Читать книгу Clearwater - Philipp Langenbach - Страница 6
Der Sheriff und die Hure
Оглавление„Royal Flush,“grinste Jack Alder, legte seine Karten auf den Tisch von Barney’s Saloon und strich den Einsatz ein.
„Das kann doch nicht sein!“ereiferte sich einer der Mitspieler, ein Durchreisender, der bis jetzt nur verloren hatte. Plötzlich hatte er eine Waffe in der Hand.„Soviel Glück ist unnatürlich,“zischte er,„also her mit meinem Geld.“
Die anderen hatten ihre Waffen wie er vor dem Spiel auf den Tisch gelegt. Bisher war es eine nette Runde gewesen. Jetzt waren alle überrascht.
„An Deiner Stelle würde ich die Waffe 'runternehmen,“die Tonlage des Sprechers stand in seltsamem Kontrast zu diesen Worten, und der Fremde drehte den Kopf. Da stand ein junges Mädchen, ach was, ein halbes Kind mit zwei schweren Colts. Einen hatte es gezogen.
„Ist der überhaupt geladen,“lächelte er. Das Ganze war mehr als absurd.
„Ja,“antwortete die Kleine,„und Du wärst nicht der Erste.“Alle Umstehenden nickten ernst, und ihr Ton wurde schärfer:„Also 'runter mit der Waffe!“
Der Fremde lachte laut auf, kam aber nur bis zum dritten „Ha!“, als die Kleine schoß, und sein Revolver in seine Einzelteile zerfiel. Jetzt nahm er die Hände hoch.
„Da bin ich ja gerade nochmal recht gekommen,“meinte das Mädchen.„Onkel Jack, Onkel Mike, steckt Ihr ihn ins Loch?“
„Aber sicher,“grinsten Jack und Mike Alder, nahmen den sauberen Herrn in die Mitte und führten ihn aus dem Saloon.
„Du hättest ihn umhauen können,“meinte Mike Alder draußen.„Er war abgelenkt.“
„Und Mary-Rose den Spaß verderben?“fragte Jack zurück.
„Auch wieder wahr,“grinste sein Bruder.
Drinnen ging Mary-Rose zum Tresen und meinte:„Manchmal hat Durst auch sein Gutes. Tschuldigung wegen dem Loch in der Decke, Onkel Barney.“
Der Wirt lächelte:„Es ist nicht das Erste. Eine Limonade? Geht aufs Haus.“
„Ja, gerne,“lächelte Mary-Rose zurück und genoß es sichtlich, auf diese Weise einmal den Saloon von innen zu sehen. Einem der Mädchen schien das aber wohl unpassend, auch weil sie gerade mit einem älteren Mann zugange war, und sie ging auf Mary-Rose zu und sagte freundlich:„Kind, das ist hier kein Ort für Dich. Onkel Barney hat sicher nichts dagegen, wenn Du das Glas mit nach draußen nimmst.“
Mary-Rose drehte sich um, zeigte auf die Brust der anderen, und sagte lächelnd:„Und weil Du da schon mehr hast als ich, ist das hier ein Ort für Dich? Wenn Du da …“Sie zeigte auf den Kopf.“ … mehr hättest, würde ich vielleicht auf Dich hören.“Sie zeigte wieder auf die Brust.„Und wenn Du das richtig eingesetzt hättest, hätte meine Freundin Myrna vielleicht nicht so leiden müssen.“Sie überlegte kurz.„Und ich hätte keine Colts.“Ihre Stimme wurde beißend scharf:„Und jetzt zurück zu Deinem Kunden, bevor noch ein Unglück passiert.“
Die ‚Dame‘ stöckelte zurück zu dem Herren. Sie war schon verbal geschlagen, und mit zwei Colts diskutierte man sowieso nicht.
Mary-Rose trank ihre Limonade und ging.
„Also Deine Sprache war eben nicht gerade fein,“tönte es draußen von der Seite. Tante Ethel! Mary-Rose blickte beschämt zu Boden.„Aber in der Sache hast Du absolut Recht!“Mary-Rose konnte wieder aufblicken.
„Patroulier weiter,“grinste Tante Ethel.„Ich rede mit Deinen Eltern.“
Robinson stöhnte. Die Farmen rings um Clearwater zu besuchen, war ein Knochenjob. Den ganzen Tag im Sattel, mehrere Gallonen Kaffee und jede Menge Kuchen. Die nächsten Tage war wohl biblisches Fasten angesagt. Andererseits sah er so manches ältere Gemeindeglied sonst garnicht. Sie schafften den Weg zur Kirche einfach nicht mehr. Zum Glück lag jetzt nur noch die Alder-Ranch vor ihm. Dort gab es zwar kein altes Gemeindeglied, aber sie lag sowieso auf dem Weg und Doug Alder brannte einen vorzüglichen Single-Malt. Der half dem Magen.
Schon von weitem konnte er die Pferde in der Fence sehen. Jetzt – Ende November – waren es nur wenige. Robinson zog seinen Mantel enger. Hier oben in den Bergen Colorados pfiff der Wind jetzt schon ziemlich kalt. Bald würde es schneien.
Als er vor dem Haus abstieg, hörte er drinnen schon das Gelächter der vier Brüder. Er klopfte an und trat ein. Jack Alder kam ihm lachend entgegen und nahm ihm den Mantel ab.
„Ave, Pastor,“grüßte er.„Wir, die wir gerettet wurden, preisen den, der unsere Retterin zeugte.“Jack hatte von seiner Mutter eine sehr solide Bildung genossen, sich aber dann viele Jahre herumgetrieben, bis er nach ihrem Tod wieder nach Hause gekommen war. Die anderen standen ihm in Nichts nach, hatten sich aus Bettlaken römische Togen improvisiert, um den Pastor zu begrüßen. Leider hatte nur Ron, der jüngste, mehr aus seiner Bildung gemacht. Aber der Anblick dieser vier handfesten Gestalten in römischen Togen mit Fenchelkränzen um den Kopf, brachte Robinson zum Lachen. Er ließ sich ebenfalls eine Toga anlegen, griff sich ein Glas, und Doug schenkte ihm ein.
„Du wärst nicht der erste,“quiekte Mike, und alle lachten.
„Was war denn los?“fragte Robinson.
Jack erzählte ihm die Geschichte, bis er begriff, warum die anderen so laut lachten. Am Ende lachte er mit, und die Brüder tranken mehrmals auf sein Heil.
„Aber,“fragte der Pastor,„warum hast Du ihn nicht umgehauen, als er abgelenkt war?“
„Und Deiner Tochter den Spaß verderben?“lachte Jack Alder zurück.„Sie hat es genossen, sage ich Dir.“Dann wurde er kurz ernst.„Außerdem hätte er dabei abdrücken können. Wer weiß, wo die Kugel hingegangen wäre?“
Robinson nickte. Bei seiner Tochter konnte man sich da sicher sein.
„Und wir lassen Dich nicht weg,“setzte Mike hinzu,„bevor Du uns versprochen hast, Mary-Rose angemessen zu belohnen.“
Robinson rollte mit den Augen. Das konnte ein langer Abend werden.
„Sie hat waas?“Marge Robinson machte große Augen.
„Sie hat in Barney’s Saloon einen Mann verhaftet,“grinste Ethel.„Du hättest es sehen sollen! Jack und Mike Alder mit erhobenen Armen, und Mary-Rose schießt dem Kerl den Colt aus der Hand.“Ein neuer Lachanfall schüttelte ihren alten Körper.„Und das dumme Gesicht dieses Menschen, als Deine Tochter dann wirklich geschossen hat.“Sie lachte weiter.„Aber das Beste war, als sie sagte, er würde nicht der Erste gewesen sein, haben alle anderen ganz ernst mit erhobenen Händen genickt.“
„Ethel!“wies Marge sie zurecht.„Es scheint ja beinahe so, als würdest Du das gutheißen.“
„Irgendeiner muß es ja machen,“wurde Ethel ernst,„und ich bin zu alt.“
„Sie ist erst Zwölf.“Marge’s Stimme zitterte vor Angst. Ethel umarmte sie.
„Ich weiß, daß Du Angst hast,“sagte sie der zitternden Mutter,„aber Du solltest Deine Tochter nicht tadeln, wenn Sie alles richtig macht. Vielleicht wird sie eine Revolverheldin, aber darauf hast Du noch immer einen entscheidenden Einfluß“
Marge blickte auf.
„Stärke das Positive, Marge!“
„Vielleicht hast Du Recht,“versuchte Marge eine positive Aussage,„aber Mary-Rose im Saloon? Ich weiß nicht.“
„Sie hat sich tadellos benommen, nur ihre Sprache war am Ende vielleicht etwas zu deutlich.“
Marge sah Ethel fragend an, und die erzählte ihr nun auch von der letzten Szene im Saloon.
„Oh, mein Gott!“zu mehr war Marge nicht fähig.
Ethel blickte ernst drein:„Deine Tochter weiß mehr, als für ihr Alter gut ist.“Sie seufzte.„Aber daran läßt sich nun einmal nichts mehr ändern.“
Marge blickte zu Boden.
„Marge,“beschwor sie Ethel,„sie braucht Dich jetzt mehr als sonst. Sie braucht ihre Mutter, und zwar,“Ethels Ton wurde deutlich,„als erwachsene Frau und Ratgeberin.“
Marge blickte sie fragend an.
„Sie ist innerlich leider kein Kind mehr.“
Mittlerweile war die Sonne untergegangen. Um ihren Mann machte Marge sich keine Sorgen, aber Mary-Rose…. Sie rief sich zur Ordnung. Mary-Rose hatte bewiesen, daß sie auf sich aufpassen konnte. Trotzdem …
„Sie wird sicherlich gleich kommen,“meinte Ethel.„Schüsse in der Stadt würde man hören.“
„Ich weiß,“lächelte Marge tapfer und servierte Ethel noch einen Kaffee.
„Du willst wohl, daß ich heute Nacht nicht schlafe,“neckte Ethel sie und nippte an der Tasse.
Plötzlich ging die Tür.
„Mum?“
Mary-Rose! Endlich! Sie kam in die Wohnstube.
„Tut mir leid, daß ich so spät bin. War noch bei Myrna,“entschuldigte sie sich.
„Wolltest Tante Ethel wohl Zeit verschaffen, mich gnädig zu stimmen,“meinte Marge streng, und der Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Tochter gab ihr Recht. Sie umarmte Mary-Rose:„Du brauchst Dich nicht zu entschuldigen. Nie mehr!“
Mary-Rose strahlte. Marge sah wieder das zwölfjährige Mädchen.
„Aber wenn Du die Schule vernachlässigst, lernst Du mich kennen,“verkündete sie streng.
„Und mich auch,“schloß Ethel sich an. Marge fragte sich, was die schlimmere Drohung war.
Mary-Rose holte sich das Waffenöl, schützte Tisch und Decke mit alten Lederlappen und begann, ihre Colts zu reinigen. Dabei beteiligte sie sich bescheiden am Gespräch der Älteren.
‚Wir könnten hier genauso gut stricken,‘dachte Marge,‚so normal kommt mir das mittlerweile vor.‘
Irgendwann kam ihr Mann leicht angeheitert nach Hause, und Ethel machte sich auf den Weg. Mary-Rose putzte noch den Colt ihres Vaters, eigentlich völlig überflüssig, aber wo sie schon einmal dabei war. Dann ging sie ins Bett. Eine halbe Stunde später konnte Marge es sich nicht verkneifen, doch noch einmal nach ihr zu sehen. Ihr leises Klopfen blieb ohne Antwort, und als sie eintrat, schlief Mary-Rose mit Rufus im Arm, und die Colts hingen in den Holstern am Kleiderständer. Marge atmete tief durch, schloß die Tür und ging ins Schlafzimmer.
Joseph Adams entzifferte mühsam die Buchstaben auf dem Schild.„Clearwater,“las er langsam und blickte seine Schwestern an. Beide nickten. Arbeit war hier mit Sicherheit zu finden.
Ein Indianer zu Pferd näherte sich ihnen, hielt sein Tier an und sagte:„Ich grüße meinen Bruder und meine Schwestern. Woher kommen sie?“
„Wir grüßen unseren roten Bruder. Wir kommen ursprünglich von Charleston, jetzt aber von Denver hier herauf,“antwortete Adams.
„Zu Fuß?“fragte der Rote erstaunt.
„Wenn mein Bruder ein paar Pferde zuviel hat, nehmen wir sie gerne,“grinste Adams schief.
Der Indianer lächelte leicht:„Langes Ohr hat nur ein Pferd, sein eigenes. Aber der Gemischtwarenhändler sucht Hilfe. Und er zahlt gut.“
„Joe Adams ist mein Name,“sagte Adams und streckte die Hand hin, die Langes Ohr ergriff,„und das sind meine Schwestern Marcy und Miriam.“
Langes Ohr stieg ab, nahm seine Pfeife vom Hals und sagte nur:„Laßt uns das Kalumet rauchen.“
Adams war überrascht, setzte sich aber und tat die vorgeschriebenen Züge. Danach verabschiedete Langes Ohr sich, und die drei Reisenden machten sich auf den Weg in die Stadt. Unterwegs wurden sie von jedem freundlich gegrüßt, und als sie zum Gemischtwarenladen kamen, ließ man sie ohne Probleme durch.
„Verzeihen Sie,“sprach er den Inhaber an,„mir wurde gesagt, sie suchen eine Hilfe.“
„Sicher,“lächelte der.„Können sie lesen und schreiben?“
„Nicht gut,“grinste Adams schief.
„Nun, das lernt sich schnell,“meinte der andere und schaute über die Ränder seiner Brille.„Ich kann ja schlecht im Krieg die blaue Uniform tragen und dann im Frieden meine Ideale vergessen.“Er streckte die Hand aus:„Gregory Grand.“
„Joseph Adams,“kam die Antwort,„und meine Schwestern Marcy und Miriam.“
„Sie können erstmal im Gartenhaus wohnen,“meinte Grand,„bis Sie was Passendes finden.“
„Danke,“sagte Marcy.
Später am Abend, als die drei Geschwister im Gartenhaus saßen und aßen, meinte Miriam:„Besser als die Baumwollfelder ist es allemal.“
„Seltsame Stadt,“stimmte ihr Bruder zu.
„Die Bildung in dieser Stadt läßt immernoch zu wünschen übrig, Miss Blake.“
Feodora Blake lächelte freundlich und nippte an ihrer Teetasse.
Jack Alder fuhr fort:„Noch immer kann ein großer Teil der Leute weder lesen noch schreiben.“
„Da haben Sie Recht, Jack,“warf Sir Waldo ein,„aber ich sehe nicht, wie sie das ändern wollen.“
„Unterricht,“platzte Alder heraus,„auch für die Erwachsenen und die Roten. Mehr Lehrpersonal, wenn nötig. Leisten können wir uns das!“
„Eine mehrklassige Schule! Endlich fundierter Unterricht!“schwärmte Feodora.
„Gut wäre das,“stimmte Robinson zu.
„Eben,“grinste Alder.
Feodora blickte in die Runde. Sir Waldo saß entspannt in seinem Sessel, die Pfeife im Mund.‚Genauso würde er wahrscheinlich auf seinem englischen Landsitz residieren,‘dachte sie. Der Pastor saß in einem zweiten Sessel, die Hände über dem Bauch gefaltet. Ihr selbst hatte man den Schaukelstuhl überlassen, und Alder saß breitbeinig auf dem Sofa. Mit seiner Lederweste, den beiden Revolvern und den gespornten Stiefeln sah er am ehesten noch nach „Westen“ aus. Niemand hätte geglaubt, daß dieser Mann das flüssigste Latein in der Runde sprach und den Pastor im Griechischen weit hinter sich ließ. Er blickte die Lehrerin scharf an.„Lust, Schulleiterin zu werden?“
„Ich bin doch erst 28,“wehrte die junge Frau ab.
„In dem Stuhl da sehen Sie aber älter aus,“neckte Alder sie.
„Und wie kriegen wir die ganzen Kinder und die Indianer jeden Tag nach Clearwater,“wechselte Sir Waldo das Thema, ganz Gentleman wie immer.
„Die Kinder können reiten,“grinste Alder.„Jede Farm und jede Ranch hat Pferde.“
„Manche aber nur eins oder zwei,“erinnerte Robinson ihn.
„Und Kinder diese weiten Wege alleine reiten lassen?“Feodora war skeptisch.
„Nicht alleine,“wurde Alder jetzt heftiger, und zwar auf Latein,„sondern mit den Kindern der Indianer. Das ergibt eine ganze Legion.“
„Bleibt immernoch das Problem, daß manche Farmen kein Tier übrig haben.“Sir Waldo lächelte leicht. Alder hatte im Grundsatz Recht, aber hier in den Bergen Colorados konnte das schwierig werden.
„Dann schicken wir einen Wagen herum, mit Plane und Sitzbänken. Die Pferde stifte ich, den Rest kann die Gemeinde locker bezahlen.“
Die anderen dachten einen Moment über den Vorschlag nach, nickten dann. So konnte man es machen.
„Außerdem können wir später die Eisenbahn so legen, daß einige der Kinder mit dem Zug in die Stadt fahren können.“
„Einmal die Woche?“fragte Sir Waldo suffisant.
„Wer sagt denn, daß die Züge nur einmal die Woche fahren werden?“konterte Alder mit einem wölfischen Grinsen.
„Wenn man Dich ließe, würdest Du hier sogar eine Universität bauen,“stellte der Pastor sachlich fest.
„Wieso nicht?“konterte Alder.„Mangel an Bildung haben wir hier reichlich.“
„Wie viele Kinder kämen dann zusammen?“wollte Feodora wissen.
„Weiße und Indianer zusammen,“Alder rechnete,„2500 in allen Altersstufen.“
„So viele?“Sir Waldo war mehr als nur milde überrascht.
„Die Indianer,“erinnerte Alder,„die Kinder der vier Stämme.“
„Und dann der Kindersegen auf den umliegenden Farmen.“Robinson, der seine Gemeinde kannte.
„Wissen Sie, wie viele Lehrer wir dafür brauchen?“fragte die Lehrerin
„‘s wird 'ne große Schule,“bestätigte Alder.
„Aus Holz bekommen Sie die nicht mehr hin,“stellte Sir Waldo fest.
„Bruchsteine aus der Mine?“fragte Robinson.
„Das war Rons Vorschlag,“bestätigte Alder,„aber wir hätten auch genug Lehm, um Ziegel zu brennen.“
„Ist das die einfachere Arbeit?“fragte Feodora.
„Wie man’s nimmt,“erklärte Sir Waldo.„Die Bruchsteine sind Abraum also Abfall aus der Mine. Sie fallen sowieso an, kosten maximal den Transport, sind aber, wie sie hier sehen,“er wies auf seine Wände, die aus Bruchsteinen bestanden,„auf Grund ihrer doch manchmal sehr unterschiedlichen Struktur schwieriger zu mauern.“
„Ziegel dagegen,“sekundierte Alder,„sind zwar leicht und einfach gerade zu mauern, müssen aber geformt und gebrannt werden, was nicht nur viel Arbeit ist …“
„Siehe das Volk Israel in Ägypten,“warf Robinson ein.
„ … sondern auch enorme Mengen Brennstoff, also Holz verbraucht,“schloß Alder.
„Allein der Bedarf an Lehrern dürfte die Bevölkerung Clearwaters verdoppeln,“meinte Feodora.
„Dann richten wir eben ein Lehrerseminar ein,“brummte Alder.
„Jack, Sie sind ein Unikum,“seufzte Sir Waldo,„und wir vier werden diese Frage heute Abend nicht entscheiden. Wenden wir uns also wieder Shakespeare zu.“
Der Vorschlag wurde befolgt und das bis 10.00 Uhr auch durchgehalten. Dann stieg Alder auf sein Pferd, während Robinson im Wagen die Lehrerin mitnahm.
„Das nächste Mal bringst Du Mary-Rose mit, Arthur,“dröhnte Alder zum Abschied.
„Warum?“Robinson war verwirrt.
„Weil ich dann sicher bin, daß Euch auf dem Weg nichts passiert,“lachte Alder.
„Danke für dein Vertrauen in meine Schießkünste,“meinte Robinson leicht verschnupft und fuhr los. Alder lachte hinter ihm her.
„Vielleicht ist es trotzdem keine schlechte Idee,“fing Feodora jetzt an.
„Was?“Der Pastor war so auf den Weg konzentriert, daß er im ersten Moment nicht begriff, aber dann:„Ach,so! Warum?“
„Weil Mary-Rose vielleicht ein Gegengewicht zu ihren Colts braucht,“meinte die Lehrerin.„Außerdem haben Sie nicht immer Zeit für unsere Treffen. Ich belästige Sir Waldo so ungern, und Jack muß fast in die entgegengesetzte Richtung.“
In Robinson arbeitete es. Er suchte nach der richtigen Antwort.
„Warum nehmen Sie nicht Unterricht bei Mary-Rose?“fragte er dann.
„Unterricht? Worin?“
„Schießen. Macht Mary-Rose bestimmt Spaß, ihrer Lehrerin was beizubringen.“Sein Ton sollte sarkastisch sein, aber er bekam es nicht ganz hin.
„Ich mag keine Waffen,“zog sie sich zurück.„Es ist schon schwer genug mit Mary-Rose im Unterricht.“Sie atmete tief ein.„Obwohl sie sich wirklich tadellos benimmt,“beeilte sie sich hinzuzusetzen.
„Sie sind hier im Westen, Feodora,“belehrte sie Robinson.
„Ach, nein,“gab sie ironisch zurück.„Ist mir noch nicht aufgefallen.“
Er ignorierte das und redete einfach weiter:„Sie sollten mit einer Pistole umgehen können. Sie müssen sie ja nicht nachts unters Kopfkissen stecken, wie Mary-Rose.“Das Letzte hatte er eigentlich nicht sagen wollen, aber nun war es zu spät.
„Mary-Rose schläft mit ihren Colts unter dem Kopfkissen?“fragte die Lehrerin erschrocken.
„Jetzt nicht mehr,“wehrte Robinson ab,„aber in der ersten Zeit …“
„Verständlich,“nahm sie sich zusammen.„Ich denke darüber nach, wenn Sie ihre Tochter fragen, ob sie Lust zum Zirkel hat.“
„Abgemacht.“Der Pastor streckte ihr die Hand hin, die sie ergriff. Kurz darauf setzte er sie zu Hause ab.
„Mary-Rose, bleib bitte noch hier,“sagte Miss Blake und Mary-Rose wartete, bis die anderen Kinder alle gegangen waren.
„Ich schaff‘ das schon,“sagte Myrna nur und ging ebenfalls.
„Was ist denn?“fragte Mary-Rose.
„Kannst Du mir helfen?“fragte Miss Blake.
„Gern,“lächelte Mary-Rose,„aber womit?“
„Ich,“druckste Miss Blake etwas herum,„möchte lernen, wie man damit umgeht.“Sie zeigte auf die Colts, und es brauchte eine Weile, bis Mary-Rose begriff.
„Ach, so! Gerne!“antwortete sie.„Haben Sie ein paar alte Dosen?“
„Hinter der Schule,“meinte Miss Blake.
„Dann los!“
Miss Blake folgte ihrer Schülerin/Lehrerin gehorsam hinter die Schule, wo Mary-Rose ein paar Dosen auf einen Balken stellte.
„Sehen Sie, Miss Blake?“fing sie an, die Hand am Revolver.„So!“
Mary-Rose zog und schoß drei Dosen vom Balken. Sie stellte sie wieder auf, gab ihrer Lehrerin/Schülerin den anderen Colt und sagte:„Jetzt Sie!“
Miss Blake nahm die Waffe. Sie fühlte sich eiskalt an. Sie zielte sorgfältig und schoß … daneben. Sie zielte noch einmal und traf.
„Sehr gut fürs erste Mal, aber im Ernstfall wären sie jetzt tot,“meinte Mary-Rose.„Sie brauchen zu lange.“
Ein paar Versuche später, stöhnte Mary-Rose resigniert:„Ich sehe, wir müssen die Sache anders angehen.“
„Und wie,“fragte Miss Blake, der ihre Frustration deutlich anzusehen war.
„Kommen Sie mit,“sagte Mary-Rose nur und marschierte los.
Miss Blake folgte gehorsam und landete in Tamblyn’s Laden.
Nach einer kurzen Erklärung besah Tamblyn sich die Hände seiner neuen Kundin und holte die Damenrevolver.
„Fangen wir mit diesen hier an,“riet er.„Mary-Rose ist eine riesige Ausnahme.“
Das Mädchen grinste wie ein Honigkuchenpferd, und Miss Blake ging zum Schießstand. Nach ein paar Versuchen schaffte sie es dann auch, ohne Mühe die Scheibe zu treffen.
„Die scheinen richtig zu sein,“meinte auch Mary-Rose.
Tamblyn nickte nur und fragte:„Einen oder beide?“
„Einer reicht,“wehrte die Lehrerin ab,„danke.“
Sie bezahlte und kaufte auch noch dreißig Schuß für Mary-Rose. Danach ging es zurück hinter die Schule.
Als es langsam zu dämmern anfing, hatte Mary-Rose ihre Schülerin immerhin soweit, daß sie nach sorgfältigem Zielen fast jede Dose traf.
„Wenn Sie weiterhin bei jedem Schuß die Augen schließen, Miss Blake, wird das nie was,“meinte sie schließlich.„Sie verreißen immernoch zu oft.“
Die Lehrerin kämpfte mit sich selbst. Sich das von einem zwölfjährigen Mädchen anhören zu müssen, war hart. Aber sie mußte sich ehrlicherweise auch sagen, daß dieses Mädchen ihr diesbezüglich einiges voraus hatte.
„Ich habe Angst vor dem Knall,“gestand sie schließlich.
Mary-Rose trat auf sie zu, schloß ihre Hand fest um den kleinen Revolver und belehrte sie:„Dieser Revolver ist Ihr Freund, Miss Blake. Er beschützt Sie. Wenn sie mit diesem Freund richtig umgehen können, kann Ihnen niemand was antun.“
„Aber …aber wohin soll ich denn zielen?“fragte Miss Blake, gefangen vom eindringlichen Ton des Mädchens.
„Wenn der Angreifer nur mit einem Stock, einer Axt oder etwas Ähnlichem ankommt,“zwang Mary-Rose sich zur Sachlichkeit,„dann reicht ein Schuß ins Bein, um ihn kampfunfähig zu machen. Kommt er aber mit einer Schußwaffe, zielen Sie am Besten auf die Brust oder den Kopf.“Sofort nach diesen Worten verfinsterte sich ihr Gesicht. Miss Blake brauchte eine Sekunde, um den Grund zu begreifen. Dann umarmte sie Mary-Rose:„Du mußt wieder daran denken, oder?“
„Ich versuche, es zu vergessen, aber das geht einfach nicht.“Mary-Rose blickte auf.„Meistens schaffe ich es, nicht daran zu denken, aber nicht immer. Und das Bild wird immer schrecklich bleiben.“Mary-Rose löste sich aus der Umarmung.„Es mußte wohl sein, aber manchmal kotzt es mich an.“
„Was eigentlich nur zeigt, daß Du die Dinge mit dem richtigen Maßstab mißt.“
Mary-Rose schaute zu der Sprecherin:„Tante Ethel!“
Die alte Frau lächelte:„Ich wollte eigentlich nur nachsehen, wer mich da um meine Nachmittagsruhe bringt.“
Die Jüngeren waren etwas verlegen.
„Aber das konntet Ihr ja nicht wissen. Schließlich schlafe ich sonst nie nachmittags.“
Die beiden entspannten sich. Ethel holte ihren Colt aus der Manteltasche und schoß nun ebenfalls auf die Dosen.
„Fünf von sechs,“konstantierte Mary-Rose,„nicht schlecht, aber kannst Du auch das?“
Sie warf eine Dose in die Luft und hielt sie mit ihrem Colt oben, sechs Schuß lang.
„Du willst wohl, daß ich Mr. Tamblyn reich mache?“sagte Tante Ethel und verzichtete.
Inzwischen hatte es zu schneien begonnen. Jede der drei Frauen faßte ihren Mantel enger. Mary-Rose trug einen langen Ledermantel und schon lange keinen Mädchenhut mehr. Als sie jetzt mit einer blitzartigen Bewegung ihren Mantel wegstieß, zog und jeder der Dosen noch eine Kugel verpaßte, erinnerte sie die beiden anderen mehr an einen Revolverhelden als an ein kleines Mädchen. Dann stapfte sie davon.
Ethel hatte Besuch. In ihrem Wohnzimmer saß eine junge Dame, vielleicht 22 Jahre alt, aber das mochte täuschen. Kaffee und Gebäck standen auf dem Tisch, die junge Frau nippte nur. Sie fühlte sich nicht wohl, und es hatte Ethel auch einige Überredung gekostet, sie hereinzulocken.
„Noch einen Kaffee?“fragte sie.
„Danke,“sagte ihre Besucherin, hielt aber nur die Tasse hin. Ethel ignorierte das und goß ihr ein. Heute war keine Benimm-Stunde. Es ging um Wichtigeres.
„Du hattest im Grunde völlig Recht,“sagte sie jetzt.„Der Saloon ist normalerweise kein Ort für ein zwölfjähriges Mädchen.“
„Danke,“mehr brachte die Jüngere nicht hervor.
„Und das zeigt eigentlich nur,“fuhr Ethel fort,„daß bei Dir Hopfen und Malz noch nicht ganz verloren ist.“
Die junge Frau fing leise zu schluchzen an.
„Ich wollte das nicht,“heulte sie,„zumindest nicht so.“
„Wie ‚So‘?“fragte Ethel.
„Ich wollte immer nur tanzen.“Mit den Tränen zerfloß auch ihre Schminke. Ethel wartete ruhig ab, bis sie sich wieder gefaßt hatte.
„Früher habe ich die Ballerinas im Ballet bewundert, aber meine Eltern …“
„ … wollten, daß Du ein sittsames Mädchen bist,“vollendete Ethel den Satz.
„Tanz paßte nicht ins Bild,“bestätigte die Andere. Ethel nickte ihr nur aufmunternd zu.
„Ich lief irgendwann weg und schloß mich einem Zirkus an,“erzählte die Jüngere weiter, ehrlicher als sie eigentlich gewollt hatte.„Wenn wir lange genug an einem Ort waren, schrieb ich meinen Eltern. Meine Briefe kamen immer ungeöffnet zurück. Eines Tages,“sie heulte wieder, fing sich aber,„kam ein Brief meiner Eltern, in dem stand, ich möchte doch bitte diese Briefe einstellen, da sie mich nicht kennen würden.“
Ethel schüttelte nur den Kopf.
„Irgendwann verließ ich den Zirkus, um in einem Saloon zu tanzen. Dabei geriet ich leider an die falschen Leute, und schnell …“
„ … bist Du abgerutscht,“stellte Ethel fest.„Das passiert in diesem Milieu leider immer wieder, und nicht nur Dir, sondern auch viel stärkeren Frauen.“
Ethel gab der jüngeren ein Taschentuch und fragte jetzt:„Und wie heißt Du mit richtigem Namen?“
Ihr Gast errötete:„Augusta. Cynthia ist nur mein Künstlername, sozusagen.“
Ethel lächelte:„Hat denn nie ein Mann um Deine Hand angehalten?“
„Keiner wollte über meine … Vergangenheit hinwegsehen,“antwortete sie,„und die anderen wären schlimmer gewesen als mein jetziges Leben.“
Ethel nickte nur.
„Ich hätte gerne einen Mann getroffen,“erklärte Augusta mit Sehnsucht in ihrer Stimme,„aber wenn man erstmal in meinem … Gewerbe tätig ist…“
„Sprichst Du Latein?“fragte Ethel.
Augusta blickte sie scharf an. Was sollte diese Frage?„Es ist eine Weile her,“antwortete sie ausweichend.
„Du kommst übermorgen zum Tee,“entschied Ethel,„und Barney sagst Du, daß Du nur noch tanzt.“
„Darauf läßt der sich nicht ein,“war Augustas erste Reaktion.
„Sag‘ ihm, er bekäme es sonst mit mir zu tun,“antwortete Ethel.„Das wird helfen.“
„Und warum soll ich übermorgen zum Tee kommen?“
„Laß‘ Dich doch einfach überraschen,“riet ihr Ethel,„und im Übrigen bist Du ein freier Mensch.“
„Ich komme,“entschied Augusta.
„Sehr gut!“
Ethel verabschiedete ihren Gast, schrieb ein paar Zeilen, die sie einem jungen Burschen mit 20 Cent gab. Danach räumte sie auf und machte sich eine Liste für ihren morgigen Einkauf.
Augusta verließ den Saloon durch den Hinterausgang und ging auch nicht über die Hauptstraße zu Ethels Haus. Es gab da einige Blicke, die sie haßte. Hastig klopfte sie an die Tür, und Ethel ließ sie hinein.
„Du kommst gerade richtig,“meinte Ethel,„und … oh!“
Augusta hatte sich mit ihrem Aussehen viel Mühe gegeben.
„Du hast eine schwierige Gratwanderung gemeistert,“stellte Ethel zufrieden fest.
Augusta trat vor den Spiegel und rückte ihre Haare zurecht, ohne dabei das Gemälde „Gesicht“ zu zerstören, daß sie aus dem Spiegel anblickte. In den Städten des Ostens wäre sie damit auf jeden Fall noch als ehrbare aber sehr putzsüchtige Frau durchgegangen.
Als sie sich gerade ins Wohnzimmer gesetzt hatte, klopfte es ein zweites Mal, und Ethel lies einen Mann herein, dessen Stimme ihr bekannt vorkam. Allerdings sprach dieser Mann Latein, wahrscheinlich weil Ethel ihn so begrüßt hatte. Eine Welle von Niedergeschlagenheit überkam Augusta, aber dann drückte sie ihr Kreuz durch. Egal, was passierte, sie wollte es mit Anstand und Würde überstehen.
Der Mann kam durch die Tür, ein Cowboy mit zwei Colts, den sie schon öfters beim Pokern im Saloon gesehen hatte. Damals war seine Sprache nicht gerade fein gewesen, jetzt sprach er ein flüssiges, ja sogar elegantes Latein, soweit Latein elegant sein konnte. Auch Ethel bewies, daß sie eine gute Schule genossen hatte.
„Augusta Smith,“stellte sie sich vor.
„Jack Alder,“kam die Antwort.„Eine angenehme Überraschung zum Tee.“
„Danke,“stammelte Augusta nur und kam sich ziemlich komisch vor. Im Saloon hätte er ihr vielleicht einen Klaps auf den Hintern gegeben, und sie hätte nichts dabei gefunden, aber hier im Wohnzimmer, in dieser kultivierten Atmosphäre war sie plötzlich befangen.
Jack Alder, der sie erkannt haben mußte, umschiffte geschickt alle peinlichen Klippen, sprach über die römischen Rhetoren und die punischen Kriege, und Augusta kam immer besser mit dem Nachmittag zurecht, auch wenn die Konversation in Latein sie sehr anstrengte. Mit der Zeit brachte sie sich richtig in Pose auf ihrem Sessel, und Alder gab den perfekten Gentleman.
Als Augusta kurz die Toilette aufsuchen mußte, faßte Alder die Gelegenheit beim Schopf.
„Du weißt, wer sie ist und wo sie arbeitet?“fragte er Ethel, sicherheitshalber auf Griechisch.
„Du bist auch kein Unschuldsengel, Jack,“erinnerte Ethel ihn,„und sie tanzt nur noch.“
Er warf ihr einen schrägen Blick zu.
„Sieh mich nicht so an! Mit einem Etepetete-Dämchen könntest Du doch nichts anfangen.“
Alder war zu perplex, um noch etwas zu erwidern, bevor Augusta zurückkehrte.
„Würden Sie mir die Freude machen, mich bald einmal zu besuchen?“fragte er Augusta.
„Gern,“antwortete die.„Wäre ihnen übermorgen Recht?“
„Sicher,“antwortete er und grinste.„So habe ich noch Zeit zum Backen.“
„Das macht wohl besser Doug,“kommentierte Ethel trocken, und alle lachten. Bald darauf brach Alder dann wieder auf. Ethel brachte ihn zur Tür.
„Das hast Du extrem gut gemacht,“lächelte sie, als sie zurückkam. Augusta mußte lachen. Ethel hatte weiter Latein gesprochen und lachte jetzt mit.
„Glauben Sie, ich habe Chancen?“fragte Augusta jetzt.
„Bist Du Dir Deiner Wirkung auf Männer nicht mehr sicher?“fragte Ethel streng.
„Weiß nicht,“antwortete Augusta unsicher.
„Garantien gebe ich nicht,“meinte Ethel ernst,„aber er hat Dich eingeladen. Der Rest hängt an Dir.“Sie blickte Augusta eindringlich an.„Gefällt er Dir überhaupt?“
„Schon,“antwortete Augusta.„Immerhin hat er mich mit mehr Respekt behandelt, als alle vor ihm.“
„Eben,“lächelte Ethel.„Außerdem hat er noch drei respektable Brüder.“
„Danke,“sagte Augusta nur, und machte sich auf den Heimweg.
Ethel ging zum Kamin. Auf dem Sims stand ein Photo ihrer alten Freundin Cassandra Alder.
„Nun, Cassie,“meinte sie,„vielleicht bekommst Du doch noch Enkel.“
Joe Adams betrat die Bank nur zögerlich. Irgendwie fühlte er sich an solchen Orten immer sehr befangen. Was hatte er hier schon verloren?
„Guten Tag, junger Mann,“begrüßte ihn der Bankier, den Adams schon aus dem Laden kannte.„Womit kann ich dienen?“
Es war nur eine Floskel, aber sie verunsicherte den jungen Mann so, daß er nur ein geflüstertes „Hallo.“ herausbrachte. Dann kramte er sein Geld hervor und nahm allen Mut zusammen:„Ich möchte ein Konto eröffnen.“
„Eine kluge Entscheidung,“meinte Beddowes und zählte das Geld, immerhin sieben Dollar.
„Brauchen Sie auch Schecks?“fragte der Bankier. Adams schüttelte den Kopf.
„Vielleicht später,“murmelte Beddowes, füllte die Papiere aus, stellte ab und zu eine Frage und ließ Adams schließlich mehrmals unterschreiben, nachdem er dem jungen Mann genau erklärt hatte, worum es dabei ging. Am Ende bekam Adams ein Kontobuch und verließ die Bank wieder als Inhaber eines Kontos.
„Mein Bruder sieht aus, als habe er gerade ein Gespenst gesehen,“tönte es hinter ihm, als er wieder draußen war. Adams drehte sich um und sah in das Gesicht von Langes Ohr.
„Ich habe gerade ein Konto eröffnet,“berichtete Adams, als ob das alles erklärte.
„Mein Bruder hat klug gehandelt.“
„Und er fragte mich, ob ich Schecks bräuchte.“Adams wußte nicht, wie er das einordnen sollte.
Langes Ohr zuckte mit den Achseln:„Wir sind hier in Clearwater.“Als ob das alles erklärte.
„Gehst Du morgen zur Bürgerversammlung, Joe?“fragte Grand, ohne aufzublicken.
Adams mußte sich setzen. Er war noch nie auf so einer Versammlung gewesen. Manchmal hatte er seine Herrschaft dorthin gefahren und dann stundenlang auf sie gewartet. Nicht im Traum hätte er daran gedacht, selbst teilzunehmen.
„Darf ich denn überhaupt?“fragte er daher vorsichtig zurück.
„Du hast Dich doch beim Bürgermeister angemeldet, oder?“
„Ja, Sir.“
„Also bist Du nach den Regeln dieser gottgesegneten Stadt ihr Bürger.“Grands Ton war so bestimmt, daß Widerspruch ausgeschlossen war.
„Dann gehe ich hin,“antwortete Adams.
„Wenn Du da fertig bist, such‘ bitte das passende Schild für die Tür 'raus,“sagte Grand.„Ich gehe nämlich auch hin.“
Der nächste Nachmittag war sonnig mit ein paar Wolken. Adams und Grand stapften durch den etwa einen Fuß hohen Schnee zum Versammlungsort. Grand mußte seinen Angestellten förmlich durch die Tür schieben. Der junge Mann war starr vor Angst.
Drinnen saßen die meisten Leute schon auf ihren Plätzen. Adams erkannte Langes Ohr, der ihn auf einen Platz neben sich winkte. Als Adams saß, flüsterte der Rote:„Oder möchte mein Bruder lieber bei den Bleichgesichtern sitzen?“
Komische Frage, dachte Adams, aber wenn man es so sah. Er grinste.
An der Wand hing ein Plan, eine Karte von Clearwater. Auch wenn Adams keine Karten lesen konnte, so halfen ihm die Erklärungen des Bürgermeisters doch über die meisten Schwierigkeiten hinweg. Irgendwann hob er die Hand:„Warum das Nebengleis?“
Clayton sah den Frager kurz an. Ein Neuling.
„Dieses Gleis geht zur Mine, um die Erträge gleich vor Ort verladen zu können,“antwortete er.
Der junge Mann wurde mutiger.
„Darf ich?“
„Natürlich.“
Adams ging zur Karte und zeigte auf das Nebengleis.
„Die beiden Gleise liegen ca. 200 Yards auseinander,“fing er an,„was nicht viel ist. Wenn wir den Bahnhof in die stillgelegten Stollen verlegen, sparen wir Gleise und die Bahnhofsbauten.“
Adams atmete tief durch. Er war über sich selbst überrascht.
„Geht das, Ron,“fragte der Bürgermeister nur.
„Grundsätzlich ja,“antwortete Ron Alder,„und es könnte auch billiger sein.“
„Auf jeden Fall ist es wetterfest,“warf jemand ein.
„Und das Gleis liegt auf Fels,“setzte ein anderer hinzu.
„Das stimmt,“bestätigte Ron Alder,„aber wir müßten mindestens 2 Tunnel nach außen durchbrechen und einen stark erweitern. Ich muß das durchrechnen.“
„Wer ist dafür, daß Ron das rechnet, bevor wir einen endgültigen Entschluß fassen?“
Der Antrag des Bürgermeisters ging glatt durch. Die anderen Punkte waren schwieriger.
Als Adams wieder draußen war, klopfte ihm sein Chef auf die Schulter.
„Gut gemacht,“sagte er, als Myrna Jenkins weinend vorbeikam. Sie hatte drinnen gesessen, sich nicht beteiligt, war nur eine stumme Mahnung gewesen. Trotzdem: Einen Sheriff gab es auch diesmal nicht.
„Anscheinend hat man sich schon an Mary-Rose gewöhnt,“brummte Grand.
„Geht das immer so ab?“fragte Adams.
„Bei dem Thema? Immer genau so!“antwortete Grand.
Adams blickte Myrna nach.
‚Ein hübsches Mädchen,“dachte er,‚sogar mit Bauch.‘ Sofort rief er sich aber zur Ordnung. Das konnte nicht gutgehen.
Augusta rutschte unsicher auf ihrem Stuhl hin und her. Sie fühlte sich unwohl, obwohl sie wieder blendend aussah und alle vier Alders sich wie vollendete Gentlemen benahmen. Den Weg zur Ranch hatte sie mit einem Mietpferd auf dem einzigen Damensattel in Clearwater gemacht, und es war so leidlich gegangen. In ihrer Handtasche lag ein kleiner Revolver, den ihr ein Berufsspieler einmal als Pfand da gelassen hatte, um gleich darauf geteert und gefedert aus der Stadt gejagt zu werden. Immerhin hatte sie so eine Waffe.
Man sprach über dies und das, vermied die Peinlichkeiten. Irgendwann setzte Augusta sich ans Klavier und spielte ein paar Lieder. Leider nicht fehlerlos, aber sie hätte das Klavier an liebsten nicht mehr losgelassen.
Zu einer schicklichen Zeit verabschiedete Augusta sich. Jack Alder brachte sie zur Tür, half ihr aufs Pferd und küßte ihr die Hand. Dann ritt sie in die Dunkelheit hinaus. Heute Abend mußte sie tanzen, und sie wollte nicht zu spät sein.
Abends saß Jack Alder dann im Publikum und warf ihr eine Kußhand zu. In aller Öffentlichkeit! Die Leute schauten ihn entgeistert an, aber er scherte sich nicht darum. Auch Barney und die anderen Mädchen wechselten rätselhafte Blicke. Augusta bemerkte sie nicht.
Jack Alder betrat das Postamt und ließ sich die angekommenen Briefe geben. Die meisten waren von irgendwelchen Geschäftspartnern, die jetzt im beginnenden Frühjahr anfragten, ob Fohlen oder Jährlinge zu haben waren, oder welche verkaufen wollten. Diese Briefe würde Doug in den nächsten Tagen beantworten.
Einen Brief allerdings hatte er schon seit Wochen erwartet. Er öffnete ihn und las:
Sehr geehrter Mr. Alder,
wir haben Ihren Brief erhalten.
Die Person, von der Sie reden, existiert für uns nicht mehr, so wie wenn sie gestorben wäre, und jeder, der sich mit ihr näheren Kontaktes rühmt, hat sich aus unserem Leben als Mensch ungeeigneten Lebenswandels fernzuhalten.
Wir werden daher Ihrer Einladung nicht folgen und bitten Sie, derlei Belästigungen fürderhin zu unterlassen.
Burt und Constance Smith
Boston
Jack Alder zerknüllte den Brief und stopfte ihn in die Hosentasche. Zuhause würde er ihn verbrennen. Augusta durfte von diesem Versuch nichts wissen.
„Seit wann läßt Du wichtige Briefe in Deiner Hosentasche, Jack?“fragte Mike, der mir der Wäsche dran war. Siedend heiß fiel Jack der Brief ein, aber es war zu spät: Mike hatte ihn schon gelesen.
„Einen Versuch war’s wert,“meinte Mike und warf den Brief ins Feuer.
„Ich könnte …,“fluchte Jack mit mühsam beherrschter Wut.
„ … ihnen Mary-Rose auf den Hals hetzen?“grinste Mike.
Widerwillig mußte Jack lächeln:„Nein, das noch nicht.“
Die Brüder lachten, während die letzten Reste des Briefes im Kamin verkohlten.
Marge Robinson stand stöhnend auf. Hochzeiten waren zwar schön, aber immer so anstrengend. Besonders wenn der Bräutigam Jack Alder hieß und echten Champagner importieren konnte. Marge, die sowieso nicht viel trank, fand, daß der sehr viel hinterhältiger als Whisky oder Bier war. Mary-Rose hatte sie ein Glas zum Anstoßen auf das Brautpaar erlaubt. Der heimliche Bourbon danach hatte sich durch Husten verraten, aber das war eine der Lektionen, die Mary-Rose nun selber lernen mußte. Danach war sie bei Limonade geblieben.
Marge machte Frühstück. Der Kaffee war fast alle. Seit Mary-Rose mittrank – und sie war die größte Konsumentin – schwanden die Vorräte immer schneller.
Sie hörte den Wecker ihrer Tochter und einen Augenblick später ein lautes:„Mist!“
Als sie das Zimmer ihrer Tochter betrat, saß Mary-Rose mit zurückgeschlagener Decke im Bett.
„Was ist denn, mein Schatz?“fragte Marge.
Mary-Rose, vor ein paar Tagen dreizehn geworden, stand auf, lächelte ihre Mutter an und sagte:„Och, nichts, außer daß wir jetzt beide Frauen sind.“
Marge besah sich das Malheur.
„Tja, dann hab‘ ich wohl mit Myrna gleichgezogen,“meinte Mary-Rose jetzt.
„Untersteh Dich,“drohte ihre Mutter erschrocken, bemerkte aber jenes Honigkuchenpferdgrinsen, das in letzter Zeit immer öfter dazu diente, ihren Blutdruck in die Höhe zu treiben.
„Worum geht es hier?“brummte ihr Vater, der in der Tür stand.
„Bin heute Nacht zur Frau geworden,“erklärte Mary-Rose nur trocken.
Ihr Vater erhaschte nur einen Blick aufs Bett und verfügte sich mit einem kurzen „Aha!“ zurück in seins.
„Wasch Dich, und dann helfe ich Dir mit dem anderen,“meinte Marge, und Mary-Rose breitete sorgfältig ein Handtuch aus, bevor sie sich wusch.