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Der Vorsatz war da, aber mit der Umsetzung haperte es. Selma sass an ihrem Laptop, trank bereits den dritten Milchkaffee und hatte noch keinen Satz zustande gebracht. Der Cursor blinkte unaufhörlich unter der Anrede «Hei Nellie».

Selma hatte selten einen Schreibstau, wenn sie eine Reportage schreiben musste. Und wenn, dann half Kaffee. Aber in diesem Fall hatte auch das nichts gebracht.

Da sie nicht nur genügend Kaffee getrunken, sondern auch schon ihre Haare hatte frisieren lassen, gab es nur noch eines: einen Spaziergang. Oder Marcel. Oder beides. Sie schrieb Marcel eine Nachricht und freute sich, dass er kurz darauf antwortete. Sie verabredeten sich in einer Stunde in der Confiserie Seeberger an der Schifflände. Also würde sie vorher noch ein bisschen durch die Stadt spazieren. Sie warf einen prüfenden Blick in den grossen Spiegel, der im Entrée stand, war zufrieden und wollte ihre Wohnung verlassen. Doch dann drehte sie um, ging ins Schlafzimmer und zog sich bis auf die Unterwäsche aus. Ihr war in den Sinn gekommen, dass sie die kurze Jeanshose, die sie gerade anhatte, gestern Abend schon getragen hatte, als Marcel zu ihr gekommen war. Also musste sie etwas anderes anziehen. Nein, sie musste nicht, sie wollte. Marcel würde es wahrscheinlich nicht bemerken, aber schliesslich musste sie sich selbst gefallen. Zweimal hintereinander in den gleichen Kleidern zu erscheinen, ging nicht. Das hatte sie von ihrer Mutter Charlotte gelernt.

Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Es war erneut ein heisser, wolkenloser Frühsommertag. Selma hatte Lust auf ein Kleid. Oder doch auf einen Rock und ein freches Oberteil? Jedenfalls etwas Leichtes, Kurzes. Sie tänzelte von einem Bein aufs andere, fuhr mit den Händen durch ihre Haare, drehte an ihren silbernen Fingerringen. Ach, sie hatte einfach nichts anzuziehen. Sie müsste unbedingt shoppen gehen.

Sie entschied sich schliesslich für das weisse Sommerkleid mit dem Pflanzenmuster, betrachtete sich im Spiegel, ging zum Schuhschrank und musste feststellen, dass sie keine Schuhe besass, die zu diesem Kleid passten. Sie müsste auch Schuhe kaufen. Unbedingt. Sie nahm die weissen Sneakers aus dem Kasten, zog sie an, prüfte sich erneut im Spiegel – und war einigermassen zufrieden.

Im Treppenhaus setzte sie sich wie fast immer auf den Handlauf und rutschte Etage um Etage ins Parterre. Erst dort wurde ihr bewusst, dass ihr Kleid weiss war und durch die Rutscherei jetzt dreckig sein könnte. Schnell huschte sie in Leas Coiffeursalon und fragte ihre Freundin, ob das Kleid verschmutzt sei. Lea verneinte und strich das Kleid an ihrem Po glatt.

«Du siehst toll aus», sagte Lea. «Hast du ein Date?»

«Ja», antwortete Selma, zwinkerte Lea zu und lächelte.

«Oh, dieses umwerfende Lächeln und das süsse Grübchen», meinte Lea. «Du wirst Marcel den Kopf verdrehen.»

«Marcel? Besteht meine Männerwelt nur noch aus Marcel?»

«Natürlich nicht», sagte Lea gespielt erstaunt. «Wie hiessen deine letzten Lover schon wieder? Res, Lasse, Björn?»

Res, der Senn vom Saanenland, mein Jugendschwarm, den ich auf der Alp wiedergetroffen habe, sinnierte Selma. Lasse und Björn, die beiden Schweden, die ich in Engelberg kennengelernt habe. «Tiefste Vergangenheit», sagte Selma zu ihrer Freundin. «Res hat mit seiner früheren Sennerin und heutigen Frau Martina einen Sohn bekommen. Hotelier Björn verträgt sich dank Marcels Therapie wieder mit seiner Frau. Und der schöne Alles-ist-easy-Lasse ist tatsächlich mit der gestalkten Sylvia nach Schweden zurückgekehrt.»

«Und du bist endlich mit Marcel zusammen», sagte Lea. «Nur ich bin alleine.» Sie liess die Mundwinkel hängen und tat so, als müsste sie weinen. Dann lachte sie und umarmte Selma.

Mit leichten Schritten und schönen Gedanken verliess Selma Leas Salon und ging Richtung Innenstadt.

Doch schon nach wenigen Metern hörte sie, wie jemand ihren Namen rief. War das nicht Marcels Stimme? Selma drehte sich um und sah tatsächlich Marcel vor sich. Er trug die Uniform der Basler Verkehrs-Betriebe und strahlte sie an.

Selma gab ihm einen Kuss und fragte: «Warum bist du schon da? Wir haben doch erst in einer Stunde abgemacht.»

«Die Stunde ist längst vorbei, Liebste.»

Hatte sie tatsächlich so viel Zeit vor ihrem Kleider- und Schuhschrank vertrödelt? «Oh», machte Selma nur.

«Dein Kleid ist umwerfend.»

«Danke. Aber die Schuhe passen nicht.»

«Die passen bestens. Und du warst bei Lea. Deine grossen Wellen im Haar gefallen mir.»

Selma hängte sich bei Marcel ein und schlenderte mit ihm zur Confiserie Seeberger an der Schifflände. Dort bestellten sie sich je einen Latte Macchiato. Selma erzählte Marcel von Nellies Mail, von deren Absicht, mit ihrer Familie in die Schweiz zu reisen, und dass sie es einfach nicht fertigbringe, ihr zurückzuschreiben und sie einzuladen «Du sagst gar nichts», meinte Selma plötzlich.

«Ich komme nicht dazu.»

«Oh, der Herr Psychologe ausser Dienst ist beleidigt! Er hört sich lieber selbst reden.»

«Das weisst du ja, Liebste. Aber endlich sprichst du einmal über dieses Thema. Wenn du Nellie nicht schreiben möchtest, verstehe ich es. Vielleicht brauchst du einfach noch etwas Zeit.»

«Was würdest du tun?»

«Liebste, es gibt so viele Unklarheiten. Du hast doch damals in Engelberg selbst gefragt: Warum schickte dein leiblicher Vater Arvid Bengt seine Gemälde an deine Mutter just nach dem Tod deines Stiefvaters Dominic-Michel Legrand? Was wusste er wirklich von dir? Hat deine Mutter etwas verschwiegen? Es geht nicht nur darum, deinen Vater kennenzulernen, es geht auch darum, dich selbst und deine Mutter neu kennenzulernen.»

«Was würdest du tun?», fragte Selma geradeheraus.

«Ich würde Nellie und ihre Familie willkommen heissen.»

Willkommen heissen, wiederholte Selma stumm. Er wirkte so sicher. Sie spürte, wie sich ihre Zerrissenheit auflöste. Wie sich Gewissheit breitmachte. Gewissheit darüber, dass sie endlich den schwedischen Teil ihrer Familie kennenlernen sollte.

Selma schaute Marcel lange an, ohne etwas zu sagen. Sie lächelte. Denn sie hatte gerade noch eine andere Gewissheit erlangt. Die Gewissheit, dass Marcel immer noch ihr bester Freund war. Auch wenn er jetzt ihr Liebhaber und ihr Partner war. Selma legte ihre Hand auf Marcels Arm und sagte: «Danke.»

«Danke wofür?», fragte Marcel irritiert.

«Dass du für mich da bist.»

«Das ist doch selbstver…»

«Nein, ist es nicht», unterbrach Selma. «Danke für deine Freundschaft.»

Marcel wollte etwas sagen, doch Selma lehnte sich zu ihm hinüber und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen.

«Wir wollen natürlich nicht stören, aber auf einen Kaffee hätten wir auch Lust.»

«Mama, Elin!», sagte Selma erstaunt. «Was macht ihr hier?»

«Ich war einkaufen», sagte Charlotte und stellte ihre zwei grossen Tüten auf den Boden. «Deine Schwester hat mich freundlicherweise begleitet.»

«Ist das ein Vorwurf?»

«Natürlich nicht, Liebes. Du hast schliesslich …», sie warf einen Blick zu Marcel, «… wichtigeres zu tun, als mit deiner alten Mutter durch die Läden zu ziehen. Ist es gestattet?»

Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte sich Charlotte neben Selma an den Tisch und zog ihren kurzen Rock über die Knie. «Hach, das tut gut.»

«Gut seid ihr da», sagte Selma und fuhr mit beiden Händen durch ihre Haare. «Ich habe euch etwas zu sagen.»

«Da sind wir gespannt», meinte Charlotte und lächelte Marcel an. «Bekommt das Haus ‹Zem Syydebändel› einen neuen Mitbe…»

«Mama», unterbrach Selma. «Wir werden bald Besuch bekommen. Ich werde Nellie und ihre Familie einladen.»

«Toll», sagte Elin sofort. «Endlich. Komm her, Selma.» Die beiden Schwestern umarmten sich lange.

Charlotte hüstelte, zupfte ein Taschentuch aus ihrem Jäckchen und tupfte sich die Nase. «Darf ich fragen, meine liebe Selma Legrand-Hedlund, wen du genau meinst, wenn du von Nellies Familie sprichst?»

«Liebe Maman Charlotte Svea Legrand-Hedlund», antwortete Selma ebenso förmlich, «ich meine damit Nellies Bruder, ihre Eltern und …» Sie hielt inne.

«Arvid Bengt Ivarsson», murmelte Charlotte und starrte auf den Tisch. «Nellies Grossvater. Dein Vater.»

Gipfelkuss

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