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Charlotte verbrachte den halben Nachmittag in Selmas Malatelier im Dachgeschoss. Es war brütend heiss. Aber das nahm Charlotte nicht richtig wahr. In ihren Gedanken war sie ganz woanders. Sie war bei Arvid Bengt Ivarsson, ihrem schwedischen Mittsommernachtsschwarm, Selmas Vater. Jetzt würde sie ihn also wiedersehen.

Charlotte schaute sich alle 34 Gemälde, die ihr Arvid Bengt anonym über eine Kunstagentur nach dem Tod ihres Mannes Dominic-Michel hatte zukommen lassen, genau an. Wie so oft in den vergangenen Jahren, in denen sie ihr Geheimnis hatte hüten können. Nächtelang hatte sie versucht, das Rätsel zu lösen. Und obwohl sie ein Leben lang als Kunsthistorikerin gearbeitet hatte, kam sie einfach nicht drauf: Was wollte ihr Arvid Bengt mit diesen Gemälden sagen?

Seit ihr Geheimnis gelüftet war und die Bilder nicht mehr in der Kammer im zweiten Stock des Hauses «Zem Syydebändel» lagerten, sondern in Selmas Atelier, konnte Charlotte die Bilder nicht mehr regelmässig betrachten. Sie fürchtete, dass dies Selma auffallen und sie sich fragen würde, warum ihre Mutter diese Bilder so intensiv studierte. Deshalb ging sie nur ins Dachgeschoss, wenn sie sicher war, dass Selma nicht zu Hause war.

Was wollte ihr Arvid Bengt mitteilen? Was übersah sie? Es waren 34 Landschaftsbilder, gemalt über viele Jahre, denn es zeichnete sich eine künstlerische Entwicklung ab, erst waren die Bilder naturnah, dann impressionistisch, zuletzt abstrakt. Eine ähnliche Entwicklung, wie sie auch Selma in ihrer künstlerischen Arbeit durchmachte, obwohl sie von ihrem leiblichen Vater nichts wusste. Bis zu jenem Tag, als Charlotte ihre Tochter in diese Kammer geführt hatte, hatte Selma kein einziges Bild ihres Vaters gesehen.

Vielleicht steckte das Geheimnis in der Zahl 34. Aber Charlotte konnte ihre Vergangenheit so lange durchrechnen, wie sie wollte: Die Zahl 34 passte zu nichts, was in ihrem Leben eine Rolle gespielt hätte. Als sie Arvid Bengt kennengelernt hatte, war sie Ende zwanzig. Sie hatte ihr Studium der Kunstgeschichte in Basel abgeschlossen und mehrere Praktika in Museen in der Schweiz und in Frankreich absolviert und verbrachte in jenem Jahr einige Monate an der Kunstakademie in Stockholm. Arvid Bengt war zwei Jahre älter, also auch keine 34.

Charlotte konnte in der Zahl 34 auch nichts Magisches oder Esoterisches erkennen. Vielleicht müsste sie Marcel fragen. Vielleicht hatte er eine Antwort. Er hatte doch immer eine Antwort.

Die Bilder zeigten auch nicht alle die gleiche Landschaft. Auch nicht die gleichen Häuser oder Figuren. Oft war Charlotte abgebildet, aber nicht auf allen Bildern. Zudem hing ein weiteres Gemälde von Arvid Bengt in einem Hotel in Engelberg, auf dem sie ebenfalls zu sehen war. Aber jenes Bild passte definitiv nicht in die Reihe der 34 Bilder, die Charlotte bekommen hatte, es war ganz anders aufgebaut und gemalt.

Warum 34 Bilder? Es musste eine Verbindung geben. Davon war Charlotte überzeugt. Entweder sah sie sie nicht. Oder es fehlten einige Bilder. Genau, es mussten einige Bilder fehlen. 34 ergab einfach keinen Sinn.

Charlotte schaute abermals die Bilder durch. Die ungerahmten Gemälde waren wie in einem Postershop in einem Gestell gelagert, sodass sie sie durchblättern konnte. «Ich erkenne die Verbindung, die Gemeinsamkeit nicht», murmelte Charlotte. «Ich sehe sie nicht, weil ich sie nicht sehen kann.» Sie schluckte und sagte dann leise: «Weil ich zu nah dran bin.»

Tatsächlich hatte sie die Bilder noch nie aus Distanz betrachtet. Als sie damals das Paket bekommen hatte, hatte sie die Bilder kurz durchgeblättert und dann in den zweiten Stock in die Kammer gelegt. Und sie immer nur nachts bei schlechter Beleuchtung und aus der Nähe betrachtet. Doch Bilder können ganz anders wirken, wenn sie aus Entfernung betrachtet werden. Aber dies hatte sie nie getan. Aus Angst, Selma oder Elin könnten sie dabei erwischen. Doch jetzt müsste sie die Bilder in einem grossen Saal bei gutem Licht aufhängen oder aufstellen und studieren können. Vielleicht würde sie dann das verbindende Element erkennen.

Und dann würde sie sich vielleicht auch erklären können, warum es 34 Bilder waren. Oder warum einige Bilder fehlten. Hatte Arvid Bengt ihr bewusst nur einen Teil geschickt, um das Geheimnis aufrechtzuerhalten?

Natürlich hätte Charlotte ihn einfach fragen können. Schliesslich hatte sie vor einigen Monaten schon einmal mit ihm telefoniert und ihm mitgeteilt, dass er in der Schweiz eine Tochter habe. Warum hatte er eigentlich so ruhig darauf reagiert? Warum hatte er das einfach so hingenommen? Weil er es bereits wusste? Von wem? Hatte Dominic-Michel etwa Kontakt zu ihm gehabt? Oder sogar Charlottes Vater, der grosse Forscher Hjalmar Hedlund? Oder hatte Arvid Bengt eine mystische Verbindung zu Selma?

«Mais non», flüsterte Charlotte. Nein, Mystik gab es allenfalls in der Kunst, aber nicht im wahren Leben. Und wenn sie Arvid Bengt anrufen und ihn das alles fragen würde? «Mais non», wiederholte sie. Unmöglich. Zu persönlich. Zu intim. Zu … peinlich? Offene Fragen offen ansprechen? Nein, das war nicht ihr Ding, das hatte sie nie gelernt. Totschweigen schon eher. Vielleicht war alles nur Zufall. Und Arvid Bengt hatte so ruhig reagiert, weil er noch immer jener stille, grosse, schöne und geheimnisvolle Schwede war, in den sie sich damals verliebt hatte.

«Oh ja», flüsterte Charlotte und schaute vom Atelier zum Rhein hinunter. Jetzt spürte sie die enorme Hitze. Sie hatte Schweissperlen auf der Stirn. «Verliebt …» Charlotte spürte einen Stich im Herzen. Einen, wie sie ihn seit sehr langer Zeit nicht mehr gespürt hatte.

Würde sie tatsächlich Arvid Bengt Ivarsson wiedersehen? Was würde mit ihr passieren? Mit Selma? Mit der ganzen Familie?

Charlotte legte ihre rechte Hand auf ihre linke Brust, spürte den Herzschlag: «Arvid Bengt, meine grosse Liebe, ich werde dein Geheimnis lüften, noch bevor ich dich wiedersehen werde.»

Gipfelkuss

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