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Sie war nackt. Und sie schwitzte. Ihre Brüste schmerzten. Ihr Bauch rumorte. Ihre Lippen waren spröde. Ihr Hals kratzte. Sie bekam keine Luft.

Marcel lag neben ihr und schlummerte friedlich. Selma stand auf, ging auf Zehenspitzen zum Fenster und öffnete es. Sie genoss den herrlichen Ausblick vom dritten Stock ihres Hauses «Zem Syydebändel» auf das nächtliche Basel und den schwarzen Rhein. Es hatte schon lange nicht mehr geregnet, der Wasserstand war tief. Selma lehnte sich aus dem Fenster und spürte einen schwachen Luftzug. Sie genoss es, wie die leichte Brise durch ihre dunkelbraunen, halblangen, gewellten Haare fuhr.

Sie ging zurück, setzte sich auf die Bettkante und schaute sich um. Ihre Kleider waren im ganzen Zimmer verstreut. Die Espadrilles mit hohem Keilabsatz lagen auf dem Boden, die kurze Jeanshose ebenso, die weisse Bluse hing am Schlüssel des Kleiderschranks, String und BH lagen neben der Nachttischlampe. Selmas Haut war klebrig. Ich muss schrecklich aussehen! Zum Glück habe ich keinen Spiegel im Zimmer, dachte sie. Es gibt doch tatsächlich Menschen, die einen Spiegel im Schlafzimmer haben. Einen Wandspiegel oder einen Spiegelschrank. Oder sogar einen Spiegel an der Decke. Wie kann man nur? Sich selbst nackt sehen? Sich alle Problemzonen vor Augen führen? Sich beim Sex zuschauen? Himmel!

Sie legte sich zurück zu Marcel, schloss die Augen, öffnete sie kurz darauf wieder und starrte an die weisse Decke mit den Stuckaturen. Sie begann, die Ornamente, Röschen und Blätter zu zählen. Obwohl sie aus anderen schlaflosen Nächten wusste, wie viele es waren.

Sie zählte nicht lange. Nicht, weil sie einschlief. Selma nervte sich. Es war einfach zu stickig im Zimmer. Und es roch anders als sonst. Es roch nach Mann. Das war zwar nicht grundsätzlich falsch, aber bei dieser Hitze einfach zu aufdringlich. Selma stand erneut auf, schlich ins Wohnzimmer und öffnete das Fenster zum Totentanz, dem kleinen Park mit der Predigerkirche vor ihrem Haus. Sie beobachtete die Blätter an den Bäumen des kleinen Parks. Sie bewegten sich kaum.

Eine kalte Dusche könnte helfen. Dann würde aber ihre Freundin Lea wach, die eine Etage unter ihr im zweiten Stock wohnte. Und auch Mama Charlotte im ersten Stock würde aufgeweckt werden. Schliesslich zischten die Wasserleitungen in diesem alten Haus ziemlich laut. Und weil kein Mensch um halb zwei Uhr morgens duschte, würden beide wissen, dass sie Sex gehabt hätten. Marcel und sie. Also Marcel mit ihr. Also Marcel. Sie hatte … Was hatte sie eigentlich? Klar, sie hatte mitgemacht, alles bestens, alles gut. Marcel war plötzlich so leidenschaftlich geworden. Sie wollte keine Spielverderberin sein, es war doch schön, dass er sie begehrte. Aber es war nicht so wie bei ihrem ersten Mal kurz vor Weihnachten in Engelberg.

Nein, ihr Liebesleben war nicht mehr so prickelnd. Und das machte Selma traurig. Was war passiert?

Zu gross die Frage. Selma schlüpfte in ihren Slip. Sie schloss die Schlafzimmertüre, verliess ihre Wohnung und stieg in die Mansarde, wo sie ihr Atelier hatte. Sie packte die Staffelei und trug sie die schmale Holztreppe hinauf auf die Dachterrasse. Dann holte sie Farben, Pinsel, Spachtel, die Palette, etwas Wasser und einen Lappen, schliesslich eine Leinwand und einen Hocker. Sie setzte sich, schaute hinauf zum Sternenhimmel und atmete tief durch. Hier draussen war die Luft einiges kühler als in der Wohnung.

Sie hörte leise das Rauschen des Rheins. Ein beruhigendes Geräusch. Selma schüttelte ihre Haare, tunkte den Pinsel in die blaue Farbe, tupfte ein bisschen Weiss dazu und begann, die Leinwand zu grundieren. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Jetzt fröstelte sie. Wie damals in der Gletscherspalte auf dem Titlis.

«Liebste, du malst!»

Selma erschrak, drehte sich reflexartig um, sah Marcel – und musste laut herauslachen.

«Okay, du lachst», sagte Marcel trocken. «Lachen ist gesund. Psychohygiene und so.»

«Natürlich, mein …» Selma konnte sich kaum mehr erholen. «Mein Hobbypsychologe.»

«Psychologe ausser Dienst, ich bitte dich», sagte Marcel. «Also immer noch studierter Psychologe, aber als Tram- und Buschauffeur tätig.»

Selma wurde von ihrem Gelächter durchgeschüttelt.

«Warum lachst du eigentlich? Lachst du über mich?»

«Nein, natürlich …» Wieder prustete Selma drauflos.

«Also doch. Erkläre mir bitte, was an mir so lustig ist.»

Selma legte den Pinsel beiseite, putzte ihre Hände an einem Lappen ab, tätschelte ihre Wangen und versuchte, ein ernsthaftes Gesicht zu machen. Doch es half alles nichts. Sie musste schon wieder grinsen und Marcel ihr Grübchen in der rechten Wange präsentieren. Dabei zeigte sie auf Marcels Unterleib.

Jetzt sah er es auch. Er trug diese Unterhose mit dem tränenlachenden Smiley verkehrt herum, das Lachgesicht war nicht hinten, wo es hingehörte, sondern vorne. Selma hatte ihm diesen Slip bei einer gemeinsamen Shoppingtour gekauft. Marcel hatte sich aber immer geweigert, ihn anzuziehen. Bis heute.

«Sehr witzig», sagte Marcel. «Ich habe einfach in die Schublade gegriffen und nicht auf das Muster geachtet.»

«Excusé, das sieht einfach zum Schreien aus», sagte Selma, «ein Lachsack vor deinem … du weisst schon!» Und dann musste sie nochmals laut herauslachen und nach Luft schnappen. Sie hielt sich den Bauch.

Marcel strich ihr sanft über die rechte Wange mit dem Grübchen, neigte sich zu ihr hinunter und küsste sie zärtlich auf den Mund. Dann schaute er ihr lange in die Augen. «Du bist wunderschön», flüstere er.

Selma fuhr mit der Hand durch Marcels kurze, schwarze Haare. Dann schnappte sie sich ein Kissen von einem der beiden Liegestühle und reichte es Marcel: «Setz dich neben mich auf den Boden. Wir malen zusammen.»

«Wir malen zusammen?», fragte Marcel erstaunt.

«Ja, Liebster», hauchte Selma.

«Ich durfte dir noch nie zuschauen, wenn du malst. Was ist denn …»

Selma hielt ihren Zeigefinger auf Marcels Mund. Marcel legte das Kissen neben Selma auf den Bretterboden der Dachterrasse, setzte sich und lehnte seinen Kopf gegen Selmas nackten Oberschenkel. «Stört dich das?»

Selma gab ihm einen Kuss und sagte: «Nein, es ist schön.» Dann nahm sie die Palette und den Pinsel und begann, alle möglichen Blautöne auf die Leinwand aufzutragen. Das Bild wurde immer kälter, düsterer, bedrohlicher.

Selma versank in ihrer Malerei. Das leise Rauschen des Rheins wurde lauter. Es verwandelte sich in das Tosen des Bachs, der tief unten in diesem schwarzen Loch des Gletschers zu hören gewesen war, in das Selma gefallen und erfroren wäre, hätte sie nicht das Seil der Skifahrer ergreifen und sich retten können.

Sie bekam Hühnerhaut. Was war das für eine abenteuerliche Geschichte damals in der Vorweihnachtszeit. Die Reportage über die verrückten Freerider in Engelberg, ihr Sturz in die Spalte auf dem Titlisgletscher, die Lawine. Und natürlich ihre Begegnung mit den Wölfen.

Ihr Auftraggeber Jonas Haberer hatte recht behalten: Selmas Fotos des jungen Wolfspaares aus dem Engelbergertal liessen sich erfolgreich verkaufen. Selma gab Interviews für Zeitungen, Radio- und Fernsehstationen. Sie war ein kleiner Star geworden. Drei Mal war sie nochmals nach Engelberg gefahren, um die Wölfe zu suchen. Aber sie hatte sie nicht mehr gefunden. Niemand hatte sie noch einmal gesichtet. Das kleine Rudel war weitergezogen.

Selma dachte oft an die Wölfe. Sie malte sie. Auch mit ihrem Nachwuchs, den die Tiere nun sicher hatten. Selma hatte alle möglichen Szenen gemalt: Die Wölfe beim Kuscheln in einer Höhle, beim Spielen, bei der Jagd. Ihre Gemälde waren manchmal realistisch, oft jedoch abstrakt. Selma liebte es, in ihren Werken eine Stimmung auszudrücken und die Wölfe nur anzudeuten. Eine Schnauze, ein Augenpaar, Pfoten.

Bis heute hatte Selma nur noch Wolfsbilder gemalt. In den letzten Monaten hatte sie Zeit dazu. Es herrschte Flaute, Aufträge für grosse Reportagen blieben aus. Auch Werbeshootings gab es wenige. Selbst Tausendsassa Jonas Haberer kämpfte um neue Einnahmequellen. Er motivierte Selma, ein Buch mit ihren besten Wolfsfotos und ihren Wolfsgemälden zu machen. Selma malte und schrieb tage- und nächtelang. Es wurde ein schönes, ein spannendes Buch mit all ihren Erlebnissen. Bald würde es erscheinen.

Sie lehnte sich zurück, kniff die Augen zusammen und betrachtete nun ihr eiskaltes Werk. Es schauderte sie. Am Horizont wurde es bereits hell. Die ersten Vögel piepsten.

Marcel war längst eingeschlafen.

Gipfelkuss

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