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Cow Hill

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Als Mary-Rose eine Woche später ihr Office betrat, lag die Post schon im Briefkasten. Sie nahm sie auf, fand einen Brief des Sheriffs von Cow Hill. Sie öffnete ihn. Er enthielt ein Amtshilfeersuchen. Mary-Rose seufzte. Nicht nur, daß Sheriff Styles offensichtlich nicht wußte, wer in Clearwater Sheriff war, er servierte ihr auch eine äußerst unangenehme Aufgabe. Aber es half nichts. Nach einem halben Jahr hatte man sich, wahrscheinlich auf Druck der Staatsanwaltschaft in Denver, zu einer Untersuchung entschlossen, und brachte damit allseits die Planung durcheinander. Der Sheriff gab eine telegraphische Antwort auf und machte sich auf den Weg zur Alder-Ranch.

„Du mußt waaas?“fragte Marge erschrocken.

„Ich muß Onkel Jack und Onkel Mike zusammen mit Kiko nach Cow Hill bringen,“antwortete Mary-Rose.„Sheriff Styles hat mir geschrieben. Man nennt das Amtshilfe.“

„Es ist mir egal, wie man das nennt,“wischte Marge die Worte ihrer Tochter vom Tisch.„Ich will nicht, daß Du mindestens zwei Wochen alleine in der Wildnis unterwegs bist!“

„Erstens bin ich nicht alleine,“erinnerte der Sheriff sie,„und zweitens werden wir die meiste Zeit in einer Stadt verbringen, nämlich in Cow Hill.“Kurze Pause.„Ist zwar keine Großstadt, aber Clearwater …“

Marge, die wußte, daß sie geschlagen war, gab noch nicht auf:„Warum können die beiden nicht alleine reiten?“

„Weil ich, der Sheriff, ein Leumundszeugnis ablegen muß,“erklärte ihr Mary-Rose zum gefühlten dritten Mal. Marge wandte einen hilfesuchenden Blick zu ihrem Mann.

„Läßt Du uns bitte kurz allein, Mary-Rose?“bat ihr Vater.

„Natürlich, Dad,“antwortete der Sheriff, suchte sich ein paar Dosen und ging nach draußen.

„Sie ist der Sheriff, Marge,“sagte Arthur nur, als sie draußen war.

„Ich weiß, Schatz,“lehnte Marge sich an ihn,„aber ich hab‘ trotzdem Angst. Ich weiß, daß sie ihre Pflicht tun muß, aber …“

„Du machst es ihr nicht leichter, wenn sie sich an Dir aufreiben muß.“

Marge dachte einen Moment nach.

„Du meinst, ich erhöhe die Gefahr, daß sie unkonzentriert ist, und irgendjemand sie erwischt?“Marge klang unsicher, wollte manches wohl auch nicht wahrhaben, mußte sich an den Gedanken erst gewöhnen. Arthur nickte nur. Marges Gesicht machte verschiedene Ausdrücke durch, bis es grimmig wurde. Arthur fragte sich noch, was jetzt wohl käme, als Marge ihm mit einem schnellen Griff den Colt aus dem Holster stibitzte und nach draußen ging. Arthur folgte ihr, sah, wie sie auf die Dosen anlegte und schoß. Vier von sechs beim ersten Versuch. Nicht schlecht, fand ihr Mann, und der Sheriff war offenbar der gleichen Meinung. Marge steckte den Revolver in ihre Schürze und umarmte ihre Tochter.

„Ich weiß, daß das alles schwierig ist für Dich,“sagte sie dann,„und ich mach‘ es nicht gerade einfacher.“Sie blickte ihrer Tochter in die Augen, sah wieder ihr kleines Mädchen, daß in diesem schon sehr erwachsenen Körper steckte.„Aber ich hab‘ eben Angst um Dich. Seitdem Du diese Schießeisen hast.“

„Das weiß ich doch, Mum,“antwortete die junge Frau mit dem Sheriffstern, die so aussah wie ihre Tochter.„Danke, daß Du mich trotzdem immer wieder gehen läßt.“

„Seltsames Kompliment für eine Mutter,“schmunzelte Marge.„Aber Du hast Recht.“Sie hob den Revolver.„Manchmal tut es gut, auf ein paar Dosen zu schießen.“

Mary-Rose lachte und nahm ihre Mutter mit ins Haus, um ihre Sachen zu packen.

Am nächsten Morgen bestieg Mary-Rose ihr Pferd, steckte das Gewehr ins Futteral und wollte nach einem Kuß ihrer Mutter und einem Händedruck ihres Vaters gerade losreiten, als ihr Bruder fürchterlich zu brüllen anfing. Sie kannte das. Es war Protestgebrüll. Sie nahm Aaron für kurze Zeit zu sich herauf. Er war sofort ruhig, brüllte aber wieder los, als er zu seiner Mutter sollte. Mutter und Vater sahen sich an, wollten die Entscheidung offenbar nicht treffen, aber nach drei weiteren Versuchen war klar: Aaron wollte seine Schwester nicht weglassen. Erstaunliche Leistung für drei Monate!

Marge und Arthur sahen sich wieder an. Arthur nickte nur, Marge seufzte und ging ins Haus. Einige Minuten später kam sie mit einem großen Rucksack und dem Schal wieder, mit dem Mary-Rose sich Aaron immer vor den Bauch band. Nachdem sie dann endlich reisefertig war, ritt der Sheriff los durch die Stadt in Richtung Alder-Ranch. Marge hörte sie noch sagen:„Nein, Aaron. Erst wenn wir die Stadt hinter uns haben, Du Vielfraß.“Marge sah Arthur an, lächelte unsicher. Wenn das nur gutging.

Als der Sheriff und Kiko an der Alder-Ranch ankamen, sah sie Jack und Mike schon reisefertig bei den Pferden, während Augusta und Valerie gerade in die Kutsche stiegen. Kein leichtes Unterfangen mit diesen Babybäuchen.

„Kommt der etwa mit?“fragte Jack und zeigte auf Aaron, der gerade mit dem Stern seiner Schwester spielte.

„Du nimmst Deinen Nachwuchs ja auch mit,“retournierte Mary-Rose.„Aaron wollte einfach mit seiner großen Schwester verreisen.“

„Na, dann los,“meinte Mike und stieg auf. Sein Bruder folgte ihm kopfschüttelnd, und die ganze Gesellschaft setzte sich in Bewegung.

Abends beobachtete Augusta, wie Mary-Rose sich um ihren Bruder kümmerte. Sollte Marge sich irgendwelche Sorgen gemacht haben, waren sie völlig unbegründet. Der Sheriff nahm ihren kleinen Bruder zu sich unter die Decke und schlief ein, während Augustas feine Ohren saugende Geräusche hörten. Sie tauschte einen Blick mit Valerie, die es ebenfalls gehört hatte.

„Schaffen wir das auch so gut?“fragte Valerie

„Du bist die Erfahrenere,“erinnerte sie Augusta.

„Ich hab‘ meine Tochter direkt nach der Geburt weggegeben,“erklärte Valerie.„Ich weiß vielleicht was über Schwangerschaften, aber nichts über Babys.“

„Sie ist uns also wieder 'mal über,“stellte Augusta fest.

„Mit vierzehn,“bestätigte Valerie halb verärgert, wickelte sich in ihre Decke und faßte ihr Gewehr fester. Augusta legte sich hin. Valerie hatte um die erste Wache gebeten.

Später weckte Valerie Mary-Rose, die sich hinsetzte, ihr Bruder weiter an ihrer Brust. Aaron zuckte nur kurz, schlief dann ruhig weiter, während der Sheriff in die Nacht hinaus horchte.

Am Mittag des zweiten Tages kam die kleine Gesellschaft in Cow Hill an. Sie begaben sich sofort zum Sheriff’s Office. Mary-Rose trat zunächst alleine ein. Drinnen saß ein Mann mit grauem Bart, der jetzt aufsah.

„Ja, bitte?“

Mary-Rose streckte ihre Hand hin:„Mary-Rose Robinson, Sheriff von Clearwater.“ Aaron hatte sie zum Glück bei Augusta gelassen.

„Jessup Styles,“stellte sich der andere vor, bemerkte jetzt erst den Stern seiner Kollegin.„Ich bin etwas überrascht,“gab er zu.

„Geht den meisten so,“grinste Mary-Rose und übergab ein Schreiben des Bürgermeisters. Styles las es und war beinahe überzeugt.

„Sie bringen die Gebrüder Alder?“fragte er.

„Warten draußen,“wies Mary-Rose mit dem Daumen zur Tür.

„Dann wollen wir 'mal,“nahm Styles seinen Hut und trat vor das Gefängnis.

Draußen waren die Formalitäten schnell geregelt. Die Alders und Kiko würden im Saloon wohnen, Mary-Rose bei ihrem Kollegen.

„Können gleich los,“entschuldigte sich Mary-Rose,„nur noch gerade ein Telegramm abschicken, Mum beruhigen.“

„Ach, so,“grinste Styles.

„Nicht nur für mich, auch für meinen Bruder.“Sie zeigte auf Aaron. Styles blickte entgeistert zu dem Baby, während Augusta lächelnd nickte. Als Mary-Rose zurückkam, nahm sie Aaron und folgte Styles nach Hause.

„Marsha, wir haben Besuch!“rief Jessup Styles von draußen, während Mary-Rose abstieg, ihr Gepäck vom Pferd nahm und mit Aaron zur Haustür strebte. Wie kam bloß ihre Mutter mit all dem zurecht?

Marsha Styles war unterdessen an die Türe gekommen, wollte ihren Gast begrüßen. Mary-Rose legte das Gepäck ab, reichte ihr die Hand und stellte sich vor. Die Hausherrin bemerkte den Stern, die beiden Revolver und das Nicken ihres Ehemannes, worauf sie den Sheriff von Clearwater auf das Herzlichste begrüßte.

„Sie und ihr Sohn müssen sehr müde sein,“sagte sie.

Mary-Rose lächelte:„Aaron ist mein kleiner Bruder. Wollte mich bloß nicht weglassen.“Sie blickte zu Jessup.„Deshalb auch das sofortige Telegramm. Für mich alleine hätte das auch noch bis heute Abend Zeit gehabt.“

„Verständlich,“meinte Marsha und führte ihren Gast in die Wohnstube, während Jessup kurz das Pferd absattelte und in den Stall stellte. In der Wohnstube blickte Aaron sich ersteinmal vorsichtig um, bevor er ein deutliches Signal gab. Mary-Rose setzte sich auf einen Sessel, knöpfte zu Marshas Entsetzen ihre Bluse auf und sagte:„Aaron Isambard Robinson, Du bist wirklich ein Vielfraß!“

Marsha Styles erkannte, daß der Sheriff von Clearwater etwas hemdsärmelig gestrickt war. Nun, ja. Bisher hatte das auf alle Sheriffs, die hier zu Gast gewesen waren, so mehr oder weniger zugetroffen, und Miss Robinson versteckte den Kopf ihres Bruders immerhin schicklich unter ihrem Mantel.

Jessup setzte sich zu seinem Gast, beobachtete nur, grinste schief.

„Verzeihen Sie, aber eine Kollegin ist mit noch nie vorgekommen,“entschuldigte er sein Interesse.

„Bin auch,“nahm Mary-Rose die Entschuldigung an,„soweit ich weiß, die einzige im Westen.“

„Wie sind Sie Sheriff geworden?“fragte Jessup.„Clearwater hat ja lange keinen gewählt.“

„Keinen wählen können,“korrigierte Mary-Rose.

„Warum?“

„Durch die Mine waren die Interessen dermaßen gegensätzlich, daß es keinen konsensfähigen Kandidaten gab,“erklärte sie,„und ich mit zwölf einen Mann erschießen mußte, der einem Mädchen Gewalt antat und sie töten wollte.“

„Huch,“schreckte Marsha in der Küche auf,„mit zwölf Jahren? Armes Kind.“

„Halb so wild,“grinste Mary-Rose und erzählte den Rest der Geschichte, nicht ohne zuweilen von ihren Zuhörern durch Zwischenrufe unterbrochen zu werden.

„Jetzt weiß ich, warum Ihre Mutter Ihnen Aaron so ohne weiteres mitgibt,“meinte Marsha zum Schluß.

„Und ich weiß, warum Jack Alder mich beim ersten Mal nicht sofort erkannt hat,“lachte Jessup und erzählte nun seinerseits die Geschichte vom Viehtrieb. Mary-Rose lachte laut.

„Der Mensch ist doch ein Gewohnheitstier.“

„Wahrscheinlich,“grinste Jessup, als Marsha dann zum Essen rief. Mary-Rose legte Aaron, der jetzt endlich satt war, auf ein paar mitgebrachte Decken zum Schlafen und ging zu Tisch.

Am Eßtisch wurde weitergeredet. Die Sheriffs erzählten sich gegenseitig die vergangenen Erlebnisse, und Willard, der siebzehnjährige Sohn der Styles, hing Mary-Rose an den Lippen, stellte ab und zu schüchtern eine Frage. Gegen Ende der Mahlzeit gab er sich einen Ruck.

„Sheriff Robinson?“fragte er.

„Ja?“antwortete Mary-Rose.

„Wir haben heute Abend einen Ball im Saloon,“begann er verlegen,„und ich dachte, Sie hätten vielleicht Lust mit mir dorthin zu gehen.“

Mary-Rose hörte aus dieser Frage mehrere Untertöne heraus, aber …

„Willard,“wies ihn seine Mutter zurecht,„der Sheriff ist gerade erst angekommen und hat sich um ein Baby zu kümmern.“

„Ich würde sie sehr gern begleiten, Mr. Styles,“rettete ihn Mary-Rose,„wenn ich vorher ein heißes Bad nehmen kann. Die nötige Kleidung habe ich dabei.“

„Wird sofort bereitet,“meinte Willard, sprang auf und rannte los. Marsha seufzte.

„Und wer kümmert sich um Aaron?“fragte sie.„Wir wollen nämlich auch zum Ball.“

„Wir könnten Jessica fragen,“regte Jessup an.„Sie ist unsere Tochter und kann wegen ihrem Baby dieses Jahr sowieso nicht zum Ball.“

„Wir packen die Kinder in Wiegen ins Nebenzimmer,“grinste Mary-Rose.„Aaron hört man immer.“

Marsha nickte:„Dann könnte auch Jessica gehen.“

„Aaron muß nur satt sein,“erklärte Mary-Rose.

Willard steckte den Kopf durch die Tür.

„Der Ofen heizt schon,“verkündete er.„Baden in einer halben Stunde.“

„Gerettet,“atmete Mary-Rose auf, und Jessup lachte.

„Während der Sheriff badet, sagst Du Deiner Schwester Bescheid, daß sie zum Ball kann,“wies er seinen Sohn an.„Wir haben eine Lösung.“Willard wollte schon wieder verschwinden.„Ach, und dann gehst Du zum Saloon. Sie sollen im Nebenzimmer ein oder zwei Kinderbetten aufstellen.“

„Klar, Dad,“antwortet Willard und war verschwunden.

Mary-Rose packte ihre Sachen ins Gästezimmer, legte alles bereit. Dann klopfte Willard und verkündete, das Bad sei bereitet. Mary-Rose ging zur Wanne, ließ sich hinein gleiten und entspannte ersteinmal.

Später hörte sie Aaron kurz weinen, dann war er wieder ruhig, spielte vielleicht mit Jessups Stern.

Als Mary-Rose nach dem Bad mit frischen Sachen wieder ins Wohnzimmer kam, hing Aaron an der Brust einer jungen Frau.

„Jessica Smith,“stellte die sich vor.

„Mary-Rose Robinson,“antwortete Mary-Rose und runzelte die Stirn.„Aaron! Nicht genug, daß Du den Sheriff und die Mutter des Sheriffs leersäufst, jetzt leerst Du auch noch die Tochter vom Sheriff!“Jessup lachte, während Aaron völlig unbeeindruckt weitertrank.

„Ich hab‘ eh zuviel Milch, Sheriff,“meinte Jessica.„Es macht wirklich nichts.“

„Dann laß ich Dir’s heute 'mal durchgehen,“polterte Mary-Rose scherzhaft weiter und plauderte danach mit Jessica.

Jessup hörte dem Gespräch der beiden jungen Frauen, denn trotz ihres jugendlichen Alters mußte man den Sheriff von Clearwater dazu rechnen, zu und wunderte sich immer wieder.

„Was sucht Aaron eigentlich?“fragte Jessica, als der Kleine immer wieder auf ihre linke Brust patschte.

„Meinen Stern,“lachte Mary-Rose.„Gutes Futter und Spielzeug auf einmal. Dagegen kommt Mum nicht an.“

Jessup steckte seiner Tochter seinen Stern an. Sofort fing Aaron an, damit zu spielen.

„Da soll mich doch…,“lachte Jessup.„Der Junge hat Glück, so eine Schwester zu haben.“Er lehnte sich zurück.„Ist das Ihr erster längerer Ritt?“

„Was hat mich verraten?“fragte Mary-Rose und fühlte sich ertappt.

„Ihr Gang vor und nach dem Bad,“grinste ihr Kollege.

„Bin, ehrlich gesagt überhaupt zum ersten Mal von Zuhause weg,“gestand Mary-Rose.„Danke für den Brief.“

„Endlich Mum entkommen,“lachte Jessica.

„Sagte doch, daß ich eine ganz normale junge Frau bin,“setzte Mary-Rose noch einen drauf, erhob sich dann unter dem Gelächter der anderen.„Ich mach‘ mich jetzt besser fertig.“

„Ich auch,“sagte Jessica und legte Aaron wieder auf seine Decken. Der schlief sofort ein.

„Könntest Du ihn nachher mitnehmen?“fragte Mary-Rose.„Ich möchte für Deinen Bruder 'ne gute Figur machen.“

Jessica lachte wieder und nickte, während Mary-Rose schon ihrem Zimmer zustrebte.

Abends im Saloon legte Jessica Aaron und ihre Tochter Belle zusammen in ein Kinderbettchen. Beide schliefen tief und fest, nachdem sie die Windeln gewechselt hatte. Aaron, fand sie, war zwar ein hungriges aber ansonsten absolut pflegeleichtes Baby. Sie begab sich nach vorne in den Saal.

Dort standen schon die jungen Burschen mit ihren Mädchen herum, lästerten lauthals, auch über …

„Willard hat 'mal wieder keine Begleitung,“meinte einer der Jungen.

„Wer will mit Willard?“lachte ein Mädchen, objektiv die Schönste in der Runde. Die anderen lachten hämisch. Jessica tat, als hätte sie nichts gehört.

„Nicht 'mal Marcy Roberts,“lachte ein anderer Junge. Marcy war verkrümmt und trug eine dicke Brille. Sie war sehr schlau, las viel, konnte aber nur sehr angestrengt sprechen. Jessica hätte diesen Kerlen schon um ihretwegen am Liebsten eine heruntergehauen.

Ihre Eltern traten ein, traten sofort zur Seite, denn hinter ihnen kamen Mary-Rose und Willard. Das Gespött verstummte abrupt. Jeder der Jungs sah verstohlen seine Begleitung an, verglich sie mit dem Sheriff von Clearwater. Willard bemerkte das und reckte sich noch zwei Zoll höher auf. Mary-Rose hatte das Wort „Ball“ wörtlich genommen, auch wenn man hier in Cow Hill mit Sicherheit Abstriche machen mußte. Jessica wußte, ihr eigener Vater hätte sie in dem Alter nicht so ausgehen lassen.

„Na, Mädels, hat sie’s geschafft?“fragte Jack seine Frau und seine Schwägerin. Beide nickten nur stumm. Selbst hatten sie sich zurückgehalten, wegen der Babybäuche.

„Sie hat dem Jungen gehörig Prestige verschafft,“stellte Valerie fest.

„Wetten, daß sie wieder führt?“fragte Mike.

„Abgelehnt wegen zu geringer Gegenwahrscheinlichkeit,“lachte Augusta. Mike war der geborene Spieler und Juggler. Daß er seine Gewinnchancen zu optimieren versuchte, war nur verständlich, aber … wenigstens war er der beste Pferdeverkäufer, den man sich vorstellen konnte.

Später sahen Mary-Rose und Jessica noch einmal kurz nach den Säuglingen und stellten verblüfft fest, daß diese nicht nur wach waren, sondern auch durch gegenseitiges Betatschen miteinander spielten. Die Frauen zogen sich leise zurück. Der Abend war gerettet.

Mary-Rose setzte sich in den Zeugenstand, nachdem sie als Zeugin vereidigt worden war. Der Staatsanwalt, extra aus Denver angereist, kam auf sie zu.

„Sheriff Robinson.“Den Titel auf die junge Frau anzuwenden, machte ihm offensichtlich Schwierigkeiten.„Sie wissen, warum Sie hier vorgeladen wurden?“

„Ich soll ein Leumundszeugnis über die Verdächtigen ablegen,“antwortete Mary-Rose.

„Richtig,“bestätigte der Staatsanwalt.„Sind Ihnen im Rahmen ihrer Tätigkeit Steckbriefe gegen Jack und Mike Alder bekannt geworden.“

„Ja,“anwortete der Sheriff.

„Wie viele?“

„Einer gegen Jack und zwei gegen Mike Alder.“

„In welchen Angelegenheiten?“

„Der gegen Jack Alder wegen Verdacht auf Mord,“wog Mary-Rose ihre Worte, um neutral und damit zuverlässig zu erscheinen,„und die gegen Mike Alder wegen Betruges und versuchten Mordes.“

„Keine weiteren Fragen, Euer Ehren,“verkündete der Staatsanwalt und zog sich hinter seinen Tisch zurück. Der Verteidiger betrat wieder die Szene.

„Was kam bei den Ermittlungen bezüglich dieser Steckbriefe heraus?“fragte er.

„Die Anschuldigungen erwiesen sich als haltlos.“

„Alle?“

„Samt und sonders,“bekräftigte Mary-Rose.

„Welche Funtionen erfüllen die Alder-Brüder sonst noch in Clearwater?“

„Öffentliche Funktionen?“

„Genau.“

„Sie sind Mitglieder des Stadtrates,“erklärte Mary-Rose,„und Lehrer für alte Sprachen an unserer Schule.“

„Die Schule von Clearwater ist ja weithin bekannt, Miss Robinson,“leitete der Verteidiger seine nächste Frage ein.„Auf wessen Initiative geht sie zurück?“

„Auf die Initiative von Mr. Jack Alder.“Raunen im Saal.

„Entwickelt Mr. Alder noch weitere Aktivitäten in dieser Richtung?“

„Soweit mir bekannt ist, plant er die Errichtung einer Universität.“

„Einer Universität?“spottete der Staatsanwalt.„In Clearwater?“

Unter gewöhnlichen Umständen wären Jack und Mike wohl mit dem Staatsanwalt kurz vor die Tür gegangen, um die Sache zu klären. Hier beherrschten sie sich gerade so.

„Sie wird auch den Kindern von Staatsanwälten offenstehen,“meinte Jack auf Latein.

„Bist Du Dir sicher?“fragte Mike auf Griechisch.

„Nicht streiten, Jungs,“erinnerte der Sheriff auf Hebräisch. Der Staatsanwalt hatte schon bei Mikes Antwort den Faden verloren und sah dementsprechend drein.

„Stimmt es nicht, daß Sie gelegentlich Streit zwischen den Brüdern schlichten mußten, Sheriff?“fragte er deshalb.

„Das ist allerdings war,“antwortete Mary-Rose.

„Sogar einmal eine Schlägerei im Saloon beenden?“

„Leider ja.“Die Antwort war Mary-Rose unangenehm, aber Wahrheit gehörte nun 'mal zum Job.

„Auch nach ihrer Berufung zu Lehrern?“

„Berufung kann man das eigentlich nicht nennen,“sinnierte Mary-Rose,„eher Buße.“

„Beantworten Sie bitte meine Frage!“

„Natürlich, Sir. Verzeihung. Ja, auch das stimmt.“

„Sie sprachen eben von Buße, Sheriff,“hakte der Verteidiger ein.„Wie meinen Sie das?“

„Nun,“antwortete Mary-Rose,„das Können von Jack Alder in den alten Sprachen ist so groß, daß er die Kandidaten auf die Lehrerstellen prüfen sollte. Leider fielen alle durch den Raster. Also mußten er und sein Bruder 'ran, und weil Feodora Alder, die Rektorin, ihre Schwägerin Augusta als Lehrerin akzeptieren mußte, kam auch noch Hebräisch auf den Lehrplan.“

„Und das …?“

„Das erboste Mike Alder so, daß er seinem Bruder eine Abreibung verpassen wollte,“grinste Mary-Rose,„aber bei mir wird sich außerhalb der Stadt geprügelt.“

Gelächter im Saal, am lautesten von Jessup Styles.

„Sie sagten eben, daß Feodora Alder ihre Schwägerin akzeptieren mußte,“fragte der Staatsanwalt.„Warum ‚mußte‘?“

„Weil Augusta Alder eine etwas pikante Vergangenheit hat,“antwortete der Sheriff.

„Der Sheriff ist zu freundlich,“ließ sich Augusta vernehmen.„Ich war Prostituierte, bevor ich Mr. Alder geheiratet habe.“

Raunen im Saal.

„Richtig,“lächelte Mary-Rose entwaffnend.

„Und was macht Mrs. Alder jetzt?“konterte der Verteidiger.

„Sie rettet Ehen,“gab Mary-Rose Auskunft,„und verdirbt ihren ehemaligen Kolleginnen das Geschäft. Macht meinen Job leichter.“

„Inwiefern leichter?“

„Neunzig Prozent der Probleme im Saloon werden von Ehemännern angezettelt, deren lieblose Frauen sie aus dem Haus und dorthin treiben,“antwortete Mary-Rose.„Ich führe Buch und kann diese Statistik belegen. Ich denke, auch mein hiesiger Kollege hat ähnliche Erfahrungen gemacht.“

„Stimmt das, Sheriff Styles?“fragte der Verteidiger.

„Ganz offen gesagt,“antwortete Jessup, wobei er damit Probleme hatte,„habe ich darüber nicht Buch geführt, aber die Mehrzahl der Fälle ergeben sich wohl aus diesem Grund.“

Das Raunen im Saal wurde immer stärker. Protestgemurmel kam auf. Mary-Rose sah die Protestführerinnen genau an und sich in ihren Ansichten bestätigt.

„Und Mrs. Augusta Alder hat sich dieser Probleme angenommen?“fragte der Verteidiger.

„Und führt die Ehepartner in der Mehrzahl der Fälle wieder zusammen,“bestätigte Mary-Rose.

„Stimmt es, daß Mr. Mike Alder in Clearwater eine Pokerrunde unterhält?“fragte der Staatsanwalt.

„Und Reverend Arthur Morton Robinson nimmt bloß nicht an ihr teil, weil er seiner Tochter nicht den Spaß verderben möchte,“nickte Mary-Rose.„Es treffen sich meistens die Honoratioren der Stadt.“

Der Saal lachte. Offensichtlich war es auch für einen Staatsanwalt nicht gut, einem Sheriff auf die Zehen zu treten.

Nach ein paar weiteren belanglosen Fragen wurde Mary-Rose aus dem Zeugenstand entlassen. Kiko kam an die Reihe, aber bei ihr verlief die Befragung kurz und schmerzlos, konzentrierte sich auf ihre Taten und die Ereignisse jener Nacht.

Am Ende kam heraus, daß es keine Anklage geben würde. Mary-Rose ging zum Telegraphenamt und dann in ihr Quartier, um ihre und Aarons Sachen für den nächsten Morgen zu packen.

Am nächsten Morgen bestieg Mary-Rose ihr Pferd und band sich Aaron vor den Bauch. Nach einem kurzen Abschied ritt sie davon. Willard blickte ihr lange nach.

„Sie wäre eh nichts für Dich,“erklärte ihm sein Vater.

„Ich weiß, Dad,“antwortete Willard genervt, zeigte zum ersten Mal so etwas wie Selbstbewußtsein,„aber was für eine Frau!“

„Da stimme ich Dir zu.“

„Ich möchte nach Clearwater an die Schule, Dad,“sagte Willard jetzt unvermittelt.

„Warum?“fragte Jessup, den dieser Wunsch kalt erwischte.

„Weil ich eigentlich kein Mann für den Westen bin,“sinnierte Willard,„eher für die Gelehrtenstube.“

„Komisch,“grinste Jessup.„Genau das meinte sie auch.“Er wies mit dem Kopf in Richtung Mary-Rose.„Hol‘ meinen alten Revolver aus dem Schrank.“

„Warum, Dad?“fragte Willard verständnislos.

„Weil ich Dich nicht wegreiten lasse, ohne, daß Du mit dem Ding umgehen kannst,“grinste sein Vater. Statt einer Antwort stürmte Willard ins Haus. Jessup war das Antwort genug.

Nacht in den Bergen Colorados. Mary-Rose hatte die Wache. Kiko saß bei ihr, hatte gebeten, mit ihr wachen zu dürfen, obwohl sie hier jeder auch alleine hätte wachen lassen.

„Darf ich Euch eine Frage stellen?“fragte die Japanerin jetzt sehr respektvoll und leise.„Eine persönliche Frage.“

„Sicher,“lächelte Mary-Rose.„Nur erwarte nicht auf jede Frage eine Antwort.“

„Ich hoffe, Ihr könnt mir helfen,“gestand Kiko nun.„Wie werdet Ihr damit fertig?“

„Womit?“

„Mit den beiden Männern, die Ihr …“

„Ach, so,“verstand Mary-Rose.„Du must immer daran denken, wie?“

Die Elfjährige nickte:„Ich weiß, es ist beschämend für eine Samurai, aber …“

„Es wäre nur beschämend, wenn Du menschliches Leben als so nichtswertig abtun würdest, daß Du keine Gewissensbisse hättest,“erklärte ihr der Sheriff leise aber bestimmt.„Auch eine Samurai darf nicht wahllos Blut vergießen. Sonst kommt das Land in Unordnung.“

„Das ist wahr,“erinnerte Kiko sich an die Lehren ihres Vaters.

„Auch ich muß häufig daran denken,“gestand Mary-Rose.„Ich weiß, ich habe alles richtig gemacht, aber es bleibt immer ein fader Nachgeschmack.“Sie blickte Kiko direkt an.„Deshalb lerne ich bei Deinem Vater die Kunst des waffenlosen Kampfes.“

„Wird die Erinnerung irgendwann schwächer?“

„Mit der Zeit verblaßt sie, und Du denkst nicht mehr so häufig daran,“erklärte der Sheriff.„Aber das Wichtigste ist, daß Du nicht feige vor Deiner Verantwortung wegrennst. Du stellst Dich ihr wie eine Samurai. Das beweist Deine Frage.“

„Wirklich?“fragte das Mädchen und strahlte etwas.

„Das perfekte Wohlbefinden gibt es nicht,“fuhr der Sheriff fort,„aber wenn Du Dich den Problemen stellst, verschwinden sie häufig, und der Rest ist nicht mehr so schwierig.“

„Ich werde das beherzigen, Sheriff-san,“antwortete die Elfjährige.„Erlaubt Ihr, daß ich mich schlafen lege.“

Mary-Rose nickte nur, und Kiko legte sich hin, deckte sich zu und war Sekunden später eingeschlafen.

Jack Alder, der sich nur schlafend gestellt hatte, lächelte.‚Hatte doch den richtigen Riecher,‘dachte er.‚Gut gemacht, Sheriff!‘Dann schlief auch er ein.

Clearwater

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