zum Viehmarkt mitnehmen, Mike,“lachte er.

„Gut.“Mike, der die Zucht genauso gut verstand, wie sein Bruder, war für den Verkauf zuständig.

„Gehst Du mit?“fragte Augusta jetzt Valerie.

„Nach Denver?“Valerie nickte.„Zum ersten Mal seit drei Jahren wieder 'raus aus Clearwater.“

„Na, na,“tadelte ihr Mann sie scherzhaft.

„Ich hoffe nur, dieser Viehhändlerball ist wirklich so toll, wie Du immer sagst.“

„Er ist der Höhepunkt des Jahres in Denver,“bestätigte Mike.

„Was nicht viel heißen will,“mischte Augusta sich ein.„Ich kenne Denver.“

„Also die Bälle bei uns in New York,“wechselte Feodora wegen ihrer Mutter das Thema,„waren immer großartig. Fast immer.“

„Sie haben stark nachgelassen,“meinte Mrs. Blake.

„Allerdings,“bestätigte ihr Mann.

„Ich bin ja auch nicht mehr da,“meinte Feodora selbstbewußt und erntete von ihren Schwägerinnen ein völlig unsolidarisches Gelächter.

„Ihr kennt ja nur die Lehrerin,“half ihr Vater ihr,„aber damals zuhause.“Er wedelte mit der Hand, als ob er sie sich verbrannt hätte.

„Bill!“tadelte ihn seine Frau.

„Laß nur, Mutter. Dad hat Recht,“bekannte Feodora,„Ich bin nicht besser als meine Schwägerinnen, hatte nur mehr Glück.“

Ihre Mutter schnappte nach Luft, sagte ersteinmal nichts mehr.

„Willst Du nicht bald zum Pokern, Schatz?“fragte Valerie nach einem Blick auf die Uhr.

„Danke, daß Du mich erinnerst.“Er gab ihr einen Kuß und stand auf.

„Ihr habt hier eine Pokerrunde?“fragte Bill Blake.

„Kannst gerne mitkommen,“lud Mike ihn ein.

„Großartig!“Bill stand auf, nahm seinen Hut und küßte ebenfalls seine Frau.

„Macht nicht zu lange,“bat Feodora.

„Keine Angst,“grinste Mike,„ich schicke den Sheriff schon rechtzeitig ins Bett.“

„10 Uhr,“bestand die Lehrerin,„sonst habe ich morgen eine Untote im Klassenzimmer.“

„Und allerhöchstens ein Bier, ich weiß.“Mike flüchtete mit Bill durch die Tür.

Jack mußte lachen. Hilda Blakes Gesicht war das personifizierte Fragezeichen.

„Ich muß zugeben, daß ich jetzt etwas verwirrt bin,“gab sie zu.

„Also,“begann Augusta,„dann folgt jetzt eine Einführung in die Person des Sheriffs unserer gesegneten Stadt.“

„Und ihrer Schrullen,“sekundierte Valerie.

„Ihrer Schrullen?“Hilda glaubte sich offensichtlich verulkt.

„Name: Mary-Rose Robinson,“zeigte Feodora sich jetzt solidarischer als ihre Schwägerinnen.

„Alter: 13 Jahre.“Jack, der sich kaum mehr halten konnte.

„Status: Frau,“vollendete Doug, und die ganze Gesellschaft bis auf Hilda lachte mindestens fünf Minuten, in denen Augusta die Whiskyflasche holte und jedem eingoß.

„Auf Mary-Rose,“intonierte Ron, und alle tranken.

„Aber…?“

„Sie ist eigentlich meine Schülerin, Mutter,“begann Feodora jetzt.

„Und die Tochter unseres Pastors.“Jack.

„Sie hat mit zwölf einen Desperado erschossen, um ihre Freundin zu retten,“erzählte Augusta.

„Woraufhin ihr der Bürgermeister zwei Colts kaufte.“Ron.

„Und da diese Stadt sich nie auf einen Sheriff einigen kann, …“Doug.

„… hat sie angefangen, Sheriff zu spielen,“schloß Valerie.

„Aha!“Hilda war noch immer skeptisch.

„Nicht 'mal ich würde mich mit ihr anlegen,“gab Jack zu.

„Ich habe bei meiner Ankunft ein kleines Mädchen mit zwei Colts gesehen,“sagte Hilda jetzt.„Ich dachte, sie geht zum Maskenfest.“

„Da hat sich schon so manch einer getäuscht,“grinste Jack.

In der Folge machten diverse Geschichten über Mary-Rose die Runde, auch die vor Grands Laden, und am Ende wollte Hilda Mary-Rose unbedingt kennenlernen.

Als Mike und sein Schwägervater – verd…, wie nannte man sowas – im Saloon ankamen, war die Runde schon fast vollzählig. Diesmal saß auch Richard Ferguson dabei.

„Der Sheriff fehlt noch,“meinte Julius, als sie sich setzten, als auch schon die kleine schmale Gestalt durch die Türe kam, ihren Hut über den Haken warf und sich setzte. Bill Blake staunte nicht schlecht, als er das Mädchen sah.

„Einen Doppelten, George,“bestellte sie.

„Warum?“George liebte dieses Spiel.

„Wenn Du meinen Tag gehabt hättest, …“

„Lieber nicht,“grinste der Barmann, und eines der Mädchen brachte das Gewünschte.

„Was war denn so schlimm an dem Tag?“fragte der Doktor.

„Haben Sie schon 'mal Roy Benson und Dick Bellamy streiten sehen?“

Die Einheimischen lachten. Sie hatte vollkommen Recht und nippte jetzt an ihrem Glas.

„Und das um ein,“die Tochter des Pastors schluckte den Fluch herrun-ter,„abgefallenes Hufeisen!“

Unterdessen hatte sich ein Gast, der offensichtlich schon ein paar zuviel hatte, sehr rabiat an einem der Mädchen zu schaffen gemacht, und einen anderen weggestoßen.

„Au, Du Schwein,“schrie das Mädchen und verpaßte ihm eine Ohrfeige.

„Du, Nutte,“brüllte er und zog seinen Colt. Ein Schuß krachte, der Colt war nicht mehr, und aus Mary-Roses linkem Holster qualmte es. Sie hielt die Karten immer mit Rechts.

„Vielleicht solltest Du erstmal 'nen klaren Kopf kriegen,“riet sie ihm. Der Angesprochene, über sechs Fuß hoch und fast drei breit, ging sofort auf Mary-Rose los. Ein anderer Gast, klein und drahtig, stellte sich ihm in den Weg, warf ihn scheinbar mühelos über die Schulter und machte ihn kampfunfähig.

„Tokugawa Ieyasu,“stellte sich der Fremde vor, in dem Mary-Rose zunächst einen Chinesen vermutet hatte.

„Dann tragen Sie einen berühmten Namen,“ergriff Mary-Rose die dargebotene Hand.„Mary-Rose Robinson. Sheriff.“

„Sheriff?“fragte der Japaner verblüfft nach.

„Jedenfalls mehr als Sie der Einiger Japans,“kam die Replik, und ihrem Gegenüber fiel buchstäblich das Gesicht auseinander. Hier in den Bergen Colorados!

„Pokern Sie doch 'ne Runde mit,“lud Mary-Rose ihn ein, während sie den Gefangenen fesselte.

„Gerne,“antwortete der Neuling, setzte sich und ließ sich das Spiel erklären.

Im Verlauf der nächsten Runden wurde allen Anwesenden eins klar. Hier hatten sich zwei Meister der unbewegten Miene getroffen. Mary-Rose und der Japaner lieferten sich eine Schlacht, die Gettysburg wohl in nichts nachstand, und es saßen einige Veteranen am Tisch.

Arthur Robinson schlich sich durch die Hintertür in den Saloon. Amüsiert beobachtete er den Pokertisch.

„Na, Pastor?“sprach ihn Barney leise an.„Kontrollbesuch?“

„Von der Vorderseite würde sie mich sehen,“bestätigte der.

„Dad, Du verdirbst mir den ganzen Spaß,“maulte Mary-Rose.

„Du hast den Spiegel vergessen, Arthur,“lachte Barney.

Arthur Morton Robinson grunzte etwas Unverständliches und empfahl sich.

„Ich helfe Ihnen noch, den Kerl ins Gefängnis zu bringen,“bot der Japaner an, als alle aufbrachen.

„Das wäre wohl eher meine Sache,“meinte Richard Ferguson.„Ich habe beim Sheriff noch was gutzumachen,“erklärte er.

„Damit wir das ein für alle Mal klarstellen, Dick,“fauchte Mary-Rose.„Nach dem mosaischen Gesetz haften die Väter nicht für die Söhne, und ich will nichts mehr davon hören. Von meiner Seite ist die Sache erledigt.“

„Von meiner Seite auch,“sagte Richard und hielt Mary-Rose die Hand hin. Die schlug ein, und Barney höchstpersönlich brachte zwei Doppelte.

„Feodora bringt mich um,“stöhnte Mike Alder.

„So wie die schießt?“Die trockene Bemerkung sorgte für Heiterkeit.

„Auf ex,“sagte Richard.

Die Gläser wurden geleert, und Mary-Rose löste ihrem Gefangenen die Fußfesseln.

„Und wenn Du nicht schön brav bist, verurteilt Dich unser Richter zum Marterpfahl,“drohte sie ihm.„Der ist nämlich ein Cheyenne.“

„Wenn er nicht schön brav ist, skalpiere ich ihn höchstpersönlich,“lächelte Ieyasu und zog sein Wakizachi zum Teil.„Und zwar am Halsansatz.“

Der Sheriff brachte mit einem geübten Griff ihre Haare wieder unter den Hut.

„Auf geht’s,“sagte sie,„und glaub‘ bloß nicht, ich hätte schon zuviel getrunken.“

Die drei verließen den Saloon. Die anderen machten sich auch auf den Weg.

Auf dem Weg zum Gefängnis beobachtete Mary-Rose ihren Begleiter aus dem Augenwinkel.

„Aus welcher Gegend Japans kommen Sie?“fragte sie.

„Kennen Sie Japan?“

„Auf der Landkarte. Lückenhaft,“gab sie zu.

„Wir hatten ein Lehen in der Nähe von Edo.“

Mary-Rose nickte.

„Wie sind sie eigentlich zu dem Namen gekommen?“fragte sie.

Für japanische Verhältnisse war ihre Frage sehr unhöflich, aber Ieyasu sagte sich, daß die Maßstäbe hier wohl anders waren. Er wußte noch nicht, daß Mary-Rose für ihr Mundwerk berüchtigt war.

„Unser Zweig der Familie war nie sehr bedeutend,“antwortete er deshalb,„und da dachte mein Vater wohl, es wäre besser gewesen, wenigstens einen berühmten Namen in der Familie zu haben.“

„Aha.“Mary-Rose behielt ihre weiteren Gedanken für sich.

Nachdem sie den Gefangenen ins Loch gesteckt hatten, verneigte Mary-Rose sich.

„Gute Nacht, Ieyasu-San.“

„Gute Nacht, Mary-Rose-San.“

Er blickte dem Sheriff noch etwas hinterher, schüttelte dann den Kopf und ging zu der kleinen Pension, wo er mit seiner Familie zunächst untergekommen war.

Feodora Alder hielt sich den Kopf. Eigentlich hatte sie ihren Schwager ja gebeten, die Kandidaten für die altsprachlichen Lehrer auszusuchen. Sie wollte einfach, daß er die Nieten entlarvte.

„Jack,“stöhnte sie,„das war eben der letzte Kandidat!“

„Kann ich was dafür, daß sich nur Nieten und Hochstapler auf unsere gut dotierte Annonce melden?“fragte er.„Am Geld kann’s nicht gelegen haben.“

Da hatte er wohl Recht. Sie traf eine Entscheidung.

„Dann weiß ich auch, wer unsere Kinder in den alten Sprachen unterrichten wird,“lächelte sie.

„Und wer?“fragte er verständnislos, bis ihm aufging, daß das genau die falsche Frage gewesen war.

„Du und Mike,“antwortete sie.

„Oh, nein, nein!“Jack Alder war gewiß kein Feigling, aber die Vorstellung vor einer Meute Kinder zu stehen, denen er etwas beibringen sollte, trieb ihm den Angstschweiß auf die Stirn.

„Oh, doch,“knurrte Feodora,„denn, wenn ihr Euch weigert …“

„Hetzt Du Mary-Rose auf uns?“fragte er mit einem schwachen Grinsen.

„Viel schlimmer.“

„Was könnte schlimmer sein als Mary-Rose?“

„Tante Ethel,“lächelte sie kalt,„die einzige, die Euch vieren immer noch den Hosenboden langzieht.“

„Aber ich ziehe keine Krawatte an,“gab Jack auf.

„Ist mir absolut egal.“

„Und Augusta unterrichtet Latein.“

Dieser Gegenangriff erwischte Feodora völlig auf dem falschen Fuß. Sicher, Augusta war mit ein wenig Übung um Längen besser als die Stümper, die sich beworben hatten, aber ihre Vergangenheit.

„Was hast Du letztens noch gesagt?“erinnerte Jack seine Schwägerin.„Von wegen nur mehr Glück gehabt, und so.“

Treffer! Feodora wäre am liebsten im Erdboden versunken. Nur mühsam erholte sie sich von dem Schlag.

„Gut,“stimmte sie zu,„aber dann kommt Hebräisch in den Lehrplan.“

Jack Alder, Pferdezüchter und bekannter Revolvermann, war zu betäubt, um noch etwas erwidern zu können. Er wankte nach draußen in Richtung Saloon.

Im Saloon setzte Jack sich sofort an die Bar.

„Einen Doppelten, George,“bestellte er. Dem ersten folgte ein zweiter, dann ein dritter. George wollte gerade fragen, was los war, als …

„Ach hier bist Du,“rief Mike Alder und ließ sich auch ein Glas geben.„Was ist denn mit Dir los?“

„Wir haben endlich die Lehrer für die alten Sprachen gefunden.“Der Tonfall paßte nicht zur Botschaft.

„Ist doch großartig!“rief Mike.„Hätte nicht gedacht, daß Ihr das schafft. Hätte eher erwartet, Du verjagst alle.“

„Hab‘ ich ja auch,“stöhnte sein Bruder.

„Und wer unterrichtet dann?“

„Du und ich,“offenbarte ihm Jack,„und zwar inklusive Hebräisch.“

Der Ausbruch, den Jack jetzt eigentlich erwartet hätte, kam nicht, aber der Boxhieb seines Bruders war auch nicht von schlechten Eltern. Jack taumelte, fing sich.

„Gut, Du hast es so gewollt.“Er ging auf seinen Bruder los. Jack war schwerer und stärker, Mike leichter und schneller, und beide konnte eine Menge einstecken. Schon wurden Wetten abgeschlossen, als …

„Was ist denn hier los?“Die Stimme war unverkennbar, der Sheriff!

„Onkel Jack, Onkel Mike, ihr seid mir ja schöne Vorbilder.“Sie holte tief Luft.„Na, gut. Ich weiß ja, daß es bei Euch ohne eine Prügelei unter Brüdern ab und zu nicht geht. Eure Wiedersehensschlägerei ist ja hier regelrecht legendär geworden.“Sie wartete auf eine Reaktion.„Aber dies hier ist der Saloon, und wenn ihr Euch prügeln wollt, bitte, aber nicht in meiner Stadt.“

„Weißt Du, was dieser Idiot fertiggebracht hat?“

„Duuuu,“drohte Jack seinem Bruder mit der Faust.

„Ruhe!“donnerte Mary-Rose.„Was hat er denn so Schlimmes verbrochen?“

„Hat die Lehrer vertrieben, so daß wir beide jetzt Altsprachen unterrichten dürfen.“

„Schadet Euch Rabauken nichts,“kommentierte Mary-Rose,„und jetzt 'raus.“Sie wies den Weg mit ihrem Colt, und als die Brüder gerade vor dem Pferdetrog standen, beförderte sie sie mit zwei schnellen Fußtritten hinein. Prustend und schnaufend arbeiteten sie sich aus dem Trog, rutschen aus und landeten wieder drin.

„Von jetzt ab seid ihr Lehrer und damit Vorbilder, also benehmt Euch,“feuerte sie die letzten Worte ab und ging breitbeinig in den Saloon zurück, wo sie sich Mikes jungfräulichen Whisky genehmigte.

„Hey, das war meiner,“rief Mike.

„Bezahlen darfst Du ihn ja auch,“antwortete Mary-Rose und stapfte davon.

Die beiden Brüder bestiegen wortlos ihre Pferde und ritten davon. Ethel entschied, daß die beiden genug hatten. Das von einem dreizehnjährigen Mädchen – pardon: Frau – hätte jedem gereicht.

„Wie seht ihr denn aus?“

Jack und Mike verzichteten beide auf den Blick in den Spiegel. Nasen und Lippen taten weh genug, von ihrer Kleidung ganz zu schweigen.

„Hatten 'ne kleine Meinungverschiedenheit,“meinte Jack.

„Mit wem?“Augusta und Valerie unisono.

Doug besah sich seine Brüder näher.

„Untereinander,“stellte er trocken fest.

„Stimmt das?“

Jack und Mike nickten nur. Die Schwägerinnen sahen sich an und schüttelten die Köpfe.

„Jeder seinen?“fragte Valerie. Augusta nickte.

„Bevor Ihr jetzt was Unüberlegtes tut, …“wehrte Mike ab.

„Was?“

„… hat Jack Euch 'ne freudige Mitteilung zu machen.“

„Wir hören!“

„Ich habe alle Altsprachenkandidaten vertrieben,“begann Jack verlegen.

„Und was soll daran so freudig sein?“fragte Augusta.

„Eben,“stimmte Valerie zu.„Feo wird heute Abend eine Sch..laune haben.“

„Wird sie nicht,“verteidigte sich Jack.„Augusta unterrichtet im neuen Schuljahr Latein.“

Stille. Augusta brauchte einen Moment, um den Sinn des Satzes zu erfassen.

„Und was war der Preis dafür?“Valerie blieb mißtrauisch.

„Wir beide unterrichten auch die Altsprachen,“beichtete Jack.

„Inklusive Hebräisch,“klagte Mike an.„Weißt Du Riesenrindvieh eigentlich, wann ich das letzte Mal meine hebräische Bibel in der Hand hatte?“

„Als wir vor vier Jahren hier aufgeräumt haben,“antwortete Jack trocken.„Da hab‘ ich meine auch in der Hand gehabt.“

„Und genausowenig 'reingekuckt wie ich.“

„Jetzt kennen wir wenigstens den Grund für die Schlägerei,“grinste Doug.„Wo war’s denn?“

„Im Saloon,“gestand Mike und erzählte die ganze Geschichte, an deren Ende die drei anderen Alders halbtot auf ihren Stühlen hingen.

„Ich hol‘ die Bücher,“bot Mike an.„Du paßt doch nicht in die Ecken.“

Und so kam es, daß Jack und Mike Alder nach über zwanzig Jahren Abstinenz wieder Hebräisch paukten.

„Gefällt sie Dir?“fragte Ron Alder seine Frau.

„Für einen Erstling ganz nett,“neckte sie ihn,„aber für die Universität, die Jack plant, wirst Du noch nachlegen müssen.“

Ron griff sich seine Frau, küßte sie frontal, lange und in aller Öffentlichkeit. Dann führte er sie herum.

„Hier schalen wir gerade die Decke ein.“

„Wozu?“fragte sie verständnislos. Zwischendecken bestanden doch aus Balken und Brettern.

„Wir machen die Decken aus Beton, der durch Eisenbahnschienen verstärkt wird,“erklärte er.„Oder willst Du jeden Schritt in den oberen Räumen hören?“

Nachdenklich schüttelte sie den Kopf.

„Manchmal habe ich richtig Angst vor dem neuen Schuljahr,“bekannte sie.

„Jack und Mike bekommen das schon hin,“versuchte er sie zu beruhigen.

„Die beiden machen mir keine Sorgen.“

„Aber?“

„Soviel hängt davon ab, daß ich alle Hühner auf dem Balkon habe.“

Ron nahm sie liebevoll in die Arme.

„Erzähl mir nur, wo die Bösewichte sind, und ich …“

„Ja?“

„… hole meine großen Brüder,“grinste er,„oder noch besser: Mary-Rose.“

Sie atmete tief durch. Es war gut, nicht mehr allein zu sein. Sie kuschelte sich für einen Moment in seine Arme.

Myrna wachte auf. Jeremiah schrie. Schon wieder! Noch im Halbdämmer kamen der alte Haß und die Wut wieder hoch.

„Sei endlich still,“schrie sie, wollte nach ihrem Sohn greifen und ihn schütteln, aber irgendetwas hielt sie zurück. Sie wurde durch den Schrei selbst wach, erkannte ihren Sohn. Liebevoll nahm sie ihn aus seinem Kinderbettchen mit in ihr Bett und ließ ihn trinken. Sofort wurde der Kleine still. Myrna schlief wieder ein.

Als ihre Mutter am Morgen ins Zimmer kam, machte ihr Blick ganz klar, was sie von Kindern im Bett hielt.

„Mum,“sagte Myrna nur,„Jeremiah ist mein Sohn.“

„Und keiner redet Dir 'rein,“lächelte Elvira.

Als Myrna zur Schule ging, bekam Jeremiah sein Fläschchen von seinem Großvater. Er hatte mehr Appetit, als seine Mutter liefern konnte.

Mary-Rose saß in ihrem Office. Die Zellen waren leer, die Stadt ruhig, leicht verdientes Geld in den letzten Monaten. Zur Zeit waren Ferien, aber morgen sollte die neue Schule eröffnet werden. Sie hatte heute noch einen letzten Termin mit dem Bürgermeister. Also mußte sie wohl los. Mit Bedauern nahm sie einen letzten Schluck Kaffee aus der Tasse, stand auf, ging durch die Tür und … war blind. Panik. Jemand hatte ihr ein Tuch über die Augen gebunden.

„Unsere Schwester sei unbesorgt.“Das war die Stimme von Langes Ohr. Sie beruhigte sich und folgte der Führung.

Nach einer Weile, die Mary-Rose endlos erschien, hielten sie an. Mary-Rose nahm das Tuch ab.

„Überraschung!“riefen eine Menge Leute, und Mary-Rose fand sich vor einem gesattelten Pferd wieder.

„Der Sheriff braucht ein Pferd,“lächelte Clayton.„Also hat die Stadt eins beschafft.“

Mary-Rose bestaunte das Tier wie ein Weltwunder. Sie wußte, daß es aus der Alder-Zucht stammte und wertvoll war. Sie stieg auf, ritt ein paar Runden.

„Der Sheriff ist zufrieden,“verkündetete sie lächelnd.

Häuptling Fünf Bären trat vor.

„Und jetzt sieht meine Schwester ihre neuen Deputies.“Der Häuptling der Osagen präsentierte mit einer ausladenden Armbewegung zwölf junge Indianer, drei aus jedem Stamm.

„Deputies, hä?“Mary-Rose wollte sich ums Verrecken nichts anmerken lassen.„Meine Brüder heben alle jetzt die rechte Hand.“

Als alle Hände oben waren, krachte der Blitz des Photographen. Mary-Rose nahm den jungen Roten den Eid ab, und ihre Mutter hätte beinahe bei dem Anblick geheult. Sicher, das letzte Jahr war aufreibend gewesen, aber ihr kleines Mädchen zu sehen, wie sie ihre Deputies einschwor, machte sie froh. Jetzt, im fünften Monat wurde ihr ihr Alter doch bewußt. Ihr Bauch war gewachsen, und Mary-Rose nahm ihr so manche Arbeit ab, saß häufig noch bis spät am Bügeltisch. Arthur hatte sogar gelernt, die Wäsche aufzuhängen. Wenigstens paßten die Socken jetzt zusammen. Marge mußte zurückdenken an jenen Tag, an dem sie ihre Tochter zum ersten Mal mit Colts gesehen hatte. Sie war froh, daß ihr damals die Folgen noch nicht klar gewesen waren.

„Die Deputies warten hier, bis ich mich mit dem Bürgermeister besprochen habe,“ordnete Mary-Rose jetzt an.„Danach mache ich die Einteilung.

Marge wußte nur, daß der Gouverneur sich angesagt hatte. Klar, daß Mary-Rose keine Störungen wollte. Marge wollte sie aufhalten, verkniff es sich aber. Mary-Rose war dafür noch nicht weit genug. Aber einen Abzug von dem Photo mußte sie haben!

Die Nacht brach schon fast herein, als der Gouverneur endlich eintraf. Seine Kutsche hielt vor Barney’s Saloon und der Bürgermeister begrüßte seinen hohen Gast. Danach blickte er sich um.

„Wo ist eigentlich der Sheriff?“fragte er.

„Bin doch schon da,“kam die Antwort aus einer Ecke, und Mary-Rose trat ins Licht, reichte dem Gouverneur die Hand.„Mary-Rose Robinson. Bin der Sheriff.“Danach bekam sie einen formvollendeten Hofknicks hin.

Der Gouverneur war sprachlos.

„Deputies!“Zwei Indianer traten hervor.

„Deputies Weißes Pferd und Schlauer Fuchs, verantwortlich für Ihre Sicherheit, Governor,“stellte Mary-Rose ihre Leute vor.„Sie wohnen hier im Saloon.“

„Nun, denn,“fand der Gouverneur seine Sprache wieder und betrat den Saloon. Dort ging alles seinen normalen Gang. Es war Dienstag, und Mary-Rose strebte wieder ihrer Pokerrunde zu.

„Spielen Sie doch 'ne Runde mit,“lud sie den hohen Gast ein. Der setzte sich wortlos neben den Doc, und auch Clayton zog sich jetzt einen Stuhl heran.

Die Deputies entschieden sich für diskreten Abstand an der Bar.

„Kein Feuerwasser für Euch,“verkündete George sofort.„Anordnung vom Sheriff.“

Als Mary-Rose spätabends nach Hause kam, wartete ihre Mutter noch und zeigte ihr den Abzug, den der Photograph sofort gemacht hatte. Marge hatte sogar noch einen passenden Rahmen gehabt und das Bild über den Kamin gehängt, direkt neben das Bild von der Verleihung ihres Sternes. Mary-Rose sagte eine Weile nichts. Dann stiegen ihr Tränen in die Augen, und sie kuschelte sich an ihre Mutter.

Feierliche Eröffnung der neuen Schule. Der Neubau war zwar noch nicht fertig, aber der Unterricht würde in einigen Barracken und Scheunen beginnen. Feodora war trotzdem zufrieden. Sie hatte unbedingt schon dieses Jahr anfangen wollen, und die ganze Stadt hatte sie tatkräftig unterstützt. Der Gouverneur war extra früh aufgestanden und ließ sich überall herumführen. Alle Lehrer waren anwesend. Augusta hatte sich adretter angezogen, als es sonst ihre Art war. Sie wollte wohl um jeden Preis nicht provozieren. Und Jack … Feodora mußte lächeln.

„Ich dachte, Du wolltest keine Krawatte umtun?“

„Nun, ja, für den Governor,“grinste er schief.

Mary-Rose war auch schon früh gekommen. Sie trug ihr bestes Kleid, hatte die Haare hochgesteckt, der Platz ihres Sterns war eine gekonnte Provokation, und – ja wahrhaftig – dieses dreizehnjährige Göhr hatte sich geschminkt. Feodora fing einen Blick von Marge auf, die die Augen verdrehte. Beinahe hätte sie laut gelacht. Mary-Rose hatte das gemerkt, zeigte wieder ihr Honigkuchenpferdgrinsen.

„Gekonnt, aber übertrieben,“flüsterte Augusta ihrer Schwägerin zu.

„Immerhin macht sie ihren Job,“mischte Mike sich ein.

Es wurden große Reden gehalten. Auch die Häuptlinge ließen sich nicht lumpen. Der Gouverneur redete mit allen möglichen Leuten, und morgen würde der Schulalltag in Clearwater Einzug halten.

„Heute keine Extras?“fragte Jack.

„Muß einen klaren Kopf behalten,“antwortete Mary-Rose.„Der Governor, die Lehrer.“

„Willst wohl Deine neuen Lehrer beeindrucken?“

„Sagen wir 'mal,“lächelte sie verlegen,„ich will nicht gleich alles versauen.“

Jack Alder lachte. Mary-Rose warf einen Blick in die Runde. Die Deputies waren genau da, wo sie sein mußten und so gut wie unsichtbar. Sie war zufrieden.

Am nächsten Morgen bestieg der Gouverneur seine Kutsche, um einige Eindrücke und Erfahrungen reicher aber 100 Dollar ärmer, die der Sheriff auf ihr Konto packte.

Feodora blickte aus dem Fenster. Auf dem provisorischen Schulhof tummelten sich die Schüler. Chaos überall. Die Kinder wußten nicht, mit welchem Lehrer sie gehen mußten, der aufgestellte Gong drang genausowenig durch wie Jacks Gebrüll. Die Älteren waren schnell eingesammelt, aber die jüngeren…

Plötzlich ein Schuß. Stille. Feodora suchte den Platz ab. Mary-Rose! Natürlich! Endlich war Ruhe. Die Rektorin trat ans Fenster und nutzte das aus.

Eine alte Scheune, in der man Tische und Bänke aufgestellt hatte. Zwei Fenster ließen Tageslicht herein. Die Schüler setzten sich auf ihre Plätze.

Der Mann, der vorne an die Tafel trat, trug eine Lederweste, Stiefel, zwei Colts und einen breitkrempigen Hut. Man hätte ihn glatt für einen Cowboy halten können.

„Mein Name ist Jack Alder,“begann der Mann,„und ich bin Euer Lehrer in Latein und Altgriechisch.“Er musterte seine Klasse.„Ich habe also die Aufgabe, euch genug davon beizubringen, daß ihr später den Corpus Iuris Iustinianus und die Ilias des Homer im Original lesen und verstehen könnt.“

Eine Hand reckte sich nach oben.

„Ja?“

„Ist nicht auch die Bibel zum Teil in Griechisch?“

Alder kannte das Kind nicht, vermutete aber, daß es von einer der Farmen stammte.

„Das ist richtig,“antwortete er,„das Neue Testament ist original in Griechisch geschrieben, aber unsere ganze Kultur fußt auf dem klassischen Griechenland. Dort wurde die Demokratie erfunden.“

Noch ein Blick in die Runde.

„Beide Sprachen sind uns fremd und nicht einfach,“fuhr er fort,„darum strengt Euch an. Auch weil …“Er machte eine kleine Pause.„ … die fünf besten jeder Klasse im Herbst am großen Viehtrieb teilnehmen dürfen.“

„Auch die Mädchen?“Schon wieder das Kind von vorhin, diesmal ohne aufzuzeigen. Der Lehrer beschloß, ihr das diesmal durchgehen zu lassen.

„Ja, auch die Mädchen,“antwortete er.„Und wenn einer nicht will oder darf, rückt der Nächste nach.“

Mehr brauchte er nicht zu sagen. Plötzlich hatten alle Kinder ihre Hefte und Bücher vor sich liegen, saßen kerzengerade und paßten auf.

Auch Augusta hielt ihre erste Stunde. Sie stellte sich vor und machte den Kindern das gleiche Angebot wie ihr Mann. Sie versuchte ihre Nervosität hinter der gleichen Maske zu verbergen, die sie früher in den diversen Saloons so oft benutzt hatte. Aber erwachsene Männer waren so viel leichter zu täuschen als Kinder. Am Ende ihrer Ausführungen hob ein Mädchen die Hand.

„Ja?“

„Mrs. Alder, was ist eine Frau mit Vergangenheit?“fragte die Kleine ganz unschuldig.

Augusta war geschockt, schaffte es aber, sich sofort zu fangen.

„Warum?“

„Weil meine Mutter Sie so genannt hat.“

Augusta atmete tief durch.

„Wenn Deine Mutter mir einen Brief schreibt, daß ich Dir das erklären soll,“erklärte sie,„werde ich das tun. Eher nicht.“

Die Kinder ihrer Klasse waren gerade einmal elf Jahre alt.

Danach begann sie die erste Lektion.

Mike Alder kam gerade an die Tür seines Klassenraumes, als er stutzte. Der Pastor stand da.

„Was machst Du denn hier, Arthur?“fragte er.„Glaubst wohl, ich werde mit Mary-Rose nicht alleine fertig?“

Der Pastor lächelte:„Nein ich glaube, daß der Cowboy, professionelle Spieler, Raufbold und Pferdehändler Mike Alder soviel besser Griechisch kann als ich, daß ich von ihm lernen sollte.“

Mike schob mit der linken Hand seinen Hut zurück, kratzte sich verlegen am Kopf und klopfte dann seinem Freund auf die Schulter:„Wenn Du noch in die Bänke paßt.“

Sie betraten den Klassenraum. Arthur hängte seinen Hut neben den seiner Tochter und setzte sich neben sie. Mike hatte Recht gehabt mit den Bänken.

Als alle Alders beim Abendessen saßen und über den Tag sprachen, blieb Valerie ungewöhnlich still.

„Was ist Schatz?“fragte Mike.„Warum so still?“

„Das Essen ist großartig,“lobte Jack, nur um etwas Positives zu sagen.

„Das ist es ja gerade,“explodierte Valerie.

„Was?“fragte Feodora verständnislos.

„Du bist Rektorin, Jack, Mike und Augusta Lehrer. Doug hält mit seiner Buchhaltung die Ranch am Laufen, Ron hat die Mine,“zählte Valerie auf,„und ich stehe in der Küche.“

„Ab sofort koche ich zweimal die Woche,“bot Doug völlig deplaziert an.

Mike nahm die Hände seiner Frau.

„Du fühlst Dich eingesperrt?“fragte er.

„Nein, doch, irgendwie,“versuchte Valerie ihre Gefühle zu ordnen.„Wieso darf Augusta lehren und ich nicht? Nur weil ich als Kind kein Latein gelernt habe?“

„Was kannst Du denn?“schob Feodora alle Bedenken beiseite. Um die Kritikerinnen mußte sich notfalls Mary-Rose kümmern.

„Tanzen und Französisch,“antwortete Valerie.

Augusta konnte ihr Kichern nicht unterdrücken.

„Ich meine die Sprache, liebe Mitschlampe,“fauchte Valerie grinsend. Die Brüder lachten und Feodora fühlte, wie sie puterrot anlief.

„Ich muß doch sehr bitten!“spielte Augusta die Empörte.„Ich bin eine Frau mit Vergangenheit.“Gelächter in der Runde.„Jedenfalls hat mich eine Mutter so bezeichnet.“

Stille.

„Woher weißt Du das?“fragte Jack.

„Weil ihre Tochter mich um eine Erklärung bat.“

Feodora atmete scharf ein.

„Und wie hast Du reagiert?“

„Ich habe angeboten, es zu erklären, wenn die Mutter mich schriftlich dazu auffordert.“

„Der Brief kommt nie,“stellte Ron fest, und seine Frau betete inständig, daß er Recht behielt.

Es klopfte. Augusta, die immer etwas früher kam, um sich auf den Tag vorzubereiten, ging zur Tür des Klassenzimmers und öffnete. Draußen stand eine Mutter mit ihrem Kind. Augusta erkannte das Kind mit der Frage.

„Darf ich eintreten, Mrs. Alder?“fragte die Mutter. Augusta nickte. Das Mädchen blieb draußen. Drinnen suchte die Mutter offensichtlich nach Worten.

„Ich muß Sie um Verzeihung bitten,“sagte sie schließlich,„auch für meine Tochter.“

„Wofür?“fragte Augusta.

„Ich hätte weder Sie als ‚Frau mit Vergangenheit‘ bezeichnen, noch hätte meine Tochter es Ihnen gegenüber vor der ganzen Klasse wiederholen dürfen. Es muß sie sehr getroffen haben.“Ihr Bedauern war echt.

„Ich bin nicht getroffen,“antwortete Augusta.„Gestern hat Ihre Tochter mich mit ihrer Frage vielleicht auf dem falschen Fuß erwischt, aber ich bin nicht getroffen.“

Der fragende Blick der Mutter verdiente eine weitere Erklärung.

„Ja, ich bin eine Frau mit Vergangenheit,“bekannte die Lehrerin,„und ich bin nicht stolz darauf.“

Die Mutter schnappte nach Luft.

„Aber wenn ich dazu beitragen kann,“fuhr Augusta fort,„daß anderen ein ähnliches Schicksal erspart bleibt, dann will ich das gerne tun.“

Stille, dann faßte Augusta die Hand ihrer Gegenüber.

„Es passiert nicht alles im Leben freiwillig, wissen sie,“erklärte sie.„Ich habe eine zweite Chance bekommen und wünsche mein früheres Leben keiner Frau.“

Die nächste Frage der anderen brauchte einige Minuten:„Wollen Sie damit sagen, daß die meisten Frauen gezwungenermaßen in diesem … Gewerbe tätig sind?“

Augusta nickte:„Wenn man erst einmal drin ist, gibt es häufig keinen Weg hinaus.“Sie machte eine Pause.„Und … es macht keine Freude. Die bleibt den Ehefrauen vorbehalten.“

Beiden standen jetzt die Tränen in den Augen.

„Das wußte ich nicht.“

Die Mutter wandte sich zum Gehen.

„Gott segne Sie,“sagte sie zum Abschied.„Ich werde für Sie beten… und für die anderen.“

Sie rannte beinahe davon.

Als Augusta ins Klassenzimmer zurückkehrte, fand sie auf dem Stuhl der Mutter einen Brief. Sie öffnete ihn, las und nickte. Das würde eine anstrengende Viertelstunde. Sie öffnete die Tür erneut und rief das Mädchen herein.

„Doreen, Deine Mutter wünscht, daß ich Dir etwas erkläre. Deshalb paß jetzt bitte gut auf, denn ich werde es nur einmal sagen.“

„Ja, Mrs. Alder.“

Valerie Alder stand vor ihrem Kurs in „Gesellschaftlichen Fertigkeiten“. Immerhin 14 Jungen und Mädchen hatten sich eingefunden und … der Sheriff. Sie hatte ihren Patronengurt sogar über den Haken gehängt. Glücklicherweise konnten einige der Mädchen Klavier spielen, denn ihre Lehrerin konnte es nicht.

Mary-Rose patroulierte wieder durch die Straßen. Trotz ihres Pferdes tat sie das meistens zu Fuß, und außer dem Sheriff, die sich das nicht eingestand, wußte jeder, daß das auch daran lag, daß der immernoch nicht ausgewachsene Sheriff mit dem ziemlich großen Tier so seine Probleme hatte, vor allem beim Aufsteigen.

„Ha, der Sheriff von Clearwater!“Ieyasu!

Mary-Rose verbeugte sich.

„Der Shogun von Japan,“konterte sie dabei. Der Japaner, der mittlerweile über ihre Schnauze Bescheid wußte, nahm es gelassen. Die Witze der anderen Samurai waren schlimmer gewesen.

„Wenigstens wirst Du dafür bezahlt,“grinste er.

„Stimmt,“grinste Sie zurück, und fragte dann mit ihrem unheimlichen Gespür:„Sorgen?“

„Gehen wir in den Saloon.“

„Gut.“

Im Saloon setzten sie sich an einem Tisch abseits der anderen.

„Sake,“bestellte Ieyasu, ohne nachzudenken.

„Hai,“antwortete George. Der Japaner bemerkte es nicht einmal.

„Also, was ist los?“

„Der Reis geht zu Ende.“Eine simple Feststellung, aber Mary-Rose erkannte die Schwere dieses Eingeständnisses. Für den Japaner kam sie einer Bankrotterklärung gleich.

„Eigentlich kann ich mich nur noch entleiben.“

Nach japanischen Begriffen hatte er absolut Recht.

„In einer solchen Situation wäre seppukku feige Flucht,“antwortete Mary-Rose.„Wer soll Ihre Familie ernähren?“

„Aber arbeiten?“Der stolze Samurai. Mary-Rose verstand ihn, aber es half nichts.

Eines der Mädchen brachte eine Kanne auf einem Stöfchen und zwei winzige henkellose Tassen. Sie goß ein, und Ieyasu, immernoch ganz in Gedanken, trank, stutzte, probierte noch einmal und verstand die Welt nicht mehr. Echter Sake, und George grinste breit hinter seiner Bar.

„Wir sind hier in Clearwater,“erklärte er dem Gast.

Auch Mary-Rose trank jetzt aus ihrer Tasse. Interessanter Geschmack, wie sie fand.

„Braucht Clearwater noch einen Deputy?“

„Sie sind kein amerikanischer Bürger.“

„Was fehlt dieser Stadt?“

„‘n ordentlicher Schneider,“antwortete Mary-Rose frustriert.

„Warum?“

„Weil ich nie ein Kleid ohne meinen Gurt tragen kann, und das paßt einfach nicht,“maulte sie.„Kann denn niemand dafür eine Lösung finden?“

„Ein Kleid mit eingebauten Holstern?“

„Wäre 'mal was Neues.“Sie trank noch einen Schluck.„Müßte aber genauso gut funktionieren wie die Holster.“Noch ein Schluck.„Dann ist die Überraschung größer.“

„Stimmt!“

„Ist vielleicht 'ne Marktlücke.“

Ieyasu, der den Sake immernoch für ein unerklärbares Wunder hielt, faßte wieder Mut. Der Westen brauchte Kleidung, die sich den Waffen anpaßte. Sein Gehirn ratterte. Er stieß mit dem Sheriff an.

Als der Japaner gegangen war, fragte Mary-Rose:„Woher hast Du denn das Zeug, George?“

„Eines der Mädchen kannte das Rezept,“grinste der Barmann,„aber frag‘ mich nicht, woher.“Er wies mit den Augen zur Tür.„Meinst Du wirklich, der wird der neue Schneider?“

„Wie alt ist der Sheriff?“fragte Mary-Rose zurück und verließ den Saloon.

Clearwater

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