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Selma bekam Bauchschmerzen, nachdem sie Haberers Vertrag ausgedruckt, unterschrieben, gescannt und zurückgemailt hatte. Die Summe war tatsächlich fürstlich, die Extras in Form von Spesen ebenfalls, doch dies bestärkte Selmas Gefühl, dass irgendetwas faul war an der Sache.

Selma zog trotzdem ihren pinken Bikini an, strich Sonnencrème ein, schlüpfte in ihre kurze Jeanshose und ein weisses T-Shirt, packte ihren wasserdichten Badesack und ging auf der Kleinbasler Seite dem Rhein entlang in Richtung Tinguely Museum. Die Sonne brannte. Selma schwitzte. Sie nervte sich über ihre Haare. Obwohl die Bauchschmerzen schlimmer wurden, stieg sie beim Museum des bekannten Schweizer Malers und Maschinenkünstlers Jean Tinguely am kleinen Kiesstrand in den Rhein, tauchte kurz ab und umklammerte den Badesack. In diesem hatte sie Hose, T-Shirt und Schuhe verstaut. Nun liess sie sich zusammen mit Hunderten anderen Badenden den Rhein hinuntertreiben.

Bereits nach kurzer Zeit bekam sie zusätzlich Seitenstechen. Selma begann zu frösteln. Kurz vor der Wettsteinbrücke schwamm sie deshalb zum Ufer und stieg aus dem Wasser. Sie setzte sich auf den letzten freien Stein, schüttelte ihre Haare und liess sich von der Sonne wärmen. Sie hielt sich den Bauch. Was war los mit ihr? Warum konnte sie sich nicht auf den neuen, äusserst lukrativen Job freuen? Weil es sich bloss um Hochzeitsfotografie und nicht um einen grossen Reportageauftrag handelte? Dafür würde er im Engadin stattfinden. Sie könnte einige Tage dranhängen und malen.

Plötzlich erinnerte sie sich daran, dass sie im August Nellie und ihre Familie eingeladen hatte. Hatte Haberer nicht gesagt, dass auch die Hochzeit im August stattfinden würde? «Ich dumme Nuss», fluchte Selma leise, zog sich an und ging mit schnellen Schritten nach Hause. Sie schaute auf dem Vertrag nach. Tatsächlich, der Job war im August. Datum noch nicht genau definiert. Warum nicht? Geheimhaltung? Was sollte das? Sie wollte Haberer erneut anrufen. Doch dann sah sie, dass er ihr eine Nachricht geschrieben hatte. Für weitere Infos soll sie sich bei einer Frau namens Katharina melden.

Selma trank zuerst einen Schluck Wasser aus dem Hahn, spuckte dieses aber gleich wieder aus, weil es viel zu warm war. Sie wählte Katharinas Nummer.

«Hallo?», meldete sich eine freundliche Stimme.

«Hei, ich bin Selma. Sind Sie Katharina?»

«Ja, die bin ich.»

«Ich heisse Selma Legrand-Hedlund. Ich rufe wegen dem Fotoauftrag von Jonas Haberer an.»

«Von wem?»

«Haberer, Medienunternehmer aus Bern.»

«Sagt mir nichts.»

«Es geht um eine Hochzeit.»

«Oh, die Hochzeit, die Chasper organisiert. Oder mitorganisiert. Weiss es auch nicht so genau.»

Chasper, der talentfreie Politiker, wie Haberer ihn genannt hatte. Selma erinnerte sich, musste lächeln und sagte: «Chasper ist ein Freund meines Auftraggebers. Ich habe diesen Job angenommen und soll mich bei Ihnen melden.»

«Gut, dann setzen wir uns doch am besten mal zusammen.»

«Können wir es nicht am Telefon besprechen?»

«Das sollten …» Katharina stockte und sprach erst nach einigen Sekunden weiter. «Das sollten wir nicht tun.»

«Und warum nicht?»

«Ich kenne Sie nicht und darf mit niemandem reden. Schon gar nicht am Telefon.»

«Geheimhaltung?», fragte Selma verärgert.

«Ja. Entschuldigen Sie, mir kommt das auch ein bisschen übertrieben vor. Aber es geht nicht anders. Ich musste sogar unterschreiben, dass ich den Auftrag vertraulich behandle.»

«Musste ich auch. Sind Sie denn die Hochzeitsplanerin?»

Katharina lachte. Es war ein sympathisches Lachen. «Nein», sagte sie. «Das gäbe eine Katastrophe.»

«Was sind Sie dann?»

«Hören Sie, ich kann nicht darüber sprechen. Machen wir einen Termin aus. Wann können Sie herkommen?»

«Moment», sagte Selma, nahm das Smartphone vom Ohr, schaltete den Lautsprecher an und öffnete den digitalen Kalender. Die nächsten Tage waren alle frei. Und Marcel war am Arbeiten. Seit sie ein Paar waren, schickte er ihr immer seine Bus- und Tramschichten bei den Basler Verkehrs-Betrieben. «Also, ich könnte zum Beispiel …» Selma überlegte kurz und entschied sich dann, Katharina so bald wie möglich zu treffen, damit sie endlich erfahren würde, worum es bei dieser ominösen Hochzeit gehen würde. «Ich könnte gleich morgen», sagte sie. «Morgen nach dem Mittag.»

«Morgen. Oh. Das passt.»

Als Treffpunkt vereinbarten die beiden Frauen den Bahnhof in Pontresina. Selma legte das Telefon beiseite und konnte sich nun endlich etwas entspannen. Das Seitenstechen war weg, auch der Bauch schmerzte bereits viel weniger. Selma hasste vage Einsätze.

Sie setzte sich an den Laptop und schrieb Nellie ein Mail, dass sie gerade einen Auftrag erhalten habe, der im August stattfinden würde, ihren Besuch aber nicht tangieren sollte. Selma rechnete damit, dass die Hochzeit und die von Haberer erwähnte Wanderung mit dem Brautpaar nicht mehr als zwei, drei Tage in Anspruch nehmen würde, höchstens eine Woche.

Danach schrieb sie Marcel eine WhatsApp-Nachricht und bat ihn um Verständnis, dass sie heute Abend zu Hause bleiben möchte, da sie morgen früh aufstehen müsse. Eigentlich hatten sie abgemacht, dass sie ihn besuchen würde.

Marcel antwortete wenige Minuten später, dass dies in Ordnung sei. Sie könnten später noch telefonieren.

Selma fühlte sich nun noch entspannter. Befreiter. Sie mochte Marcels Wohnung nicht besonders. Den Grund dafür wusste sie nicht. Lag es an der kargen Einrichtung? Am riesigen Büchergestell, das sie so ungebildet fühlen liess? Oder fühlte sie sich einfach in Marcels Reich nicht zu Hause? In Marcels Leben?

Selma wusste es wirklich nicht. War sie seltsam geworden? Eigen? Verschroben? Die Zeit würde all diese Fragen beantworten. Hoffentlich.

Sie verliess ihre Wohnung, rutschte auf dem Treppengeländer vom dritten Stock zum Hauseingang und holte in der Confiserie an der Schifflände zwei Hefeschnecken. Dann ging sie zurück ins Haus «Zem Syydebändel» und klingelte im ersten Stock bei ihrer Mutter.

«Fika?», fragte sie, als ihre Mutter die Türe öffnete.

«Selmeli», sagte Charlotte erfreut. «Was für eine Überraschung! Natürlich mache ich eine Kaffeepause mit dir. Sehr gerne sogar.»

Die Hefeschnecken konnten die schwedischen Zimtschnecken zwar nicht ersetzen, dafür schmeckte der Filterkaffee mit Zichorie richtig skandinavisch. Die beiden Frauen waren in der Stube, Charlotte sass mit angewinkelten Beinen aufrecht auf dem abgewetzten Biedermeiersofa. Selma erzählte, dass sie einen neuen Auftrag erhalten habe und dass sie bereits morgen für einen oder zwei Tage ins Engadin reisen würde. Danach führten sie den Smalltalk, wie er mit Charlotte Svea Legrand-Hedlund üblich war.

Schliesslich teilte Selma ihrer Mutter mit, dass sie mit Nellie definitiv abgemacht hätte: «Sie besucht uns im August. Zusammen mit ihrem Bruder Kristian, ihren Eltern Inger und Dagmar sowie ihrem Grossvater Arvid Bengt.» Selma hielt einen Moment inne und ergänzte: «Meinem leiblichen Vater.»

«Mon dieu, Selma, Liebes», sagte Charlotte, zog ihren Rock in die Länge und hüstelte. «Schon so bald?»

Selma ging nicht auf die Frage ein: «Darf ich noch den Rest deiner Hefeschnecken verdrücken? Ich war im Rhein und habe Hunger.»

«Bedien dich, Selmeli. War das Bad erfrischend? Du weisst hoffentlich, wie gefährlich der Rhein sein kann. Ich werde nie verstehen, wie man in dieser …» Charlotte suchte nach dem richtigen Wort.

«Kloake», ergänzte Selma. «Unser Freund Jonas Haberer nennt den Rhein Kloake.»

«Oh ja. Da hat Jonas recht. Weisst du, zu meiner Zeit …»

«Mama», unterbrach Selma. «Ich werde schon sehr bald meinen Vater kennenlernen. Und du wirst deinen Liebhaber wiedersehen.»

«Liebhaber! Selmeli, ich bitte dich.» Charlotte schüttelte den Kopf, und musste danach eine Haarsträhne ihrer Bob-Frisur wieder an den richtigen Ort rücken.

«Wie auch immer. Ich werde meinen Vater kennenlernen und ihm all die Fragen stellen können, die mich seit Monaten beschäftigen.»

«Aha», sagte Charlotte und starrte eine Zeit lang auf ihre Kaffeetasse. Schliesslich meinte sie: «Du kannst doch auch mich fragen.»

«Damit ich zu hören bekomme, wenn du überhaupt antworten würdest, dass Arvid Bengt erst vor Kurzem erfahren hat, dass es mich gibt? Damit du mir abermals versicherst, dass Arvid Bengt seine Gemälde dir ganz zufällig kurz nach dem Tod deines Ehemannes Dominic-Michel Legrand zugeschickt hat?»

«Selmeli», sagte Charlotte und erhob sich. «Es gibt Dinge, die von der Nachfolgegeneration moralisch anders bewertet werden, als …»

«Ich weiss», unterbrach Selma ihre Mutter abermals. «Trotzdem: Sage mir einfach die Wahrheit. Schliesslich bin ich deine Tochter. Und ich liebe dich, was auch immer ans Licht kommen mag.»

Selma umarmte ihre Mutter. Drückte sie fest an sich.

Charlotte sagte leise: «Selmeli. Ich würde dir die ganze Wahrheit erzählen, wenn ich sie kennen würde. Aber glaube mir: Ich kämpfe mit mir. Schon seit ich mit dir schwanger war.»

Gipfelkuss

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