Читать книгу Clearwater - Philipp Langenbach - Страница 14
Ein Kuß und viele Deputies
ОглавлениеEthan Barclay zügelte das Pferd, hielt seinen Wagen an. Vor ihm stand nicht nur die Postkutsche sondern auch eine Menschentraube, die irgendetwas diskutierte. Ethan versuchte, sie auf sich aufmerksam zu machen, scheiterte aber. Offensichtlich waren die Honoratioren der Stadt – Ethan erkannte einen Reverend und mehrere gut gekleidete Damen und Herren – überzeugt, den richtigen Ort für ihr Palaver gefunden zu haben.
„Leute, ihr blockiert die Straße!“rief jemand von jenseits der Gruppe, für Ethan im Moment unsichtbar, der Stimme nach aber noch sehr jugendlich.
„Natürlich, Sheriff,“sagten einige und machten den Weg und den Blick frei. Hinter der Gruppe stand tatsächlich eine Gestalt mit einem Sheriffstern, ein junges Mädchen mit zwei riesigen Colts.
„Sie können jetzt weiterfahren, Sir,“wandte sich der Sheriff (?) jetzt an Ethan.
„Kennen Sie eine gute Unterkunft für die Nacht?“fragte Ethan.
Der Sheriff nannte ihm eine Pension.
„Und den Weg zur Bank?“
„Ist gleich da drüben,“wies der Sheriff mit der Hand.„Warum?“
„Muß etwas im Tresor unterbringen,“erklärte Ethan.
„Wenigsten nichts entnehmen,“brummte der Sheriff.
Ethan lachte:„Nein, die Sorge kann ich Ihnen nehmen. Ich bin Juwelier und will meine Ware für die Nacht einschließen.“
Der Sheriff drehte sich um und rief:„Hey, Leute, der Mann hier ist Juwelier!“
Sofort bildete sich die Menschentraube um Ethans Wagen herum.
„Fahren Sie dort 'ran und zeigen Sie ihr Sortiment,“wies ihn der Sheriff an.
„Sofort.“Ethan parkte vor der Postkutsche, die gleich weiter nach Süden fahren würde, öffnete die seitliche Verkaufsklappe seines Wagens und legte aus, was er hatte, ohne auf große Geschäfte zu hoffen.
„OH! AH! Wundervoll!“Vor allem die Damen waren von dem Angebot sehr angetan. Einer der Herren besah sich die Auslage genauer, schien mehr zu wissen als die anderen.
„Sehe ich das richtig,“fragte er jetzt,„daß dieses Collier, das Armband, die Ohrhänger und die beiden Ringe zusammen gehören?“
„Sehr richtig, Sir,“antwortete Ethan.„Diamanten und Gold in höchster Qualität. Habe es einmal für einen Kunden gefertigt, der vor der Auslieferung Pleite ging. Als sich die Fälle in San Francisco häuften, mußte ich mein Haus verkaufen und kann es ihnen daher heute hier anbieten.“Allgemeines Gelächter und ein Schmunzeln um den Mund des älteren Herren.
„Jacqueline, Schatz,“sagte er,„kommst Du bitte.“Die Angesprochene, wohl seine Ehefrau kam zögernd näher. Ihr Mann nahm die Ohrhänger, hielt sie an.
„Was kostet das ganze Set?“fragte er dann den verblüfften Ethan.
„Aber Julius …“protestierte seine Frau schwach.
„Sie bekommen es von mir für einen Spottpreis von 1000 Dollar, Sir,“lächelte Ethan, darauf gefaßt, daß damit das Gespräch beendet sein würde.
„Könnten Sie bitte kurz den Tresor öffnen, Randall?“fragte der Kunde jetzt einen anderen älteren Herrn. Der lächelte.
„Natürlich,“meinte er,„aber ich habe eine bessere Idee.“
„Und welche?“fragte ein Cowboy interessiert.
„Warum läßt Mr. …“
„Barclay,“half Ethan.
„ … sich nicht hier nieder? Die Bank verkauft gerade sehr günstig ein passendes Haus mit Ladengeschäft, und ich würde den Betrag dann sofort ihrem Konto gutschreiben.“
„Keine schlechte Idee, Mr. Beddowes,“meinte jetzt auch der Sheriff.„N‘ ordentlichen Juwelier könnten wir gut brauchen.“
„Richtig,“mischte sich ein dritter älterer Herr ein.„Nicht mehr nur Gold und Diamanten schürfen, sondern auch Fertigwaren produzieren.“
„Schmuckserien für jeden Geldbeutel,“mischte sich ein asiatisch aussehender Herr ein.
„Geht so etwas, Mr. Barclay?“fragte jetzt der Cowboy.
„Grundsätzlich ja, aber – ganz ehrlich – ich fühle mich jetzt etwas überfordert.“
„Verständlich,“lächelte der erste Kunde.„Machen Sie bitte die Rechnung, wir gehen dann gleich zur Bank. Soviel Kleingeld trage ich für gewöhnlich nicht mit mir herum.“
„Was kostet dieses Set hier?“fragte der Sheriff.
Ethan dachte kurz nach:„333er Gold mit Opalen, alles zusammen 250 $, junge Dame.“
„Dad, ich weiß, wo Du hinkuckst,“wandte sich der Sheriff an den Pastor.
„Leider, Mary-Rose,“antwortete der.
„Es würde wundervoll zu Mums rotem Kleid passen,“lächelte der Sheriff sehnsuchtsvoll, und erzielte bei ihrem Vater den gewünschten Effekt.
„Ich weiß, Mary-Rose!“wehrte sich der Pastor.
„Was kostet das Collier mit den Rubinen?“
Ethan atmete tief durch:„150 $.“
„Mary-Rose!“rief der Pastor erschrocken.
„Packen Sie es bitte extra ein,“sagte der Sheriff und holte ihr Portemonnaie aus der Tasche, zählte Ethan das Geld in kleinen Scheinen hin.„Und wenn einer von Euch meiner Mutter vor Morgen irgendetwas verrät, dann …“
„… knallst Du ihn nieder?“fragte der Cowboy.
„24 Stunden bei Wasser und Brot reichen,“grinste der Sheriff, bezahlte den Rest.
„Ist das etwa das Geld, was Du mir gestern Abend beim Pokern abgenommen hast?“fragte der erste Kunde.
„Und das von Mr. Beddowes, Onkel Julius,“bestätigte der Sheriff,„zumindest teilweise.“
„Habt wohl wieder kräftig geblutet, was?“grinste der Cowboy.
„Fragen Sie einmal Ihren Bruder, Mr. Alder,“gab der Bankier zurück.
„Frag nicht,“brummte ein anderer Cowboy.„Aber der Ring da würde Augusta stehen, Jack.“
„Und das Armband hier wär sicher was für Valerie, Mike,“schoß Jack Alder im gleichen Tonfall zurück.
„Jungs!“mahnte der Sheriff.„Prügeln vor der Stadt.“
Die Brüder rissen sich offensichtlich zusammen, kauften die Schmuckstücke.
„Robert Clayton, Bürgermeister,“stellte sich der Herr vor, der von den Fertigwaren gesprochen hatte.„Vielleicht können wir irgendwo einmal reden.“
„Sicher,“meinte Ethan.„Schließe nur gerade vorher diese Geschäfte hier ab.“
„Natürlich,“zog sich Clayton ein paar Schritte zurück, während Beddowes für einen Moment verschwunden war, jetzt zurückkam.
„Möchten Sie die tausend Dollar in einem Schein oder in Kleingeld?“fragte er.
Ethan machte große Augen.
„In einem Schein, Sir,“antwortete er.„Will auch 'mal einen 1000-$-Schein in der Hand halten.“
Beddowes händigte ihm den Schein aus, und Ethan betrachtete ihn wie ein Wunder. Mehr als zwei Jahrzehnte hatte er an der Westküste gearbeitet und immer nur kleine Scheine in der Hand gehalten. Jetzt, hier oben in den Bergen Colorados, in einer Kleinstadt, zahlte jemand mit dem größten Schein in den Staaten. Ethan grinste.
„Ich glaube, ich sollte mich hier tatsächlich niederlassen,“sagte er, als er das teure Set in einem eigens angefertigten Kästchen aushändigte.
„Ich packe das Collier in meinen Safe, Dad,“meinte der Sheriff.„Heute sieht Mum nur mein Set.“
„Mary-Rose,“sagte eine ältere Dame in leicht tadelndem Ton, lächelte aber.
„Sonst wird’s aber morgen keine Überraschung, Tante Ethel,“verteidigte sich der Sheriff keck und machte sich auf den Weg. Die meisten sahen ihr kopfschüttelnd nach.
„Na, ja,“meinte Jack Alder,„welches vierzehnjährige Mädchen gibt schon so einfach 150 $ für ein Geburtstagsgeschenk für ihre Mutter aus?“
„Welches vierzehnjährige Mädchen darf sich jeden Dienstag Abend am Pokertisch das Geld dafür verdienen?“lachte der Bankier.
„Dafür lasse ich mich gerne ausnehmen,“verkündete Onkel Julius und zog mit seiner Frau von dannen.
Ethan packte den Rest der Ware sorgfältig ein und verstaute sie im Banksafe, bevor er mit dem Bürgermeister und dem Bankier zu einem kleinen Haus mit Ladengeschäft ging. Beddowes schloß auf, und die Männer betraten den Laden. Hinten 'raus waren noch zwei Werkstatträume, und das Obergeschoß war als Wohnung für Ethan alleine groß genug.
„Gehörte dem Totengräber,“grinste der Bürgermeister,„bis der selber starb.“
Ethan mußte lachen.
„Hatte noch Schulden bei der Bank,“fuhr der Bürgermeister fort,„daher verkauft Mr. Beddowes jetzt das Haus mit Grundstück.“
„Haben Sie das Grundstück hinter dem Haus bemerkt?“fragte Beddowes.
„Ja,“antwortete Ethan. Platz war genug da.„Wieviel?“
„Fünfhundert Dollar.“
Ethan pfiff durch die Zähne. Soviel hatte er allein heute mindestens verdient.
„Und die Stadt hat eine Goldmine?“
„Genau,“nickte der Bürgermeister,„und der ehemalige Diener von Sir Waldo schürft oben in den Bergen nach Edelsteinen. Findet normalerweise Diamanten, Smaragde, Opale und solches Zeug.“
„Verlangt sehr realistische Preise,“fiel der Bankier ein.
Ethan schüttelte ihm die Hand.
„Ich nehm das Haus,“bekräftigte er,„und zahle bar.“
Die beiden Anderen lachten.
„Dann lassen Sie uns den Vertrag machen,“forderte ihn Beddowes auf,„und die Zukunftsperspektiven besprechen.“
Ethan bekam große Ohren. Solche Töne war er von Bänkern nicht gewohnt.
Die Männer verließen das Haus und gingen zum Rathaus.
Am Abend stellte Ethan sein Bett in seinem Haus auf, und ging schlafen. Morgen war auch noch ein Tag.
Abend im Hause Granger-Ford. Jacqueline hatte gerade den kleinen Julius schlafen gelegt. Sie setzte sich mit einem sorgenvollen Gesicht ins Wohnzimmer.
„Was ist los, Schatz?“fragte Julius, sanft wie immer.
„Ich hab‘ Angst, Julius,“bekannte seine Frau.„Dieser Schmuck …“
„Gefällt er Dir nicht?“
„Sogar sehr,“beeilte sich Jacqueline, zu sagen,„aber ich hab‘ Angst, daß Du Dich übernimmst.“Sie setzte sich aufrecht.„Bevor ich nach Clearwater kam, hatte ich eine Kollegin, die einen wohlhabenden Mann gefunden hatte. Er war ihr völlig verfallen. Nicht so reich wie Du, aber immernoch so reich, daß sie mit ein wenig Klugheit bis an ihr Lebensende versorgt gewesen wäre.“
„Aber sie war nicht klug,“stellte Julius fest.
„Sie schmiß das Geld zum Fenster hinaus,“bestätigte seine Frau,„und saß nach zwei Jahren mit zwei Kindern auf der Straße. Ihr Mann hatte sich erschossen, die Kinder kamen ins Waisenhaus, und sie, die nach ihrer Hochzeit nicht auf sich geachtet hatte, endete in einem der schmutzigsten Etablissements der Stadt, wo die Nummer nur einen halben Dollar kostet. Allein die Schuldzinsen machten zehn Männer am Tag zur Pflicht.“
Julius stand auf, nahm seine Frau in die Arme:„Und das soll Dir nicht passieren.“
„Ich möchte Dir einfach eine gute Ehefrau sein, auch außerhalb des Ehebettes.“
„Bist Du doch schon von Anfang an,“lächelte er und seufzte.„Du kannst gerne Einblick in die Bücher nehmen …“
„Davon verstehe ich doch nichts,“protestierte Jacqueline.
„… oder mir einfach glauben, daß ich Dir ein tägliches Limit von 500 $ setzen könnte, ohne die Familie oder mein Vermögen zu gefährden.“
Jacqueline machte große Augen.
„Und Du verbrauchst für unser Luxusleben gerade einmal zwanzig am Tag.“
Seine Frau entspannte sich.
„Du bist als Ehefrau die absolute Bombe,“bekräftigte Julius,„und das nicht nur im Bett.“
„Hähmm,“räusperte sich Sally, die Köchin.„Es ist angerichtet.“
Jacqueline wurde, wie immer bei solchen Gelegenheiten, puterrot. Julius führte sie lächelnd zum Tisch. Sally hatte schon aufgetragen und auch den Wein serviert. Julius sprach ein kurzes Gebet, und sie fingen an, zu essen.
„Warum bittest Du nicht Doug, Dir die Buchführung zu zeigen?“fragte Julius.
„Warum nicht Du?“
„Ich bin ein lausiger Lehrer,“grinste Julius.„Dafür ist mir unsere Ehe zu wertvoll.“
Seine Frau lachte.
„Wenigstens machst Du kein sorgenvolles Gesicht mehr,“lächelte er.
„Aber 1000 $ …!“Jacqueline holte tief Luft. Julius wußte nicht, wieviel Geld sie auf ihrem eigenen Konto hatte, schätzte es auf allerhöchstens ein paar tausend Dollar, die sie wohl eher auf Sicherheit angelegt hatte. Selbst nach einem Jahr Ehe hatte sie sich noch nicht daran gewöhnt oder gewöhnen wollen, daß sie jetzt reich war. Die Sachen für Julius hatte sie selbst gestrickt!
„Ich kann doch nicht zulassen, daß meine Frau gegen den Sheriff oder ihre Mutter abstinkt,“ereiferte sich Julius.„Was für ein Ehemann wäre ich denn?“
„Abstinken? Gegen Marge?“lächelte Jacqueline.
„Unterschätze sie nicht,“warnte Julius.„Marge ist nicht die Frau für Sack und Asche, genausowenig wie Arthur.“Er nickte nachdenklich.„Und mit diesem Schmuck …“
Jacqueline versuchte, sich die rothaarige Pastorenfrau in einem Ballkleid vorzustellen. Es gelang ihr nicht. Trotzdem mußte Julius einen Grund für seine Worte haben.
„Mit Augusta, Valerie und Tante Ethel mußt Du schon selbst fertig werden,“grinste Julius jetzt.„Aber das schaffst Du schon.“
„Tante Ethel?“Jacquelines Überraschung war ihr anzuhören.
„Sie muß in Ihrer Jugend eine große Schönheit gewesen sein, nach dem, was man so hört,“erklärte ihr Mann.„Leider gibt es davon keine Portraits, und die Photographie war noch nicht erfunden.“
„Und Du meinst, Schmuck für 1000 $ macht den Unterschied?“neckte ihn Jacqueline.
„Er wird zumindest nicht schaden,“antwortete Julius ungerührt, und Jacqueline mußte lachen. So langsam verstand sie seinen Humor.
Marge stand auf. Irgendjemand hatte den Wecker abgestellt. In der Küche wartete ein reich gedeckter Frühstückstisch auf sie, aber weder Arthur noch Mary-Rose waren zu sehen. Sie seufzte, und setzte sich. Zweiundvierzig Jahre wurde sie heute alt. Gestern hatte sie neidisch auf den schönen Schmuck geschaut, den Mary-Rose sich geleistet hatte. Sie dachte an ihr eigenes kleines Schmuckschächtelchen, wie Arthur es mit seinem mageren Gehalt Stück für Stück aufgefüllt hatte. Immer irgendwo ein paar Predigtdienste extra, damit es zu Weihnachten oder zum Geburtstag einen Besuch beim Pfandleiher geben konnte. Zum richtigen Juwelier hatte es nur für die Trauringe gereicht, gerade so eben. Währenddessen butterte Marge ihren Toast, nahm den heißen Kaffee vom Herd, goß sich aber nur eine halbe Tasse ein, füllte den Rest mit heißem Wasser auf. Den Kaffee ihrer Tochter konnte auch nur die trinken. Sie öffnete ihr Ei und bemerkte, daß hinter ihr die Tür zum Zimmer ihrer Tochter aufging. Wahrscheinlich hatte sie sich auch frühzeitig Aaron gegriffen, damit er seine Mutter nicht aufwecken konnte.
„Augen zu!“hörte sie die Stimme ihres Mannes und gehorchte. Sie spürte, wie ihr etwas um den Hals gelegt wurde.
„Jetzt darfst Du kucken,“erlaubte ihr Mary-Rose. Sie öffnete die Augen, sah anstelle ihres Tellers einen Spiegel und darin ihre Büste mit einem … Rubincollier? Sie sprang auf, fiel Arthur um den Hals.
„Arthur!“rief sie nur aus, löste sich irgendwann wieder von ihm und sah noch einmal in den Spiegel. In ihrem Gesicht stand ein großes Fragezeichen?
„Hab‘ die Kirchenbänke verkauft,“grinste Arthur. Marge lächelte.
„Laß den Quatsch!“lachte sie, wurde plötzlich wieder sorgenvoll.„Aber …?“
Arthur setzte seinen pastoralsten Beruhigungsblick auf:„Sei unbesorgt, meine Tochter.“Er grinste wieder.„Ich darf’s beim Sheriff abstottern, zumindest meinen Anteil.“
„Duhuu,“wandte sich Marge an ihre Tochter, die ihren Bruder als Ersatzbaby auf dem Arm hatte.„Wolltest mich gestern Abend wohl ein bißchen foppen, was?“
„Nur in Bezug auf den Blutdruck die notwendigen Voraussetzungen für weitere Geschwister schaffen,“dozierte der Sheriff, setzte ihren Bruder in seinen Stuhl und fiel ihrer Mutter um den Hals.„Danke für Deine Toleranz. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.“Dann verabschiedete sie sich in die Schule.
Die Postkutsche aus dem Osten hielt, wie immer, vor der Post. Der elegante ältere Herr, der als Einziger ausstieg und sich seinen Koffer reichen ließ, hielt sich sehr gerade. Sein Spazierstock war mehr Zierde als Gehhilfe, und der Zylinder hätte auch eher in den Osten und für anderes Wetter gepaßt. Den Gesichtsausdruck konnte man nur als angespannt bezeichnen. Einen Kofferträger fand er aber schnell.
Mary-Rose hatte ihn nur am Rande bemerkt. Vielleicht irgendein Geschäftspartner von Onkel Julius. Die Richtung stimmte jedenfalls.
Jacqueline ging auf das Klopfen selbst zur Tür, öffnete und erblickte den älteren Herrn.
„Ist Mr. Granger-Ford zu Hause?“fragte der.
„Julius!“rief Jacqueline.„Treten Sie bitte ein.“
Der Träger stellte den Koffer im Hausflur ab, und der Herr trat ein. Sally nahm ihm Hut und Mantel ab, als Julius im Morgenmantel erschien und wie von Donner gerührt stehenblieb.
„Dad,“keuchte er nur überrascht, und der andere nickte lächelnd.
„Ganz richtig, mein Sohn,“sagte er.„Hättest Du wohl nicht gedacht, was?“
„Allerdings nicht,“bestätigte sein Sohn.„Diese Reise mit dreiundachtzig! Was treibt Dich hierher?“Er schlug sich vor den Kopf.„Darf ich Dir meine Frau Jacqueline vorstellen? Schatz, das ist mein Vater, Mr. Gerald Granger-Ford.“
„Was ist mit …?“fragte Julius‘ Vater verblüfft.
„Später,“antwortete Julius, und sein Vater nickte nur.
Jacqueline führte ihren Schwiegervater in den Salon, während Julius sich schnell anzog. Dort stand auch die Wiege mit dem Kleinen. Gerald machte große Augen, trat näher, blickte Jacqueline an, die nur nickte. Er strich seinem Enkel sanft über die Wange, setzte sich dann schwer atmend.
„Und was Deine erste Schwiegertochter betrifft,“sagte Jacqueline leise,„so ist sie tot und ihr Name in diesem Haus ein Tabu.“
Gerald nickte nur. Er konnte Julius verstehen.
„Wie heißt der Kleine?“
„Julius,“lächelte Jacqueline.
„Ein schöner Name,“lächelte Gerald.
Jetzt kam auch sein Sohn wieder dazu.
„Hast also Deinen Enkel schon kennengelernt?“fragte er.
„Dazu werde ich wohl noch etwas brauchen,“entgegnete Gerald,„aber ich freue mich für Dich. Du scheinst einige Dinge in Deinem Leben besser auf die Reihe bekommen zu haben als ich.“
„Leider erst sehr spät,“bekannte Julius, faßte die Hand seiner Frau.„Der Sheriff mußte mir helfen.“
„Hat Sie es so schlimm getrieben?“fragte Gerald, ohne den Namen zu erwähnen.
„Sie wurde aus der Stadt gejagt,“erklärte Jacqueline nicht ohne eine gewisse Befriedigung. Gerald nickte. Er hatte die ersten beiden Ehejahre seines Sohnes mitbekommen.
„Bei mir reichte der Sheriff nicht,“seufzte er.„Mir mußte Gott durch das Ableben Deiner Mutter helfen. Sie starb vor vier Monaten, und ich wollte danach nur noch weg.“Er lächelte.„Und da die gesamte Finanzwelt Deinen Namen kennt, warst Du nicht schwer zu finden.“
„Du hast also das Haus verkauft?“
Gerald nickte nur:„Ich wollte meine letzten Jahre an einem besseren Ort verbringen.“
„Ich richte Dir erst einmal das Gästezimmer.“Jacqueline stand auf.„Essen ist in einer halben Stunde, und heute Nachmittag erwarten wir Besuch zum Tee. Du hast vorher noch Zeit für ein Bad.“Sie verschwand lächelnd.
„Gut gemacht, Sohn,“nickte Gerald.
„Danke, Dad,“antwortete Julius.
Nachmittags stand Gerald früh genug auf, um sich für den Besuch anzukleiden. Sein Sohn hatte beim Essen den Termin als „informell“ bezeichnet. Aber was bedeutete informell hier oben? Gerald entschied sich für das Mittelmaß. Man wußte ja nie, wer kam.
Als er den Salon betrat, richtete seine Schwiegertochter gerade den Tee. Er betrachtete sie eingehender als am Vormittag. Wo hatte Julius nur diesen heißen Feger her? Er mußte ihn auf jeden Fall fragen.
Kurz vor vier kam auch Julius wieder nach Hause.
„War gut, daß ich die letzten Telegramme durchgesehen habe,“meinte er.„Hat uns das Geld für den Neubau gerettet.“
„Neubau?“fragte sein Vater.
„Wir wollen noch ein paar mehr Kinder,“grinste sein Sohn,„und dann wird es hier eng.“
„Ihr wollt also ein neues Haus bauen,“stellte Gerald fest.
„‚Haus‘ ist da wohl eher der Oberbegriff,“stellte seine Schwiegertochter verlegen fest, holte ein paar zusammengerollte Pläne hervor und rollte diese auf einer Tafel aus. Gerald pfiff durch die Zähne.
„Jetzt verstehe ich,“lachte er.„Dieser Klotz fällt wirklich nur noch unter den Oberbegriff ‚Haus‘.“Er blickte seinem Sohn in die Augen.„Und für diesen Prachtbau hast Du heute das Geld verdient?“
„Sagen wir 'mal, ich habe ein paar Fallen gestellt,“grinste sein Sohn,„und wenn die zuschnappen, haben wir die 50000 für den Bau im Sack.“
Gerald schaute seinen Sohn verblüfft an:„Ich sehe, Deine Geschäfte gehen besser als meine.“
„Es geht,“meinte Julius, und Gerald ließ das Thema auf sich beruhen. Seinem Sohn ging es gut, für den Enkel war gesorgt, und er selbst hatte endlich wieder eine Familie. Warum sich also Sorgen machen?
Jacqueline brachte die Pläne wieder weg, ordnete den Teetisch ein letztes Mal. Gerald zählte sieben Gedecke. Der kleine Julius lag schon wieder in seiner Wiege, war jetzt wach und spielte mit einem Mobilé, das vom Wiegenhimmel hing. Gerald ging vorsichtig hin, nahm seinen Enkel aus dem Bettchen auf seinen Arm. Julius war die neue Situation offensichtlich behaglich. Er lächelte, griff nach den Knöpfen auf Geralds Weste. Nach ein paar Minuten legte sein Großvater ihn lächelnd wieder in die Wiege.
Es klopfte an der Tür. Sally öffnete, sagte:„Guten Tag, Mrs. Merman.“
„Guten Tag, Sally,“kam die Antwort.„Die Herrschaften sind im Salon?“
„Ja, Ma’am.“
Nur einen Augenblick später kam der Körper zur Stimme durch die Tür, eine Dame ungefähr in Geralds Alter, die noch völlig ohne Stock ging und sehr anziehend lächelte, zumindest für Gerald.
„Ethel Merman,“stellte Julius vor,„und mein Vater Gerald.“
Gerald ergriff die gebotene Hand, sagte „Enchanté!“ und küßte sie mit einer eleganten Verbeugung. Jacqueline hatte Ethel noch nie zuvor rot werden sehen, aber offensichtlich war dies auch mit über achtzig Jahren noch nicht vorbei.
Nach einigen Zeilen Smalltalk wich auf beiden Seiten die Befangenheit. Gerald wurde mutiger und sagte:„Wenn es nicht schon so spät wäre, würde ich Sie zu dem Maskenball heute Abend auffordern, wenn der nicht sowieso nur für die jungen Leute ist.“
Die drei Einheimischen sahen sich an, lächelten dezent, während Gerald klar wurde, daß er wohl aus irgendeinem Grund einen dicken Pudel geschossen hatte.
„Nicht war, Vater,“fragte Jacqueline,„Du hast bei Deiner Ankunft eine junge Dame mit breitem Hut, Staubmantel, Hosen, zwei großen Revolvern und einem Sheriffstern gesehen?“
„Ja,“gab Gerald unumwunden zu.
„Der Stern und die Colts sind echt, Dad,“grinste Julius.„Miss Robinson ist unser Sheriff.“
„Ein verzeihlicher Irrtum,“erteilte Ethel ihre Absolution.„Ich nehme es als Aufforderung für die nächste Gelegenheit.“
„Sehr verbunden, Ma’am,“verbeugte sich Gerald.„Aber erstaunlich: Sie sah mir aus, wie – allerhöchstens – sechzehn.“
„Vierzehn, Vater,“korrigierte Jacqueline.
„Ich glaube, ich halte jetzt besser die Klappe, bevor ich noch mehr Unsinn rede,“meinte Gerald.
„Du lernst sie heute Nachmittag kennen, Dad,“erklärte Julius.
„Und Sie haben eben einen imponierenden Scharfsinn bewiesen,“lobte Ethel.„Unsere Situation ist eben ungewöhnlich.“
Draußen klopfte es. Sally öffnete wieder, führte ein Ehepaar in den Salon.
„Reverend Arthur Morton Robinson nebst Gattin und Sohn Aaron,“stellte Julius vor.
„Gerald Granger-Ford,“sagte der alte Mann, und Marge erlebte einen Handkuß, den sie sonst nur von ihrem Ehemann kannte. Arthur revanchierte sich bei Jacqueline auf die gleiche Weise.
„Wo ist Mary-Rose?“fragte Julius.
„Kommt gleich nach,“grinste Arthur, wies mit dem Daumen hinter sich.„Gab gerade noch Ärger vor Grands Laden. Mußte kurz schlichten.“
„Ärger?“fragte Ethel.
„Irgend so ein Fremder meinte, die Preise wären zu hoch,“berichtete Marge,„und wollte das mit seinem Revolver korrigieren, sowie gleich auch noch das zuviel erhobene Geld aus der Kasse haben.“
„Meinte dann auch noch, Mary-Rose wollte zum Maskenball,“lachte Arthur. Ethel nickte Gerald lächelnd zu, als es auch schon klopfte. Sally öffnete, und der Sheriff rauschte herein.
„Tag, Sally,“sagte sie.„Mann, war das ein sturer Kerl! Joe mußte mir beim Einbuchten glatt helfen.“Sie atmete tief durch.„Jetzt sind alle drei Zellen belegt. Könnte wirklich einen Deputy brauchen.“
„Wenn sich einer traut, unter Dir Deputy zu sein,“erinnerte sie Ethel, während Arthur seiner Tochter heimlich das Zeichen des Hutabnehmens machte.
„Oh!“bemerkte der Sheriff, nahm Hut und Mantel ab, reichte sie Sally, die die Sachen nahm.„Danke, Sally.“
„Keine Ursache, Miss,“lächelte Sally.
Als Gerald jetzt das lange Haar des Sheriffs sah, wunderte er sich immer mehr.
„Du hast Recht, Tante Ethel,“griff Mary-Rose ihr erstes Thema wieder auf.„Ich wäre wahrscheinlich ein lausiger Chef.“
Aaron meldete sich in Marges Armen. Mary-Rose nahm ihn, setzte sich, bekam von Jacqueline eine Decke, die sie über ihren Bruder legte und fing an, Aaron zu stillen. Gerald mußte lachen.
„Jetzt verstehe ich, Sohn,“sagte er.
„Hab‘ also richtig gefolgert,“meinte Mary-Rose.„Ihr gehört zusammen.“
„Mein Vater Gerald,“stellte Julius vor.
„Bleiben Sie länger?“fragte der Sheriff.
„Wahrscheinlich,“antwortete Gerald zurückhaltend.
„Irgendwelche Waffen?“
„Nein.“
„Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm,“kommentierte Mary-Rose.„Aber mir ist wichtig, daß die Stadt friedlich bleibt.“Sie grinste.„Wenn ich schieße, dann möglichst nur auf Dosen.“
Gerald lachte, nickte:„Natürlich, Sheriff.“
Samstag in Clearwater. Die ganze Familie Robinson wartete auf die Postkutsche.
„Du hättest Dir wenigstens ein Kleid anziehen können,“sagte Marge eben zu ihrer Tochter.
„Irgendwie liegt heute Ärger in der Luft,“antwortete der Sheriff.„Frag mich bitte nicht, warum.“Sie zeigte auf ihre Ohren, an denen große Creolen baumelten.„Ist das etwa nicht weiblich genug?“
„Na, ja,“mußte Marge zugeben. Abgesehen von den Jeans und dem Staubmantel hatte sie sich wirklich Mühe gegeben. Sogar ihren Stern hatte sie poliert, und die Haare hingen offen aus dem Hut. Ein Seitenblick belehrte Marge, daß ihr Mann den Disput mit einem Lächeln verfolgt hatte, ohne den geringsten Wunsch, sich einzumischen. Sie ließ die Angelegenheit auf sich beruhen, da endlich die Postkutsche eintraf.
Als die Kutsche vor der Post stoppte, trat Arthur vor, öffnete die Tür und half erst seiner Mutter und dann seiner Schwiegermutter heraus, bevor sein Vater und sein Schwiegervater folgten. Allgemeine Umarmung, Händeschütteln, bis Mercedes Robinson ausrief:„Oh, wie schade!“
„Warum, Mutter?“fragte Marge.
„Da kommen wir gerade an, und unsere Enkelin geht zum Maskenfest,“antwortete die gebürtige Kreolin. Mary-Rose blickte ihre Eltern finster an, Marge verlegen zurück.
„Die sehen ja beinahe echt aus,“meinte David O’Kelley und zeigte auf die Colts.
In diesem Augenblick gab es im Saloon Lärm. Irgendwer machte wohl Ärger.
„Entschuldigt mich bitte einen Moment,“sagte Mary-Rose zu ihren Großeltern, huschte über die Straße und betrat breitbeinig den Saloon. Blanche O’Kelley sah ihre Tochter fragend an, als sich der Lärm im Saloon kurz steigerte, Mary-Rose dann einen Mann mit gezogenem Colt aus dem Saloon trieb und mit einem geschickten Tritt in den Pferdetrog beförderte.
„Und wenn Du noch einmal im Saloon Ärger machst, landest Du im Loch,“verkündete sie dazu laut.
Eine Frau kam mit erbostem Gesicht aus einer Seitenstraße.
„Lee Schulz,“keifte sie,„Du nichtsnutziger …“
Weiter kam Sie nicht, denn Mary-Rose unterbrach sie:„Wenn Sie sich anständig um Ihren Mann kümmern würden, Mrs. Schulz, käme es garnicht erst so weit.“
„Sheriff!“ereiferte sich Selda Schulz.
„Seien Sie froh, daß ihr Mann so ein sanfter Riese ist, den nur der Whisky rabiat macht,“legte Mary-Rose nach,„in den Sie Spinatwachtel ihn treiben.“
„Das…,“setzte die Gescholtene an, aber Mary-Rose schnitt ihr das Wort ab:„Nehmen Sie ihn jetzt mit und behandeln Sie ihn mit Liebe und Respekt.“Selda Schulz blickte wütend und betreten zugleich.„Und sehen Sie mich nicht so an! Barmherzigkeit gibt’s da drüben, bei dem anderen Robinson.“Sie deutete auf ihren Vater.
„Der dem Sheriff absolut beipflichtet,“rief ihr Vater.
Selda Schulz half ihrem Mann aus dem Pferdetrog und stützte ihn. Mary-Rose kehrte zu ihrer Familie zurück.
„Wenn ich mit der verheiratet wäre,“meinte sie,„würde ich auch das Saufen anfangen.“
„Mary-Rose,“riefen beide Großmütter vorwurfsvoll.
Mary-Rose machte ein leicht betretenes Gesicht.
„Ich auch, Mary-Rose,“stellte Clement Robinson sich vor seine Enkelin. Sein Sohn nickte nur.
„Sie ist wirklich keine angenehme Zeitgenossin,“bestätigte Marge,„auch wenn Dir wieder Dein Mundwerk durchgegangen ist.“Sie blickte ihre Tochter an.
„Wenn es weniger Frauen wie sie gäbe,“verteidigte sich Mary-Rose,„wäre mein Job leichter.“
„Leider,“gab Marge zu, während Arthur die Koffer nahm. Die Großmütter entschieden offensichtlich, den Disput auf später zu verschieben. Während der Fahrt zum Pfarrhaus begrüßten einige Leute Mary-Rose als Sheriff, und dort angekommen konnte sich Mercedes Robinson nicht mehr halten.
„Du bist wirklich der Sheriff?“fragte sie ihre Enkelin. Mary-Rose nickte.„Aber …?“Mercedes war verwirrt. Ihr spanischer Akzent kam immer deutlicher zum Vorschein.
„Ça, alors,“rief Blanche aus.„Warüm 'abt ihr uns nischts davon gesagt?“Sie blickte ihre Tochter vorwurfsvoll an.
„Wir wollten nicht, daß ihr Euch aufregt, Maman,“erklärte Marge.
„Gehen wir ins Haus,“schlug Arthur vor. Alle folgten ihm. Im Haus zog Marge sich mit Aaron sofort zum Stillen zurück, während die anderen sich ins Wohnzimmer setzten. Mary-Rose gab ihren Großvätern je einen Colt. Beide untersuchten sie und gaben sie dann zurück. Arthur berichtete die letzten anderthalb Jahre in Kurzform. Alle vier Großeltern waren sehr erstaunt.
„Du 'ast ein schwüriges Leben, mein Schatz,“faßte sich Blanche als erste.
„Es geht,“grinste Mary-Rose schief.
„Es geht?“fragte Mercedes skeptisch.
„Es hat auch Vorteile, Abuela,“klopfte Mary-Rose auf ihre Colts. Clement Robinson lachte.
„Und ich kann mir denken, es gibt noch weitere,“meinte er.
„Kommt ihr Dienstag Abend mit zur Pokerrunde?“fragte der Sheriff ihre Großväter, die einander geschockt anblickten.
„Das ist ein großes Privileg,“meinte Arthur.„Ich darf nie mit.“
„Warum?“fragte sein Schwiegervater, zu erschrocken für mehr.
„Wenn Dad dabei ist, macht es einfach keinen Spaß,“erklärte Mary-Rose.
„Aha,“verstand Blanche.„Großväter sind nischt so güte Aufpasser.“
„Vielleicht,“gab Mary-Rose zu.
„Großeltern sind dazu da, die Enkel zu verderben,“stellte Mercedes fest. Allgemeines Gelächter.
„Kommt Ihr heute Abend mit zum Ball?“fragte Arthur jetzt, um das Thema zu wechseln.
„Natürlisch, mon cher beau fils,“lächelte Blanche.„Das werden wir üns doch nischt entgehen lassen.“
„Vorrausgesetzt,“erhob Mercedes den Zeigefinger,„daß der Sheriff in ihrem Kleiderschrank auch noch andere Sachen hat.“
„Gegen mich werdet Ihr aussehen wie ungemachte Betten,“nahm Mary-Rose die Herausforderung an.
„Über alles andere wäre isch auch schwer enttäuscht,“gab Blanche zurück, als Marge hereinkam. Aaron war offensichtlich unzufrieden. Blanche nahm ihren Enkel.
„Was 'at mein kleiner Liebling denn?“fragte sie.
Mary-Rose nahm ihr Aaron ab und legte ihn an.
„Hunger,“verkündete sie.„Aaron ist bekennender Gourmand.“Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig.„Aua! Aaron, die Tatsache, daß Du jetzt Zähne hast, berechtigt Dich noch lange nicht dazu, sie auch zu benutzen!“
Aaron trank unbeeindruckt weiter, und zwei Großväter und zwei Großmütter begriffen, daß noch einige Überraschungen ihrer harrten.
Abends hatten alle gebadet und bereiteten sich vor, die Frauen im Schlafzimmer, die Männer in Arthurs Büro. Nur der Sheriff genoß das Privileg eines eigenen Spiegels, hatte aber dafür das Feinmachen ihres kleinen Bruders übernommen. Als sich die Erwachsenen wieder trafen, war das Erstaunen auf beiden Seiten groß. Clement hatte Uniform angezogen, obwohl er schon seit über einem Jahrzehnt nicht mehr im Dienst der US Navy stand, trug dazu einen Navy-Colt, David erschien in einem sehr eleganten schwarzen Frack, der immer noch am besten zu seinen nicht mehr ganz so roten Haaren paßte. Und Arthur …
„Mon Dieu, mon beaux-fils,“rief Blanche aus, schlug die behandschuhten Hände vor dem Mund zusammen, wobei sie sorgfältig darauf achtete, daß die Schminke nicht abfärbte.„Maintenant, je sais, warüm Du ihn genommen 'ast,“verfiel sie teilweise ins Französische. Ihre Tochter lächelte nur. Arthur hatte vollen Gebrauch von seiner kreolischen Abstammung gemacht, und auch wenn er schon ein paar graue Haare hatte, war seine Version eines mexikanischen Hazienderos in ihrer grauen schlichten Eleganz unübertroffen.
„Señora,“sagte er nur und bot seiner Frau den Arm. Marge hatte sich in ein leuchtend rotes Kleid gezwängt, das ihre beeindruckende Physis besonders gut zur Geltung brachte. Das Haar war im spanischen Stil gemacht. Jeder hätte ihr und Arthur den Flamenco abgenommen, aber niemals das Pastorenehepaar aus dem Westen!
Auch die beiden Großmütter beäugten sich kritisch, lachten dann. Sie standen einander in nichts nach.
„Wo ist denn die Señorita?“fragte Mercedes laut.
„Kommt sofort,“rief der Sheriff und erschien nach einem kurzen Moment in der Tür, kam in koketten Trippelschrittchen auf ihre Großmütter zu, wobei sie ohne Eleganzverlust Aarons Kinderwagen hinter sich aus ihrem Zimmer zog. Blanche sagte garnichts mehr. Auch Mercedes fehlten offensichtlich die Worte. Die beiden älteren Frauen nickten sich nur stumm zu. Ihre Enkelin hatte nicht nur ein sehr elegantes Ballkleid angezogen, das für den Westen – eigentlich für die gesamten USA – tief dekolletiert war, auch ihre Schuhe, die Handschuhe, die Frisur und das Gesicht waren ein Gedicht. Marge bemerkte, daß ihre Tochter ihren Prachtstern angesteckt hatte, der aus Gold und mit Diamantsplittern umsäumt war. Julius hatte vorher ziemlich kräftig verloren. Marge verkniff sich eine Bemerkung zu ungemachten Betten. Arthurs betont unbeteiligtes Gesicht verriet ihr, daß er härter zu kämpfen hatte.
„Enfin, Du 'ast wenigstens nücht mehr diese schrecklüschen Revolver, ma chérie,“rang sich Blanche zu einer Bemerkung durch, die bei ihrer Tochter sofort für einen Lachanfall sorgte. Mary-Rose zeigte ihrer Großmutter die ansonsten unsichtbaren Holster.
„Ich bin immer im Dienst,“erklärte sie dazu. Blanche verweigerte jeden Kommentar, und die Gesellschaft brach auf.
Beim Hinausgehen zeigte Mary-Rose auf den Navy-Colt und sagte mit einer wegwerfenden Handbewegung:„Viel zu klein!“
Hinten am Wagen war das Dienstpferd mit dem Damensattel angebunden. Mercedes hob nur kurz die Augenbrauen, sagte aber nichts. Mary-Rose verfrachtete ihren Bruder auf seine gepolsterte Liege und hoffte, daß er jetzt endlich satt war. Sie zwängten sich in den Wagen. Arthur nahm die Zügel und sie fuhren in Richtung Alder-Ranch ab.
Auf dem Weg zur Ranch begegneten sie weiteren Wagen, alle mit herausgeputzten Damen und – soweit in Clearwater möglich – eleganten Herren. Einige kamen von den umliegenden Farmen. Manchmal machten die Greenhorns im Robinsonschen Wagen große Augen, sahen ein, daß Clearwater nicht das hinterwäldlerische Kaff war, für das sie es gehalten hatten.
Schließlich kam die Ranch in Sicht. Jetzt im Sommer war es noch nicht ganz dunkel, so daß die vier Großeltern die römische Villa gut betrachten konnten. An der Westseite glänzte der weiße Marmor in der Abendsonne. Peone brachten die jeweiligen Wagen weg, wenn die Besitzer ausgestiegen waren. Eine lange Schlange hatte sich vor dem Haupteingang gebildet. Endlich kamen auch die Robinsons an die Reihe. Sieben stiegen aus, einer wurde getragen. Der Sheriff nahm ihren Bruder sofort zum neu Wickeln mit. Aaron hatte gründlich verdaut. Schon beim Windeln machen wurde er schläfrig und mit einer frischen Windel wanderte sofort in die bereitgestellte Wiege neben Jeremiahs Kinderbett in den Raum wo auch schon Tom, Selena und Sandra schliefen. Eben kam noch der kleine Julius dazu. Jacqueline überprüfte noch einmal alles ganz genau. Die Kinderfrau würde auf die Säuglinge aufpassen. Mary-Rose zog ihre Handschuhe und Ringe wieder an und begab sich zum Ball. Große Schwester zu sein, war manchmal anstrengend.
„Er ist doch nebenan,“beruhigte Mary-Rose ihre Freundin und Mentorin, die noch immer unsicher blickte.
„Hab‘ erstmal eigene Kinder,“kam die prompte Replik.
„Hab‘ ich doch schon,“grinste der Sheriff,„fast.“
Jacqueline mußte lachen.
So langsam trafen auch die letzten Gäste ein. Tante Ethel, die eindeutig älteste auf diesem Ball, plauderte mit ein paar älteren Gentlemen, bis auf den Vater von Onkel Julius alle mindestens 10 Jahre jünger als sie. Einige stierten ihr ins Dekolleté. Tante Ethel schien das nicht zu bemerken.
„Zigarre, Sheriff?“fragte Onkel Ron.
„Geht nicht,“wehrte Mary-Rose ab.„Meine Großeltern sind hier. Muß mich benehmen.“
Ron Alder lächelte dezent. Daß der Sheriff sich benehmen mußte, war eher selten.
Der Ball wurde eröffnet. Die Mitte unter der großen Kuppel war den Tanzenden vorbehalten, an den Seiten standen Tische und das Buffet. Mike Alder hatte mit einer wohlgesetzten Rede den Ball eröffnet, und das Orchester gab sich wirklich Mühe. Ganz wie in Frankreich war es sicher nicht, aber sehr nahe dran, fand Blanche und beobachtete zufrieden, wie ihre Enkelin von praktisch jedem jungen Mann im Saal zum Tanz aufgefordert wurde. Wenn sie ganz genau hinsah, bemerkte sie auch, daß sich das Kleid des Sheriffs durch die beiden schweren Revolver doch etwas anders bewegte als normal. Ihre Gedanken wurden unterbrochen, als einer der Herren sie zum Tanz aufforderte.
„Darf ich Ihnen Reverend Robinson vorstellen, Jenna?“fragte Jack Alder.„Arthur, dies ist Jenna Whoolston. Ihr Mann lehrt Naturwissenschaften. Jenna, Reverend Arthur Morton Robinson.“
„Reverend,“reichte Jenna Whoolston ihre Hand mit deutlichem Erstaunen. Arthur brachte einen formvollendeten Handkuß zustande.
„Mrs. Whoolston.“
„Ist ein richtiger Familienbetrieb,“grinste Jack.„Er kümmert sich um die reuigen Sünder, und für die unbußfertigen ist seine Tochter zuständig. Sie tanzt dahinten mit Jim.“
Jenna Whoolston betrachtete sie eingehend.
„Irgendwie bewegt sich das Kleid seltsam,“bemerkte sie.
„Ein Tribut an ihre beiden Revolver,“erklärte Jack.„Sie ist hier der Sheriff.“
Mrs. Whoolston, die erst letzte Woche angekommen war, hatte zwar schon vom Sheriff gehört, sah sie aber jetzt zum ersten Mal. Offensichtlich fiel es ihr schwer, das Kleid mit der Tochter eines Pastors zusammenzubringen. Nun, ja, der Pastor war ja auch nicht typisch.
„Was hast Du, Kind?“fragte Blanche ihre Tochter auf Französisch.
„Ach, Maman,“seufzte Marge, deutete mit dem Kopf auf Mary-Rose.„Ich bin eben nur 'mal wieder besorgt.“
„Warum denn?“
„Fang Du jetzt nicht auch noch an,“meckerte Marge und ließ sich zum Tanz auffordern. Blanche dachte zurück an die Zeit, wo Marge die Begehrlichkeit der Männer geweckt hatte, und lächelte. Jetzt verstand sie ihre Tochter.
Mike kam endlich in die Nähe von Tante Ethel, raunte ihr zu:„Du weißt, wo die Herren hinsehen?“
„Großes Interesse zeigt nur, daß das Angebot noch attraktiv ist,“beschied sie ihm ebenso leise. Mike lächelte so dezent, wie er konnte, während sie schon wieder zum Tanz aufgefordert wurde. Mike begab sich ins Nebenzimmer, wo sich einige Tanzunkundige zum Pokern niedergelassen hatten. Auch Arthur traf dort ein.
„Keine Lust zum Tanzen, Pastor?“fragte Ethan Barclay.
„Schon,“antwortete Arthur,„aber da der Sheriff heute viel tanzt, komme ich 'mal zum Pokern.“
Schmunzeln in der Runde. Alle setzten sich, und das Spiel begann.
Die Zeit verstrich und nach einigen Runden tippte Mercedes ihrem Sohn in einer Spielpause auf die Schulter, bedeutete ihm, zu schweigen und zu folgen. Arthur stand auf und folgte ihr in den Saal. Dort standen Marge, Ethel, Jack und Blanche und schauten in Richtung Terrassentür, hinter der man Mary-Rose mit Jim Whoolston auf einer Bank sitzen sehen konnte. Da die beiden dem Haus den Rücken zudrehten, bemerkten sie die Zuschauer nicht. Jim nahm die zarte behandschuhte Hand seiner Tanzpartnerin.
„Er spielt mit ihrem Ring,“zischte Marge so leise, daß nur Arthur sie verstand. Da Mary-Rose das duldete, rückte Jim näher, legte den Arm um sie.
‚Mutiger Bursche,‘dachte Arthur, während Marge ihn ständig anstieß.
Plötzlich näherten sich die Köpfe der beiden.
„Arthur,“zischte Marge, aber es war schon passiert. Jim hatte ihr kleines Mädchen geküßt, obwohl es Arthur eher andersherum erschienen war.
„Tu doch etwas!“ordnete Marge an, und Arthur sah ein, daß das wohl nötig war. Er trat durch die Terrassentür.
„Hallo, junger Mann,“rief er, und die Lippen lösten sich sofort.„Wer den Sheriff küssen will, muß zuerst mit der Mutter des Sheriffs getanzt haben.“
„Und mit den Großmüttern,“rief Mercedes von drinnen.
„Mais, biensure.“Blanche.
„So ist die Regel,“bestätigte der Pastor.
„Jawohl, Sir,“beeilte Jim sich, zu sagen, stand auf, ging hinein und forderte Marge auf. Die mußte jetzt gute Miene zum Spiel machen, sandte ihrem Mann aber einen verzweifelten Blick zu.
„Danke, Dad,“sagte Mary-Rose.
„Mußte das sein?“fragte ihr Vater.
„Er küßt so gut,“begründete seine Tochter schwärmerisch ihr Vorgehen, und Arthur brauchte nur einen Blick, um zu sehen, daß hier nichts zu machen war. Seine Tochter hatte sich in den jungen Mann absolut verknallt. Sie nahm jetzt einen kleinen Spiegel und Lippenfarbe aus ihrem Handtäschchen und richtete die Lippen wieder her. Arthur mußte zugeben, daß die wirklich zum Küssen einluden.
„Etwas dezenter bitte,“verfügte er, und der Sheriff nickte nur, begab sich zurück in den Saal. Arthur schaute ihr nach, als Jack herauskam.
„Die ist rossig,“bemerkte Jack mit der ihm eigenen Feinfühligkeit.„Du kannst es nur noch lenken, Arthur.“
„Erklär das 'mal Marge,“retournierte Arthur bissig.„Sie ist noch so jung.“
„Und er ist ein guter Junge,“beruhigte ihn Jack.
„Ich weiß,“resignierte der Pastor.„Aber Marge …“
„Brauchst Du 'nen zweiten Revolver?“bot Jack an.
„Ich glaub‘ nicht,“lächelte Arthur und ging wieder hinein, wo Jim mittlerweile mit Mercedes tanzte. Marge empfing ihren Mann mit einem undefinierbaren Blick, während sie angestrengt mit ihrer Mutter redete. Ethel, die dabeistand, hörte nur zu. Überall hatten sich kleine Grüppchen von Frauen gebildet, die offensichtlich das Verhalten des Sheriffs diskutierten. Schließlich ging Marge auf ihre Tochter zu, die die Tanz- und Kußpause dazu nutzte, schnell einen Happen zu essen. Arthur sah, wie seine Frau und seine Tochter schnell und heftig diskutierten, Marge Mary-Rose dann umarmte und auf ihren Mann zukam.
„Und?“fragte Arthur.
„Ihr habt ja alle Recht,“gab Marge etwas mißmutig zu,„aber ich hab‘ Angst.“
„Vielleicht wird er ja sogar ein Traumschwiegersohn,“gab Arthur zu bedenken.„Besser als ich für Deine Mutter.“
Damit sprach er einen wunden Punkt bei Marge an. Arthurs Verhältnis zu seiner Schwiegermutter war zunächst bestenfalls gespannt gewesen. Erst als Blanche von seinem Theologiestudium erfahren und sich mit Mercedes zusammengerauft hatte, war Arthur ihr sympathischer geworden. Marge wußte, daß sie vom Temperament eher nach ihrer Mutter kam. Sie nahm sich vor, Jim offener zu empfangen, als es Arthur damals passiert war.
„Lad‘ ihn bitte für Morgen zum Essen ein, Arthur,“bat sie.
„Seine Eltern auch?“
„Klär das bitte.“
Arthur lächelte und nickte, suchte mit den Augen Jenna Whoolston. Mal sehen, was sich arrangieren ließ.
„Ist der Sheriff schon da?“fragte Augusta Feodora, die aus dem Fenster des Lehrerzimmers blickte.
„Kommt gerade eingeschwebt,“kommentierte Feodora als Antwort. Ihre Schwägerinnen waren sofort bei ihr.
„Totalverliebt,“stellte Valerie fest, als sie Mary-Rose mit ihrem Sattel tanzen sah.
„Na, ja,“meinte Augusta,„auch Sheriffs verlieben sich manchmal.“
„Und brezeln sich dann furchtbar auf,“kritisierte George Whoolston und trat zum Fenster.„Nun sieh sich einer diesen jungen Stutzer an.“Er zeigte auf seinen Sohn, der gerade den Schulhof betrat.„Eine halbe Stunde hat er heute Morgen vor dem Spiegel verbracht.“Das war ihm auch anzusehen, wie er jetzt auf Mary-Rose zuging, sie küßte.„Man sollte doch meinen, die beiden würden die Anzahl ihrer Zähne so langsam kennen.“Georges bissiger Kommentar brachte die Alder-Frauen zum Lachen.
„Also wenn mir in dem Alter ein Junge wie Jim begegnet wäre, …“begann Augusta.
„Mit vierzehn habe ich noch mit Puppen gespielt,“erklärte Valerie.
„Und sie läßt die Puppen tanzen,“kommentierte George.
„Seht Ihr den Neid bei den älteren Mädchen?“fragte Feodora, und ihre Schwägerinnen sahen genauer hin, stimmten ihr zu.
„Nun,“meinte der Naturkundelehrer,„sie könnten immerhin argumentieren, daß das, was die Tochter des Pastors darf, auch für sie erlaubt sein sollte.“
„Jede Wette, daß das auch passiert,“bot Augusta an.
„Die Offensichtlichkeit des Argumentes läßt die Gegenwahrscheinlichkeit in der Nichtsignifikanz versinken,“lehnte George die Wette lächelnd ab, sah wieder auf seinen Sohn.„Immerhin hat er die Ballkönigin erorbert, und bei ihrer Mutter eine gute Figur gemacht. Keine Schande für einen Vater, oder?“Er verließ das Lehrerzimmer, ohne die Antwort abzuwarten, und die drei Alder-Frauen mußten ihm Recht geben.
„Ich rede mit dem Sheriff,“bot Augusta an.
„Danke, Mitschlampe,“meinte Feodora,„aber ich bin die Rektorin. Das ist mein Job.“Sie lächelte.„Und so gut bist Du mit dem Revolver auch nicht.“
Augusta mußte ihr zustimmen, ging in ihren Klassenraum.
Nachmittags spazierte der Pastor durch die Stadt, grüßte hier, grüßte da, hatte kein bestimmtes Ziel außer ein paar Einkäufen, und die Stimmung zu testen. Durch so manches offene Fenster vernahm er heftige Diskussionen, bis schließlich eine Tür aufflog, und Roy Benson brüllte:„Reverend, kommen Sie doch 'mal bitte!“
„Gerne,“brüllte Arthur genauso laut zurück, folgte aber dem Ruf. Benson war der Frust nur zu deutlich anzusehen. Drinnen standen sich Emily Benson und ihre Mutter wie zwei Kampfhähne gegenüber, die ihre versammelte Wut jetzt plötzlich gegen Arthur richteten.
„Seit Sie Ihrer Tochter alles Mögliche erlauben, Reverend,“keifte Moira Benson,„ist hier buchstäblich die Hölle los, und nach diesem Ball …“
„… will sie Ohrlöcher und mit Jungs ausgehen,“vollendete Roy den Satz mindestens ebenso laut wie seine Frau.
„Ich bin drei Jahre älter als Mary-Rose, und Myrna Jenkins feiert eine Party, zu der sie alle eingeladen hat,“zeterte Emily.
„In den Saloon!“ereiferte sich ihre Mutter.„Und es wird Bier und Wein geben.“
„Puh!“meinte Arthur.„Mary-Rose wird nicht so ganz enttäuscht sein.“
„Warum?“fragte Emily jetzt verblüfft.
„Weil sie ihrer Mutter momentan beim Stillen hilft, und somit striktes Alkoholverbot herrscht,“erklärte ihr Arthur.„Außerdem sehe ich bei einem siebzehnjährigen Mädchen keine Probleme, wenn es nur Wein und Bier gibt.“
„Aber Myrna hat auch die Jungs aus der Schule eingeladen,“wurde Roy Benson jetzt wieder laut.
„Die sind doch alle vernünftig,“machte Arthur eine wegwerfende Handbewegung.
„Und Mary-Rose darf Jim in aller Öffentlichkeit küssen, wie eine Erwachsene,“machte Emily einen Punkt, der ihren Eltern offensichtlich übel aufstieß.
„Mary-Rose ist der Sheriff und trägt die Verantwortung wie eine Erwachsene,“erinnerte Arthur sie.
„Geben Sie mir Ihren Revolver, Reverend“reckte Emily sich kerzengerade auf,„und ich zeige Ihnen, daß ich das auch kann.“
„Emily!“Moira war anzusehen, daß sie für heute genug hatte verdauen müssen. Arthur kam ein Gedanke.
„Vielleicht keine schlechte Idee, Emily,“sagte er und empfahl sich.„Ich muß zum Bürgermeister.“
Drei Stunden später trafen sich die Ältesten der Kirchengemeinde Clearwater, zu denen kein Alder gehörte, auf Bitten des Pastors zu einer Dringlichkeitsberatung.
„Was ist denn los, Arthur?“fragte Ole Hanson.„Und warum sitzt Deine Tochter in dieser Runde.“
„Wir müssen uns dringend um die sittliche Erziehung unserer jungen Erwachsenen kümmern,“erklärte Arthur,„und der Sheriff als Vertreterin der öffentlichen Ordnung hat dazu einen Vorschlag.“Das erinnerte Hanson daran, wer die offizielle Bestellung zum Sheriff durchgesetzt hatte. Alle nickten. Einige waren selbst Väter von Kindern in diesem Alter.
„Der Reverend und ich kommen gerade vom Bürgermeister,“fing der Sheriff sehr förmlich an, wobei alle sich zurückhalten mußten.„Ausgehend von der Beschwerde einer jungen Dame von siebzehn Jahren, die sich dadurch zurückgesetzt fühlte, daß sie nie die Chance hatte, ähnlich mir ihr Verantwortungsbewußtsein und ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, trafen wir folgende Vereinbarung, daß nämlich die jugendlichen Einwohner Clearwaters mit Erreichen des siebzehnten Lebensjahres für ein Jahr im Wechseldienst Deputy sein sollen. Für das erste Jahr werden auch alle Unverheirateten bis zum zweiundzwanzigsten Lebensjahr einbezogen werden.“
„Auch die Indianer?“fragte Isaiah.
„Die Indianer leben nach ihren eigenen kulturellen Regeln,“erklärte Arthur,„haben daher nicht die gleichen Probleme wie wir. Für sie ist die Teilnahme zunächst freiwillig.“
Wieder nickten alle, dachten offensichtlich angestrengt nach.
„Heißt das etwa auch, daß unsere Töchter im Ernstfall Streit im Saloon schlichten müßten?“fragte Roger Willow, Vater von Zwillingen in dem Alter.
„Alle Rechte, alle Pflichten,“grinste Mary-Rose,„aber hier kommt Ihr ins Spiel.“
„Deinem Lächeln entnehme ich,“stellte Julius fest,„daß Du uns gleich einen schweren Brocken servieren wirst.“
„Wird ziemlich unverdaulich sein,“brummte Ole.
„Danke für ihr Vertrauen, Gentlemen,“übertrieb Mary-Rose maßlos, um sofort ernst zu werden.„Ich schlage einen verpflichtenden Kurs der Kirchengemeinde zur sexuellen Moral und den Umgang mit den ehelichen Pflichten vor, getrennt nach Geschlechtern. Männer und Frauen sind einfach anders.“
„Ich will Gründe,“sagte Ole nur.
„Gut, Onkel Ole,“nahm Mary-Rose sich zusammen.„Über die Hälfte der Männer, die ich wegen Straftaten unter Alkoholeinfluß aus dem Saloon hole, werden von ihren nörgelnden, lieblosen Ehefrauen dorthin getrieben.“Sie blickte in die Runde. Das Problem war allen bekannt.„Diese Lösung ist nicht richtig, wird aber in der Mehrzahl der Fälle gewählt, und man kann froh sein, wenn es dabei ohne Verletzungen abgeht.“
Alle nickten.
„Außerdem sind gewisse Berufe immer noch romantisch verklärt, was mitunter für Probleme sorgt.“
Wieder konsensuales Nicken.
„Wen schlägst Du als Lehrer vor?“fragte Roger.
„Zwei Menschen, die die Welt und ihre Niederungen kennen, die wissen, wovor man sich wirklich in Acht zu nehmen hat,“sagte Mary-Rose mit einem unsicheren Blick auf ihren Vater. Der nickte ihr zu.„Für die Jungs, Jack Alder, vielleicht auch Mike, und für die Mädchen, Jacqueline Granger-Ford.“
„Warum gerade sie?“fragte Ole.
„Sie hat mir geholfen,“erklärte der Sheriff offen.
„Wie?“
Der Sheriff dankte dem Himmel, daß sie vorher mit Jacqueline gesprochen hatte.
„Sie hat mir einfach ihre Lebensgeschichte erzählt, die ungeschminkte Wahrheit,“grinste die Vierzehnjährige.„Das hat gereicht.“
„Hab‘ ich gemerkt,“lächelte ihr Vater. Der Rest der Versammlung war eher geschockt, vielleicht bis auf Julius.
Ole Hanson nickte nur, war offensichtlich in Gedanken versunken. Am Ende sah er auf und sagte:„Es ist gut, wenn unsere jungen Leute Verantwortung lernen, auch im Umgang miteinander und mit der Waffe. Versuchen wir das.“
Alle anderen stimmten ebenfalls zu. Hier hätte es nur der Pastor gewagt, Ole zu widersprechen.
Am nächsten Morgen standen dreiunddreißig junge Menschen, auch Myrna Jenkins und Emily Benson, meist mit den Waffen ihrer Väter, vor dem Sheriff und wurden als Deputies vereidigt. Danach kam in der Schule ersteinmal Waffenkunde bei Jack Alder. Nur Jim Whoolston bekam eine Privatstunde beim Sheriff, die sich aber als relativ ineffektiv herausstellte, wie sein Vater fand. Der Zeitanteil des Nichtküssens war einfach zu gering.
Abends drückte George Whoolston seinem Sohn zwanzig Dollar in die Hand.
„Für den Pokertisch,“sagte er,„und mach mir keine Schande.“
Jim grinste, steckte stumm das Geld ein und verschwand auf seinem Zimmer. Als er wieder erschien, hätte sein Vater beinahe laut gelacht. Mike Alder als Jugendlicher! Ja, das war der passende Vergleich. Jim schnallte seinen Gurt um, prüfte, ob der Revolver geladen war, und verließ das Haus.
Seine Mutter blickte ihm kopfschüttelnd durchs Fenster nach, ging wortlos wieder an ihre Stickerei.
„Wir sind jetzt im Westen,“meinte George. Jenna nickte nur.
Später am gleichen Abend nahm Mary-Rose ihre Großväter zur Pokerrunde mit, während die Anderen zuhause blieben. Als die Sonne so langsam unterging, bat Blanche ihren Schwiegersohn nach draußen auf die Gartenbank. Sie setzten sich und schwiegen eine Weile.
„Artür,“fing Blanche dann an,„isch muß Disch um Verseihung bitten.“
„Warum?“fragte Arthur nur. Der Akzent machte Blanche beinahe unverständlich.
„Weil isch Disch von Anfang an so schlescht behandelt 'abe,“erklärte Blanche.„Eigentlich 'ätte isch froh sein sollen, daß meine Tochter einen guten Mann gefunden 'at.“
„Aber…?“
„Nün, ja,“druckste Blanche.„Marges Männergeschmack entsprach schon immer in etwa Deinem Aussehen.“Ihre Augen schweiften in die Ferne.„Leider hatten nischt alle in etwa Deinen Charakter, pas du tout.“Blanche grinste verlegen.„David müßte sogar einige hinausjagen. Das gab dann ein paar Probleme mit Marge.“
Arthur, der das Temperament seiner Frau und seiner Schwiegermutter kannte, konnte sich die Szenen zwischen der üppigen, rothaarigen Marge und der zierlichen, dunkelhaarigen Blanche lebhaft vorstellen, mußte sich anstrengen, nicht laut zu lachen.
„Lach ruhig,“meinte Blanche.„Isch 'ätte ja froh sein müssen, daß meine Tochter endlisch einen vernünftigen Mann gefunden 'atte, der ihr gefiel, aber Du warst den anderen so ähnlisch.“Sie blickte ihren Schwiegersohn direkt an.„Bitte verzeih mir: Du warst immer der perfekte Schwiegersohn, ünd isch leider die böse Belle-Mère“
Arthur nahm seine Schwiegermutter in den Arm.
„Ich hab‘ Dir schon lange verziehen,“sagte er.
„Aber jetzt sehe isch, daß Du der ideale Mann für Marge bist,“fuhr Blanche fort.„Du läßt Mary-Rose genau die Freiheit, die sie braucht, auch wenn isch züerst etwas choquée war.“Jetzt lachte sie.„Meine Enkelin als Sheriff! Incroyable!“
„Ich hab‘ mich auch noch nicht daran gewöhnt,“meinte Arthur.
„Marge noch viel weniger,“stellte Blanche fest.„Aber Jim ist ein guter Junge, ünd er wird ein guter Beau-Fils, wenn er es schafft, der ruhende Pol in Mary-Roses Leben zu werden.“
Arthur nickte, schwieg aber, genoß die Zeit der Stille.
Marge schreckte aus dem Schlaf hoch, als sie den Schuß hörte. Mit einem Blick erfaßte sie, daß ihr Wecker 10.00 Uhr anzeigte und Aaron nicht in seinem Kinderbett war. Innerhalb eines Augenblicks stand sie im Morgenmantel im Garten, sah ihre Mutter und ihre Schwiegermutter mit ihrer Tochter im Garten stehen und Zielübungen veranstalten, während Aaron auf seinem Stuhl saß, mit einer Brotrinde winkte. Die drei anderen Frauen hatten sie noch nicht bemerkt, also schlich Marge sich an, stibitzte ihrer Tochter den Revolver aus dem Gurt, prüfte, ob der geladen war, und zielte.
„So geht das,“rief sie, als die Dosen wieder auf der Fence standen, und legte eine saubere Serie hin.
Den älteren Frauen stand der Mund offen.
„Danke, daß ihr mich habt schlafen lassen,“lachte Marge.
„Also muß man sich in Clearwater nicht nur vor dem Sheriff in Acht nehmen,“stellte Mercedes fest,„sondern auch vor der Mutter des Sheriffs.“
„Dad ist mit den anderen zu Mr. Tamblyn, will danach auf die Jagd,“erklärte Mary-Rose.„Und ich treffe mich gleich mit Jim.“
„Gemeinsame Streife?“fragte Marge.
„So ähnlich,“antwortete der Sheriff etwas verlegen, nahm ihren Revolver wieder an sich und ritt los. Mutter und Großmütter schauten ihr lächelnd nach.
„Du warst genauso, wenn isch wieder einmal zü neugierisch war,“erklärte Blanche ihrer Tochter.
„Mais, jamais!“ereiferte sich Marge.
„Bei mir haben das alle meine Töchter so gemacht,“stellte Mercedes fest,„und Arthur hat erst garnichts gesagt. Er war einfach irgendwann weg, und wenn er wiederkam, gab es nichtssagende Antworten.“Sie schüttelte den Kopf.„Und ich hatte drei Tage zu tun, die Schminkflecken aus seiner Kleidung zu bekommen!“
Das Gelächter von Blanche und Marge konnte man wahrscheinlich bis in die Stadt hören.
Mary-Rose und Jim streiften durch die Stadt. Eigentlich war ja nichts los, aber wenn sie über Stunden im Office geblieben wären, hätte das Gerede kein Ende genommen, und als Tochter des Pastors bzw. Sohn eines Lehrers mußte man Rücksichten nehmen, wenn die Eltern schon so tolerant waren. Jetzt während des Sommers hatte Barney einige Tische und Stühle nach draußen auf die Veranda vor dem Saloon gestellt. Die beiden Turtelnden setzten sich in einen der kleinen Tische, bestellten jeder eine Limonade. Jim sah Mary-Rose genau an. Wie eigentlich fast immer seit ihrem ersten Kuß trug sie ein Kleid. Jim wußte natürlich, wo die beiden Revolver waren, wollte aber nicht daran denken. Seine eigene Waffe war ungewohnt genug. Händchenhaltend beobachteten sie die Umgebung, genossen es einfach, zusammen zu sein. Einige Jugendliche gingen vorüber, darunter zwei Pärchen, die sich ebenfalls auf dem Ball gefunden hatten. Einige ältere Leute schauten mißbilligend auf die Szene, Tante Ethel, die auf ihrem Wagen vorbeikam, allerdings nicht, sondern grüßte freundlich. Jacqueline zwinkerte Mary-Rose sogar zu.
Mary-Rose machte sich so ihre eigenen Gedanken. Was sie am meisten irritierte, war, daß Jim immer mit ihren Ringen spielte, wenn er ihre Hand hielt. Er verstand den Blick, den sie ihm zuwarf.
„Ich weiß nicht,“meinte er.„Ist eben alles neu für mich.“
Sie lächelte, und er riß sich für eine Viertelstunde zusammen. Dann begann das Spiel von neuem. Sie nahm sich vor, Jacqueline danach zu fragen.
„Das, lieber Sheriff,“lächelte Jacqueline wissend,„macht Onkel Julius auch manchmal.“
„Und warum?“
„Weiß nicht genau, aber er ist ja im Händchenhalten fast so unerfahren wie Jim.“Jacqueline dachte nach.„Vielleicht brauchen Männer manchmal das Gefühl, eine Frau neben sich zu haben.“
„Sowas wie 'ne Bestätigung?“
„Ja. ‚Ich bin nicht mehr allein.‘ als greifbarer Beweis,“grinste Jacqueline.„Und je dicker die Klunker sind, desto mehr spielen sie damit. Und Jim’s Situation ist sowieso schwierig.“
„Warum?“fragte Mary-Rose verständnislos.
„Wie lange, sagst Du, braucht Dein Dad für die Traupredigt?“
„Was hat das damit zu tun?“fragte Mary-Rose genervt.„Zwei Jahre, warum?“
„Sechzehn ist immernoch sehr früh zum Heiraten,“meinte Jacqueline,„auch wenn ich‘s Dir zutraue. Aber Jim ist ein junger Mann, der jetzt ein Mädchen gefunden hat, das noch jünger ist als er.“
„Kapier ich nicht.“
Jacqueline seufzte. Mary-Rose hatte offensichtlich eine Blockade. Was hatte ihr Doug nochmal geraten? „Wenn Du’s nicht verstehst, bau Dir 'ne Statistik.“
„Wieviele andere Sheriffs kennst Du?“fragte Sie.
„Nur einen,“beschloß Mary-Rose, erst einmal zu folgen,„Jessup Styles aus Cow Hill.“
„Beschreibe ihn mir,“forderte Jacqueline den Sheriff auf. Mary-Rose beschrieb ihren Kollegen sehr genau.
„Und wenn wir jetzt alle Sheriffs in Colorado nehmen, kommen mit Sicherheit hundert zusammen. Auf wieviele von diesen hundert paßt die Beschreibung von Sheriff Styles vom Alter und Geschlecht?“
„Über neunzig, würde ich sagen. Ein paar sind vielleicht jünger.“
„Und auf wieviele paßt die Beschreibung weiblich und vierzehn Jahre?“lächelte Jacqueline. Mary-Rose hob nur einen Finger.„In Deinem Alter spielen Mädchen für gewöhnlich noch mit Puppen und sind völlig ahnungslos von den Dingen zwischen Mann und Frau.“
„Weiß ich,“brummte Mary-Rose.
„Jim ist eher traditionell aufgewachsen, nicht?“Jacqueline wartete die Antwort garnicht erst ab.„Natürlich muß er sich jetzt völlig neu orientieren! Er ist jetzt der Mann des Sheriffs!“
„Hört sich komisch an,“grinste der Sheriff.
„Und wenn sich das für Dich schon komisch anhört, Sheriff,“hakte Jacqueline ein,„wieviel komischer muß sich das für ihn anhören!“
„Sch…,“meinte der Sheriff völlig undamenhaft.
„Er muß ohne Dein Einkommen mit Dir mithalten, um sich noch als Kerl fühlen zu können,“mahnte Jacqueline eindringlich.„Das ist so in den Kerlen drin, und weder Du noch ich kriegen es da 'raus.“Sie dachte kurz nach.„Von wem, meinst Du, hatte er die zwanzig Dollar für den letzten Pokerabend?“
„Sein Vater?“verstand Mary-Rose nach kurzem Nachdenken. Jacqueline nickte mit einer ernsten Mine.
„Oh, ich Gazelle!“
Jacqueline schaute verdutzt.
„Oder wie heißt das große graue Tier mit dem Rüssel?“vollendete Mary-Rose den Witz.
„Genau so,“stimmte ihr die ältere Frau zu.
„Wenden wir uns dem Klavier zu,“wechselte Mary-Rose das Thema, um wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. Die Zigarre ließ sie liegen. Jacqueline blickte sie fragend an.
„Ich glaube, der Geschmack wäre für Jim etwas unangenehm,“grinste der Sheriff schief.
Jacqueline rollte mit den Augen:„Wenn das doch nur die Männer kapieren würden.“
Als Jim nach Hause kam, nahm er wortlos den Gurt ab, hängte ihn wie üblich an die Garderobe und ging ebenso wortlos in sein Zimmer. George sah seinem Sohn nach, merkte wie lustlos und abgespannt dieser war, und das schien nicht an der gerade absolvierten 24-Stunden-Schicht zu liegen. George entschied sich dagegen, ihm nachzugehen. Sein Sohn würde schon kommen, wenn er wirklich Rat brauchte.
„Mr. Alder, Sir,“sprach Jim seinen Hebräischlehrer nach dem Unterricht an. Mike schaute auf, sah wieder einmal sich selbst vor fast dreißig Jahren. Jim stand vor ihm, wirkte unruhig, lustlos, verunsichert, und als Schüler hatte er in den letzten Tagen auch nachgelassen.
„Ja, Jim?“
„Ich brauche Ihren Rat, Sir,“begann der Junge sehr förmlich.
„Und in welcher Angelegenheit?“fragte Mike interessiert.
„Zwei Fragen,“startete Jim nach tiefem Durchatmen.„Erstens: Wie sage ich einer jungen Dame, daß wir nicht zusammenpassen? Zweitens: Halten Sie es für ratsam, den Revolver dann schon gezogen zu haben?“
Die zweite Frage sorgte bei Mike für hilfloses Gelächter, obwohl sie anscheinend todernst gemeint war.
„Verzeihung, Jim,“entschuldigte sich sein Lehrer,„aber Deine zweite Frage…“Mike fing sich wieder.„Um diese als erste zu beantworten: Es ist wahrscheinlich besser, ihr ohne Waffe entgegenzutreten.“Ein hilfloser Blick von Jim.„Sie schießt nicht auf Unbewaffnete.“
„Und meine erste Frage, Sir?“
„Die könnte Dir nur einer beantworten,“antwortete Mike ehrlich,„mein alter Freund Gun.“
„Wer?“
„Gungadin Mayweather, ihr erster Deputy,“erklärte sein Lehrer.„Aber da müßtest Du bis zum Viehtrieb warten.“
„Nein, danke, Sir,“sagte Jim und drehte sich um.„Ich pack den Stier jetzt bei den Hörnern.“
Mike fiel auf, wie Jim das Wort „Kuh“ vermied, und sah ihm beim Hinausgehen nach. Gut, daß Marge ihre Mutter und ihre Schwiegermutter zu Hilfe hatte.
Mary-Rose stürmte ins Haus, grußlos an den anderen vorbei in ihr Zimmer. Die Tür krachte so hart, daß das Porzellan in den Schränken klapperte. Marge wollte ihr schon nachgehen, als ihr Schwiegervater sie zurückhielt.
„Vielleicht sollte da jemand 'rein, der etwas weniger Temperament hat als Ihr Drei,“meinte er mit einem bezeichnenden Blick auf die drei Frauen.
„Du verstehst das nicht,“erklärte ihm Marge.„Jim war nicht der Erste.“Sie erklärte ihm kurz die Geschichte mit Gun.
„Dann sollte ich erst recht gehen,“stellte Clement fest,„denn keine von Euch versteht die Männer wirklich.“
Nicken und betretenes Schweigen allerseits, als der alte Mann leise das Zimmer seiner Enkelin betrat.
Es vergingen zwei Stunden, in denen er nicht wieder auftauchte. Der Briefträger brachte die Post vom Pony-Express. Zwei Briefe, einer für Arthur, der andere für Mary-Rose … vom Gouverneur! Marge klopfte vorsichtig an, reichte wortlos den Brief hinein, zog sich wieder zurück.
„Was kann das sein?“fragte Mercedes.
Marge zuckte mit den Schultern:„Weiß ich auch nicht. Dienstpost darf ich nicht öffnen.“Sie zwang sich ein Lächeln ab.„Vielleicht braucht der Governor ja ihren Rat.“
„Oder Nachhilfe beim Pokern,“grinste Arthur.„Das letzte Mal hat sie ihm 100 $ abgenommen.“Ungläubiges Staunen bei den Großmüttern. David, der seine Enkelin mehrfach hatte Pokern sehen, wunderte sich dagegen weniger.
Zur gleichen Zeit kam Jim nach Hause, stürmte ebenfalls in sein Zimmer, zog sich um, stürmte wieder aus dem Haus, bestieg das Pferd, galoppierte in Richtung Stadtausgang und hinterließ zwei völlig ratlose Eltern.
Außerhalb der Stadt hielt er auf eine Stelle am Fluß zu, die gut durch ein Gebüsch verdeckt war. Hier konnte er vielleicht zur Ruhe kommen, nachdenken, Abstand gewinnen. Als er um das Gebüsch herumritt, sah er, daß dort leider schon jemand saß, ein junger Mann, der offensichtlich heute schon ein paar Stunden Ritt hinter sich hatte. Und dieser Andere hatte ihn bemerkt, machte auf dem Felsen etwas Platz. Jim entschied sich abzusteigen, setzte sich zu dem Fremden, der in etwa sein Alter haben mochte, schwieg eine Weile. Am Ende streckte er dem Anderen die Hand hin.
„Jim Whoolston,“stellte er sich vor.
Der andere ergriff die Hand:„Willard Styles.“