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Die Tugenden
ОглавлениеDa ‘das Böse’ hier unten ist und ‘diesen Ort notwendig umwandelt’, die Seele aber das Böse fliehen will, so ‘müssen wir fliehen von hier’. Und was ist das für eine Flucht? ‘Gott gleich zu werden’, heißt es. Und das erreichen wir, ‘wenn wir gerecht und heilig und zugleich einsichtig’ werden, überhaupt wenn wir zur Tugend gelangen. – Wenn wir also ‘gleich werden’ durch Tugend, hat denn das, dem wir gleich werden, auch Tugend? Und was ist es denn für ein ‘Gott’ dem wir gleich werden? Vielleicht einer, von dem man annimmt daß er diese Tugenden in höherem Grade besitzt, also etwa die Weltseele und das Lenkende in ihr, welchem wunderbare Einsicht eignet? Es wäre ja sinnvoll, wenn wir die wir in dieser Welt sind, diesem Gott gleich werden. Nun, erstlich ist es umstritten, ob diesem überhaupt alle Tugenden eignen; so etwa zuchtvoll zu sein oder tapfer, wo ihm doch nichts furchterregend ist, da ja nichts außer ihm ist, und wo nichts Lusterregendes an ihn herantritt, dessen Fehlen etwa die Begierde erregen könnte es zu haben oder zu ergreifen.
Da ferner dieser Gott nun auch seinerseits vom Trieb nach geistigen Wesenheiten bewegt ist wonach auch unsere Seelen verlangen, so kommt offenbar auch unsere innere Ordnung aus dieser geistigen Welt und die Tugenden. Hat denn also jenes Geistige diese Tugenden? Es ist doch wenigstens von den sogenannten bürgerlichen Tugenden nicht wohl denkbar daß es sie habe, nämlich die Einsicht als Eigenschaft der überlegenden, die Tapferkeit als Eigenschaft der mutartigen Seelenkraft, Selbstbeherrschung, welche in einer gewissen Übereinstimmung, einem Einklang der begehrenden zur vernünftigen besteht, Gerechtigkeit als die rechte ‘Eigentätigkeit’ all dieser zugleich ‘in Bezug auf Herrschaft und Beherrschtwerden’. Vielleicht beruht aber unser Gleichwerden nicht auf den bürgerlichen sondern auf den höheren Tugenden, die desselben Namens sind? Gut, beruhe es auf andern; aber soll es darum überhaupt nicht auf den bürgerlichen beruhen? Nein, daß die Gleichwerdung nicht in irgendeiner Weise auf diesen Tugenden beruhen sollte, sondern nur auf den höheren, wäre unsinnig; nennt doch die Überlieferung solche Männer göttlich, und daß sie in irgendeinem Sinne die Gleichwerdung erreicht haben, muß man in der Tat sagen.
Doch gleichviel, in beiden Fällen ergibt sich daß jenes Geistige Tugenden hat, auch wenn sie anderer Art sind als die unsrigen. Wenn nun aber jemand zugibt, daß eine Gleichwerdung stattfinden kann auch gegenüber Wesen, von denen unser Verhalten verschieden ist, dann steht auch nichts im Wege, daß wir, auch wenn wir nicht hinsichtlich der Tugenden gleich werden, so doch vermöge unserer Tugenden Einem gleich werden, das keine Tugenden besitzt. Und wie das? Folgendermaßen. Wenn etwas durch Anwesenheit von Wärme warm wird, muß dann notwendig auch das, woher die Wärme stammt, warm werden, und wenn etwas durch Anwesenheit von Feuer warm ist, muß dann notwendig auch das Feuer selbst durch Anwesenheit von Feuer warm werden? Indessen könnte man gegen die erste Analogie einwenden, daß auch im Feuer Wärme ist, nur eine die ihm ureigen; dann ergibt dieser Beweis, wenn er sich an die Analogie hält, nur daß die Tugend für die Seele etwas Nachträgliches, für jene Wesenheit aber, von der die Seele sie vermöge Nachahmung entnimmt, ein Ureignes ist. Gegen den Analogieschluß aus dem Feuer ist jedoch zu sagen daß dann ja Jener Tugend sein muß, während wir doch postulieren daß er größer ist als Tugend. Diese Einwände wären treffend, wenn das woran die Seele teilhat dasselbe wäre wie das wovon sie kommt. Nun aber ist das beides voneinander verschieden. Denn auch das sinnlich wahrnehmbare Haus ist nicht identisch mit dem geistigen, obgleich es ihm ‘gleichgeworden’ ist; an Ordnung und Harmonie nimmt das sinnlich wahrnehmbare Haus teil, und doch ist in dem geistigen Plan nicht Ordnung oder Harmonie oder Ebenmaß. So ist es auch mit der Tugend: wir nehmen an Harmonie und Ordnung und Ausgeglichenheit Anteil von der oberen Welt her, und eben darin besteht die Tugend hier unten; da aber die Dinge der oberen Welt der Ausgeglichenheit, der Ordnung oder der Harmonie nicht bedürfen, so haben sie auch die Tugend nicht nötig und nichtsdestoweniger werden wir ihnen gleich dadurch daß uns Tugend innewohnt.
Soviel zum Erweise, daß es nicht notwendig deshalb, weil wir durch Tugend ‘gleich werden’, in der oberen Welt Tugend geben muß. Aber wir wollen uns nicht mit der Vergewaltigung durch diesen Beweis begnügen, sondern müssen ihm auch [2]Überzeugungskraft verleihen. Zuerst also wollen wir die Tugenden untersuchen vermöge derer nach unserer Behauptung die Gleichwerdung statthat, damit wir das in seinem Wesen Identische ausfindig machen, welches hier unten bei uns, wo es ein Abbild ist, Tugend ist, dort oben aber, wo es so etwas wie ein Urbild ist, nicht Tugend. Zuvor aber haben wir noch darauf hinzuweisen daß Gleichwerdung eine zwiefache sein kann; die eine erfordert bei beiden gleichen Dingen Identität, sie findet statt bei alle dem was demselben Vorbild gleichermaßen angeglichen ist; wo aber nur das eine dem andern angeglichen ist, dies andere aber das Erste ist welches nicht im Wechselverhältnis zu jenem steht und nicht als sein Gleiches bezeichnet wird, da ist die Gleichwerdung in anderer Weise aufzufassen, da darf man nicht die gleiche Gestalt in beiden verlangen, vielmehr gerade eine andere, wenn anders es sich um die zweite Art der Gleichwerdung handelt. –
Was ist also nun eigentlich die Tugend, die gesamte und die einzelne? Unser Vorgehen wird klarer wenn wir nach der einzelnen fragen; dann wird auch ohne weiteres ersichtlich werden, was das Gemeinsame ist vermöge dessen sie alle Tugenden sind. Die bürgerlichen Tugenden nun, von denen wir oben schon gelegentlich sprachen, indem sie den Begierden und überhaupt den Affekten Grenze und Maß setzen und das falsche Meinen beseitigen, formen die Menschen wahrhaft und machen sie besser, weil sie allgemein auf der Seite des Besseren stehen, weil sie begrenzt sind und dem Ungemessenen und Unbestimmten entrückt. Sie selbst sind begrenzt sofern sie Maß sind in der Seele als in einer Materie, und so sind sie gleich geworden dem jenseitigen Maß und tragen in sich die Spur des jenseitigen obersten Gutes. Denn das gänzlich Ungemessene ist, da es Materie ist, gänzlich der Gleichwerdung unteilhaftig; nur soweit es an der Form teilhat, nur insoweit kann es jenem Oberen gleich werden, welches seinerseits keine Form hat. In höherem Grade aber hat Teil das Jenem Nahe: die Seele, da sie ihm näher ist als der Körper und verwandter, hat dementsprechend auch mehr Teil an ihm; daher kommt es, weil sie als Gott in Erscheinung tritt, zu der Täuschung, daß sie etwa schon das ganze Wesen Gottes sei. Derart also ist die Gleichwerdung dieser Männer der bürgerlichen Tugend.
[3]Aber da er darauf hindeutet daß die Gleichwerdung eine andre ist und Sache der höheren Tugend, so müssen wir über diese sprechen; dabei wird auch das Wesen der bürgerlichen Tugend noch klarer werden und was diese höhere Tugend ihrem Wesen nach ist und daß es überhaupt neben der bürgerlichen Tugend noch eine andere gibt. Wenn nämlich Plato sagt daß die Gleichwerdung mit Gott Flucht aus dieser Welt ist, wenn er die Tugenden die im Staat ihre Stelle haben nicht schlechthin als Tugenden gelten läßt sondern ‘bürgerliche’ hinzusetzt, wenn er ferner anderwärts die Tugenden Reinigungen nennt, dann ist klar daß er allen Tugenden einen doppelten Sinn gibt und daß er die Gleichwerdung nicht vermöge der bürgerlichen geschehen läßt.
In welchem Sinne nun nennen wir die Tugenden Reinigungen, und wieso werden wir gerade durch Reinigung gleich? Nun, da die Seele böse ist, sofern sie mit dem Leibe ‘verquickt’ ist und so den gleichen Affektionen wie er unterworfen ist und all sein Wähnen mit ihm teilt, so ist sie doch wohl gut und hat Tugend, wenn sie weder sein Wähnen teilt, sondern allein ihre Wirksamkeit übt – und das ist Vernunft und Einsicht –, noch sich seinen Affekten unterwirft – das ist Selbstbeherrschung –, noch Furcht hat, da sie im Abstand vom Leibe bleibt – und das ist Tapferkeit –, wenn vielmehr in ihr gebietet Vernunft und Geist und das Andere nicht widerstrebt – und das ist Gerechtigkeit. Einen solchen Zustand nun der Seele, in welchem sie in der geschilderten Weise denkt (geistig tätig ist) und dabei ohne Affekte ist, kann man doch treffend als Gleichwerdung mit Gott bezeichnen; denn das Göttliche ist ebenfalls rein und seine Wirksamkeit ist von derselben Art, so daß das was ihm nachahmt eben dadurch Vernunft hat. Und weshalb ist nun nicht auch das Göttliche in diesem Zustand? Es hat überhaupt keinen Zustand, Zustand ist etwas erst der Seele Angehöriges. Auch das Denken der Seele ist ein anderes; von den Oberen denkt das eine anders als die Seele, das andere überhaupt nicht. Ist denn geradezu ‘Denken’ ein bloßes gemeinsames Wort für beide? Nein, das auch wieder nicht; sondern das Obere denkt ursprünglich, das von ihm Stammende auf andere Weise. Denn wie der ausgesprochene Gedanke ein Nachbild des Gedankens in der Seele ist, so ist der in der Seele seinerseits ein Nachbild dessen in einem Andern. Wie nun der ausgesprochene gegenüber dem in der Seele bruchstückhaft ist, so ist der in der Seele, welcher jenen Oberen verdolmetscht, seinerseits bruchstückhaft gegenüber dem über ihm. Die Tugend also eignet nur der Seele; der Geist hat keine Tugend und ebensowenig das was über ihm steht.
[4]Nun fragt sich, ob die Reinigung zusammenfällt mit dieser höheren Tugend, oder ob die Reinigung vorangeht und die Tugend aus ihr folgt; und ob im Gereinigtwerden oder im Gereinigtsein die Tugend unvollkommener ist; im vollen Gereinigtsein erreicht sie erst gewissermaßen ihr Ziel und Ende. Dies Gereinigtsein seinerseits ist nun aber nur die Entfernung alles Widrigen, das Gute aber noch etwas andres. Wenn aber in der Seele vor der Unreinheit das Gute war, dann genügt doch die Reinigung? Gewiß, die Reinigung genügt dann; aber das was sie übrig läßt, ist dann das Gute, nicht die Reinigung. Was dies Übrigbleibende ist, ist allerdings noch fraglich; denn die nach der Reinigung übrigbleibende Wesenheit kann ja doch wohl gar nicht das Gute sein, denn sonst wäre sie nicht in das Böse geraten. Ist sie also ‘dem Guten nur ähnlich’ zu nennen? Besser wohl, nicht hinreichend gut um zu beharren im wahrhaft Guten; denn sie hat von Natur beides in sich; das Gute in ihr ist Vereinigung mit ihrem Urverwandten, das Böse mit dem Entgegengesetzten. Deshalb muß sie sich reinigen zu solcher Vereinigung. Die Vereinigung selbst aber ist Hinwendung. Wendet sie sich denn nach der Reinigung hin? Nein, nach der Reinigung ist sie hingewandt. Das also ist ihre Tugend? Nein, erst das was die Hinwendung ihr bringt. Und was ist das? Schau; und Abdruck des Gesehenen ihr eingeprägt und in ihr wirkend, wie das Bild auf das Auge. So hatte sies zuvor nicht, und es ist keine ‘Erinnerung’? Sie hatte es, doch war es nicht wirkend, sondern lag unerhellt in Bewahrung; damit es aber erhellt werde und sie es nun in sich gewahr werde, mußte sie sich auf das Erhellende hinrichten. Ferner war es nicht Jenes selbst, was sie hatte, sondern nur seine Abdrücke; so gilt es den Abdruck anzupassen an die wahre Wirklichkeit, von welcher die Abdrücke erst abgeformt sind. Aber daß sie es habe, bedeutet vielleicht auch, daß der Geist ihr nicht fremd ist; er ist ihr aber eigentlich nur dann nicht fremd wenn sie auf ihn schaut, sonst ist er ihr fremd ob er gleich bei ihr ist; ist es doch auch bei den Wissenschaften so, wenn wir sie haben ohne daß sie in uns wirken, sind sie uns fremd.
[5]Doch ist noch zu bestimmen wie weit die Reinigung reicht (dabei wird auch deutlich werden mit was für einem Gott die Gleichwerdung und Identität statthat); das heißt aber vor allem zu untersuchen, was mit Zorn und Begierde und allem übrigen ist, Kummer und dergleichen, und in wieweit eine Abtrennung vom Leibe möglich ist. Um sich vom Leibe zu trennen, muß sie sich vielleicht auch gewissermaßen räumlich in sich selbst zusammenziehen, jedenfalls aber muß sie sich freihalten von Affektionen; die unvermeidliche Lust muß sie wie bloße Wahrnehmungen auf sich wirken lassen und als Arznei und Abhilfe gegen Beschwerden, nur um deren Belästigung abzuwenden; die Schmerzen muß sie ausstreichen, oder, ist das nicht möglich, gelassen tragen und dadurch mindern daß sie nicht mit sich mitleidet; die Heftigkeit muß sie möglichst ausmerzen, wenn es angeht ganz, sonst darf sie wenigstens nicht selbst mit heftig sein, sondern das Unwillkürliche darf nur dem Körper angehören, es muß aber wenig und schwach bleiben; die Furcht aber muß sie ganz austilgen, denn sie braucht um nichts zu fürchten, und auch in der Furcht ist das Unwillkürliche – es sei denn die Furcht diene sie zur Vernunft zu bringen; und die Begierde? Daß sie nach nichts Niedrigem Begierde haben darf, versteht sich; zügellose Begierde nach Speis und Trank wird sie in ihrem eigentlichen Selbst nicht haben, auch nicht nach Liebesgenuß, oder doch höchstens, will ich meinen, nach dem den die Natur gebietet, und ohne daß dies Verlangen ein triebhaft unwillkürliches sei, oder höchstens bis zur Vorstellung die aber auch ihrerseits unbedacht ist; kurz, in ihrem eigentlichen Selbst wird die Seele selbst rein sein von allen Leidenschaften; aber auch ihren vernunftlosen Teil wird sie gewillt sein so zu reinigen, daß er überhaupt keine Erschütterungen von außen mehr erfährt oder doch keine heftigen, so daß die Erschütterungen nur selten sind und sofort durch ihre Nachbarschaft aufgehoben werden – so wie der Nachbar eines weisen Mannes die Frucht dieser Nachbarschaft erntet, indem er dem Weisen gleich wird oder doch ihn so in Ehren hält daß er nichts was der Edle mißbilligt, zu tun wagt. So wird es gar keinen Kampf mehr geben; schon die bloße Anwesenheit der Vernunft, welche der niedere Seelenteil in Ehren hält, bewirkt, daß der niedere Teil schon von allein wenn er überhaupt einmal sich rührt unwillig wird, weil er nicht in Anwesenheit seines Gebieters sich ruhig [6]verhalten, und sich selbst seine Schwäche vorwirft. So ergibt sich für den Menschen daß er in all diesem nicht fehlt sondern recht handelt.
Aber das Trachten sollte ja nicht darauf gehen, ohne Verfehlung zu sein, sondern ‘Gott’ zu sein. Der Mensch nun, dem doch eine unwillkürliche Verfehlung in diesen Dingen vorkommt, der ist Gott und Daimon, also zwiefältig, oder besser, er hat bei sich ein andres Wesen, welches nur niedere Tugend hat. Aber wenn nichts dergleichen ihm widerfährt, dann ist er Gott und nur Gott, allerdings ein Gott von denen, welche dem Ersten nachfolgen. Sein Selbst nämlich ist das was von der oberen Welt herabgekommen ist und das seinem Selbst Entsprechende ist in der oberen Welt, wenn er ist wie er herabkam; der aber zu seinem Beiwohner gemacht wurde, als er in diese Welt kam, auch den wird er sich gleichmachen nach dessen Vermögen, so daß dieser womöglich ganz ohne Erschütterungen von außen bleibt, jedenfalls aber nichts tut was der Gebieter verwirft.
Was ist nun für einen solchen Menschen die Einzeltugend? Nun, Weisheit und Einsicht in der Schau dessen was der Geist besitzt, der Geist aber besitzt es durch unmittelbare Berührung. So sind Weisheit und Einsicht zwiefach, einmal sind sie im Geist, einmal in der Seele; droben im Geist sind sie nicht Tugend, in der Seele aber sind sie Tugend. Und was sind sie dort oben? Wirksamkeit des Geistes selbst und sein Wesen; während sie hier in der Seele, da sie nur das sind was von dort herab in einen andern Träger eintritt, Tugend sind. Auch die Idee der Gerechtigkeit und der andern Einzeltugenden ist ja nicht Tugend, sondern gleichsam Vorbild, und erst was von ihr her in die Seele kommt, ist Tugend; denn Tugend gehört einem Jemand an; die Idee jedes Dinges aber gehört nur sich selbst und keinem andern an. Was nun die Gerechtigkeit betrifft, beruht sie etwa, wenn anders sie darin besteht daß ‘jeder Teil die ihm eigene Aufgabe erfüllt’ stets auf einer Mehrzahl von Teilen? Nun, die eine Gerechtigkeit beruht auf einer Mehrzahl, wenn es sich um eine Vielheit von Teilen handelt; die andere aber ist Erfüllung der eigenen Aufgabe schlechthin, mag sie auch nur einen Träger haben. Die wahre Ansich-Gerechtigkeit ist jedenfalls nur die Funktion eines Einheitlichen zu sich selbst, in welchem es kein eines und anderes gibt; so ist also auch für die Seele die höhere Gerechtigkeit, daß sie sich mit ihrem wirkenden Sein auf den Geist richtet, und Zucht die Wendung nach innen zum Geist, und Tapferkeit Unberührtheit von Affekten zufolge Gleichwerdung mit dem worauf sie hinblickt, welches seinem Wesen nach von Affekten unberührt ist, während sie selbst das erst vermöge von Tugend wird, um nicht den Affekten ihres niedern Beiwohners [7]mit unterworfen zu sein. Es bedingen sich also gegenseitig diese Tugenden in der Seele so wie das was im Geist oberhalb der Tugend als Vorbilder vorhanden ist. Das Denken des Geistes nämlich ist Wissen und Weisheit, und seine Wendung zu sich selbst ist die Zucht, und das Tun des eigenen Werkes Gerechtigkeit, und das sich selbst gleich und rein bei sich Bleiben gewissermaßen Tapferkeit; in der Seele ist dementsprechend das Blicken auf den Geist Weisheit und Einsicht (und zwar sind das ihre Tugenden, denn sie ist dies nicht selbst, wie in der oberen Welt) und die andern Tugenden folgen entsprechend. Auch auf dem Wege der Reinigung müssen alle Tugenden aus der ersten folgen, wenn anders sie als Reinigungen alle auf völliger Gereinigtheit beruhen; sonst kann auch nicht eine vollkommen sein. Wer also die höheren Tugenden hat, hat notwendigerweise potential auch die niederen; wer aber die niederen, nicht notwendig die höheren.
Das also ist die höchste Lebensform des Weisen. Doch ob der welcher die höheren Tugenden hat, aktual auch die niederen hat oder ob es anders darum steht, das prüft man am besten an der Einzeltugend, z. B. der Einsicht; wenn er andern Grundsätzen folgt, wie kann dann die niedere noch in ihm bestehen bleiben sei es auch nur als nichtaktuale? Wo doch das Wesen der niedern so weit, das der höhern so weit reicht; wo die niedere Zucht nur regelt, die höhere völlig austilgt? So auch bei den andern Tugenden, wenn überhaupt einmal an der Herrschaft der höheren Einsicht gerüttelt wird. Nein, er wird die niederen und was denn aus ihnen kommt, nur dadurch besitzen daß er sie weiß; vielleicht wird er auch nach einigen von ihnen handeln wenn es die Umstände erfordern; aber er schreitet vor zu höheren Grundsätzen und andern Maßen, und wird dann nur nach diesen handeln; er sieht in der Zucht nicht nur jenes bloße Regeln, sondert sich vielmehr möglichst ganz ab, lebt überhaupt nicht das Leben des Menschen, des guten Menschen wie es die bürgerliche Tugend fordert, sondern dies läßt er hinter sich, er entscheidet sich für ein andres, für das Leben der Götter; denn mit ihnen, nicht mit guten Menschen soll die ‘Gleichwerdung’ stattfinden; die Gleichwerdung mit guten Menschen ist wie ein Abbild dem andern gleich ist wenn beide vom gleichen Urbild stammen; jene aber richtet sich auf einen Andern, auf ein Urbild.