Читать книгу Gipfelkuss - Probst Philipp - Страница 14

9

Оглавление

Während die Seilbahn langsam ins Tal hinunterfuhr, hing Katharina die ganze Zeit am Telefon. Selma hörte nicht hin. Sie schaute aus dem Fenster, schoss einige Fotos mit der Kamera, machte mit dem Smartphone ein Selfie, das sie an Marcel schickte: «Der Berg ruft. Wir werden Alpinisten.»

Nach wenigen Sekunden schrieb Marcel zurück: «Wir?»

Selma: «Wir! Sport tut dir auch gut.»

Marcel schickte nur ein nachdenkliches Emoji zurück.

Selma: «Nicht überlegen. Machen!»

Marcel: «Verstanden!»

Selma: «Ein gemeinsames Hobby tut uns gut.»

Marcel: «Wie meinst du das?»

Selma zuckte innerlich zusammen, starrte auf den Bildschirm, las ihren letzten Satz noch einmal: «Ein gemeinsames Hobby tut uns gut.» Ja, wie meinte sie das? Sie hatte es spontan geschrieben. Aber: War es nicht die Wahrheit? Selmas Hobbys waren die Malerei und die Fasnacht. Marcel kochte oft und gerne und las ein kluges Buch nach dem anderen. Aber ein gemeinsames Hobby hatten sie nicht. Zusammensein, ausgehen, spazieren, wandern, Freunde treffen – Selma fragte sich: Gilt solches als Hobby? Muss man als Paar nicht gemeinsame Interessen haben? Waren ihre vorherigen Partnerschaften nicht deswegen gescheitert? Was hatte sie mit Robert, dem etwas oberflächlichen Banker, gemeinsam? Ausser heissem Sex. Mit Christian, dem viel zu lieben Familienmenschen, der gerne zu Hause hockte oder in seiner Garage an seinem Oldtimer herumschraubte? Mit Alejandro, dem unter Dauerstrom stehenden Manager? Nichts. Ja, Selma und Marcel brauchten ein gemeinsames Hobby. Aber warum stellte sie sich überhaupt solche Fragen?

«Na?», sagte Katharina. «Alles klar?»

«Ähm, ja, sicher», sagte Selma, steckte das Smartphone weg und schaute zum Fenster hinaus. Die Kabine erreichte soeben die Talstation.

«Ich habe mit Julia telefoniert. Wenn du möchtest, könnten wir sie gleich treffen. Sie ist in Pontresina. Oder hast du keine Zeit mehr?»

«Doch, schon, ich muss mir aber noch ein Hotelzimmer organisieren.»

«Das ist das kleinste Problem», sagte Katharina. «Wir sind noch in der Vorsaison.»

Während der Autofahrt von der Talstation der Diavolezza-Bahn nach Pontresina erzählte Katharina, dass sie im Winter als Schneesportlehrerin und im Sommer als Bergführerin arbeitete.

«Und dazwischen?»

«Conrad und ich bauen uns gerade ein Netzwerk auf, um als Tourenleiter auch im Ausland tätig zu sein. Julia unterstützt uns dabei mit ihrem Netzwerk.»

«Toll», sagte Selma. «Dann macht ihr alles gemeinsam. Geht das überhaupt?»

«Das werden wir sehen. Wir kennen uns schon so lange. Wird schon klappen.»

«Schön», sagte Selma und dachte an Marcel. Ein gemeinsames Geschäft konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen. Passte schon beruflich nicht. Alles gemeinsam zu machen – das wäre für Selma dann doch zu viel. Sie unterbrach ihren Gedankengang: «Wer war eigentlich dieser ältere Herr da oben im Liegestuhl?»

«Carlo», sagte Katharina. «Das war Carlo. Unser Bergsteiger-Crack. Er ist in Rente und musste seiner Frau versprechen, keine gefährlichen Touren mehr zu machen und immer rechtzeitig nach Hause zu kommen. Also wandert er meist die Diavolezza hinauf oder zum Muottas Muragl, einfach überall, wo es eine Bahn hat, mit der er hinunterfahren kann. Sein rechtes Knie ist kaputt. Aber er will es nicht operieren lassen. Trotzdem besucht er ab und zu auch die Berghütten, die mit keiner Bahn zu erreichen sind. Dann erzählt er von seinen vielen Erlebnissen und kommt kaum mehr ins Tal hinunter wegen der Schmerzen.»

«Er hat mich so seltsam angestarrt.»

«Du hast ihm halt gefallen.» Katharina schmunzelte. «Carlo ist ein guter Typ. Er ist für alle Bergsteiger ein Vorbild. Hatte nie einen schlimmen Unfall. Manchmal ist er schon ein …» Katharina konzentrierte sich auf die Strasse. Es folgte eine Haarnadelkurve, Katharina bremste, schaltete zurück und fuhr äusserst vorsichtig weiter.

Selma lächelte. Sie erinnerte sich an den halsbrecherischen Fahrstil Martinas, dem Wirbelwind auf der Alp im Berner Oberland. Selma müsste sich wirklich wieder einmal bei ihr melden. Sich nach Res und ihrem gemeinsamen Sohn erkundigen. Sie vielleicht sogar einmal besuchen!

«Also», sagte Katharina nach der engen Kurve, «Carlo ist manchmal ein etwas seltsamer Kauz. Sehr gläubig. Er wohnt wie ich in Pontresina. Chesa Pio. Benannt nach dem heiligen Padre Pio. Carlos Frau ist Italienerin und noch viel gläubiger als er. Und ihr gemeinsamer Sohn Tomaso ist Helikopterpilot in Samedan.»

Katharina fuhr vorsichtig durch die nächste Kehre. Selma fühlte sich sicher. «Wenn du so besonnen bergsteigst wie du autofährst, dann bin ich dabei», sagte Selma.

«Freut mich.»

Den Rest der Fahrt schwiegen die beiden Frauen. Selma musste gegen die Schläfrigkeit ankämpfen.

Als Selma und Katharina wenige Minuten später Pontresina erreichten, parkierte die Bergführerin das Auto vor einem Sportgeschäft mit der Bemerkung, dass sie eine gute Kundin sei und ausserhalb der Saison ihr Auto hier abstellen dürfe. Sie stiegen aus, gingen ein paar Schritte und betraten ein renoviertes Engadinerhaus: wuchtige Mauern, kleine Fenster, verzierte Fassade, mit verschiedenen geometrischen Formen bemalte Ecken und Kanten. Katharina ging durch die Lobby – das Haus war offensichtlich ein Hotel, was Selma von aussen nicht aufgefallen war – und öffnete eine schwere Eisentüre, über der «Bar» geschrieben stand. Dahinter war es düster. Und alles war aus Eisen. Die Tische, die Stühle, der Tresen, die Kerzenständer. Die Bar war offensichtlich ein Szenelokal, nannte sich Selinas Place, und hätte auch in Basel, Zürich, Mailand, London oder New York sein können.

Selma wollte sich etwas genauer umsehen. Doch plötzlich betrat eine blonde junge Frau die Bar, umarmte Katharina und begrüsste danach Selma ebenfalls mit einer Umarmung, allerdings eher mit einer angedeuteten. Selma fielen sofort die hellgrünen Augen auf, die etwas giftig, aber auch geheimnisvoll wirkten.

«Selma Legrand-Hedlund, welch grosse Ehre», sagte die Frau strahlend. «Ich bin Julia und eine grosse Bewunderin von dir.» Julia hatte eine weiche, sympathische Stimme.

«Oh», sagte Selma. «Du machst mich verlegen.»

«Du bist die Wolfsfrau und machst meine Hochzeitsreportage perfekt.»

«Hochzeitsreportage?», fragte Selma irritiert.

«Genau, Hochzeitsreportage. Hat man dir das nicht gesagt?»

«Nicht wirklich.»

«Also, pass auf, liebe Selma. Ich kann dich doch nicht nur als Hochzeitsfotografin engagieren, hallo?» Dann erzählte sie äusserst aufgeregt, dass sie sich ein ganzes Buch wünsche mit vielen tollen Fotos und schönen Texten.

Aha, dachte Selma. Das rechtfertigte nun auch das hohe Honorar. Viel Arbeit. Aber trotzdem noch immer sehr gut bezahlt.

Julia erzählte von ihrem Konzept. Erstes Kapitel: Die Hochzeit in der kleinen Kapelle im Fextal. Zweites Kapitel: Das Fest in der Chesa Lej da Diavolezza, der Villa in St. Moritz. Drittes Kapitel: Das Brautpaar auf dem Piz Bernina. Und auf dem Titel sollte der Gipfelkuss zu sehen sein. «Ich bin so glücklich, euch beide in meinem Team zu haben», beendete Julia ihren Vortrag. Dann bestellte sie beim mürrisch dreinschauenden Barkeeper drei Glas Sekt.

Das war sie also, die Braut. Die Braut, die Jonas Haberer «stinkreiche Tussi» genannt hatte. Aber nichts deutete darauf hin, dass sie tatsächlich eine solche war. Julia trug ein verwaschenes T-Shirt und keinen Schmuck. Sie war nicht einmal geschminkt. Auch im Gespräch wirkte sie alles andere als arrogant. Sie interessierte sich für Selmas Arbeit, für ihre Erlebnisse, für die Wölfe und für Selmas Mission, sich für den Tier- und Naturschutz einzusetzen.

Selma hatte auch rasch erkannt, dass Julia eine wohlerzogene, gebildete Frau aus besserem Hause war. Wie sich Julia ausdrückte, wie sie zuhörte, wie sie sich bewegte – all das erinnerte Selma an ihre Mutter Charlotte. Und natürlich an sie selbst.

Was Selma ebenfalls auffiel: Julia schwärmte für Stefano wie ein Teenager. Auf dem Smartphone zeigte sie Bilder von ihm. Ja, da hatte Haberer wohl recht. Stefano entsprach dem Bild des italienischen Machos hundertprozentig: Schwarze Haare, dunkler Teint, auf den meisten Bildern trug er eine Sonnenbrille und lächelte charmant in die Kamera. Manchmal etwas schief, aber durchaus sexy.

«Wir drei Frauen gehen die Himmelsleiter hinauf und finden zu unserem Glück», sagte Julia und hob ihr Glas.

Nach dem Prosten schickte sie Selma ihre Kontaktdaten als Visitenkarte aufs Handy und sagte: «Du kannst mich jederzeit anrufen. Selma, es ist so schön, dass du in meinem Team bist.»

Team? Schon wieder erwähnte sie das. Was Selma etwas seltsam vorkam. Selma nahm einen Schluck Sekt, schaute sich die virtuelle Visitenkarte an. Und hätte sich beinahe verschluckt.

Julia von Gernhild stand da.

War sie, Selma Legrand-Hedlund, tatsächlich die Hochzeitsfotografin von Julia von Gernhild?

Gipfelkuss

Подняться наверх