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PROLOG
ОглавлениеWürde er es noch schaffen?
Carlo nippte an seinem Bier und blinzelte in die Sonne. «Viva», prostete er sich selbst zu. Nach der Tour, nach der Anstrengung, wenn er so richtig durstig war, gab es für ihn nichts Schöneres als ein kühles Bier. Heute war er auf den Munt Pers gestiegen und sass nun auf der Sonnenterrasse der Bergstation Diavolezza, der Teufelin. Er stellte das Glas auf den Holztisch, wischte sich mit dem Handrücken über den grossen, weissen Schnurrbart, setzte die Sonnenbrille auf und betrachtete das Panorama: Der imposante Piz Palü mit seinen drei Gipfeln auf der linken Seite, der über 4000 Meter hohe Piz Bernina mit dem weissglänzenden Firngrat, dem Biancograt, auf der rechten. Und dazwischen der Pers- und der Morteratschgletscher.
Würde er es noch schaffen?
Diese Frage quälte ihn. Eine Antwort könnte er nur finden, wenn er es versuchen würde. Er war sein Leben lang in den Bergen unterwegs gewesen, hatte seine Hausberge Piz Palü und Piz Bernina oft bestiegen. Wie oft eigentlich genau? Carlo wusste es nicht. Es müssten hunderte Male gewesen sein. So oft es in einem ausgefüllten Bergführerleben eben möglich war.
Ein Leben, das es nicht mehr gab.
Vor acht Jahren war er zum letzten Mal auf dem Piz Bernina. Das war an seinem 65. Geburtstag. Als er am Abend ins Tal zurückkehrte, war er Rentner. Bergführer-Rentner. Und auch Bergsteiger-Rentner. Er hatte es seiner Frau versprochen. Benedetta war eine gläubige Italienerin und hatte ihm klargemacht, dass der Herrgott lange genug seine schützende Hand über ihn gehalten habe.
So spazierte er oft mit seiner Frau den vier Engadiner Seen entlang, dem Silser- und dem Silvaplanersee, dem Lej da Champfèr und dem St. Moritzersee. Oder er ging durch den Stazerwald mit den mächtigen Arven- und Lärchenbäumen zwischen Pontresina und St. Moritz. Oder durchs romantische Fextal bei Sils im Engadin. In die Höhe wollte Benedetta nicht. Nicht einmal mit einer Seilbahn. Die über 1700 Höhenmeter des Oberengadins waren ihr seit jeher hoch genug.
Also ging Carlo alleine in seine hochalpine Bergwelt, musste seiner Frau aber versprechen, auf den markierten Bergwegen zu bleiben. Er hielt sich daran. Meistens. Hin und wieder ein kleiner Abstecher auf den Morteratsch- oder den Persgletscher. Oder auf den Roseggletscher auf der anderen Seite des Piz Berninas. Das lag drin. Das blieb ein Geheimnis zwischen ihm und dem Herrgott.
Der Herrgott hatte schliesslich noch anderes zu tun, als Benedetta über die kleinen Sünden ihres Ehemanns zu informieren. Gott würde ihm verzeihen. Schliesslich hatte sich Carlo ein Leben lang bei seinen Expeditionen nicht nur auf sein Wissen und seine Erfahrung verlassen, sondern auch auf seine Intuition, die er als göttliche Eingebung verstand. Natürlich war auch er am Berg in gefährliche Situationen geraten, alleine oder mit seinen Gästen, aber einen schlimmen Unfall hatte er nie erleben müssen.
Vor allem wenn der Piz Bernina mit dem Biancograt auf seinem Programm stand, hörte er auf die göttliche Stimme. Und so brach Carlo eine Tour auch einmal vorzeitig ab. Nicht von ungefähr wird der Biancograt, dieser schmale Grat zum Piz Bernina, auch Himmelsleiter genannt. Carlo verstand diese Bezeichnung immer zweideutig: Die Leiter führte die Menschen nicht nur zum Piz Bernina, sondern nahe zum Himmel – oder in den Himmel hinein. Schon viele Bergsteiger waren am Biancograt ums Leben gekommen.
Obwohl Carlo keineswegs so religiös war wie seine Frau, hatte er Ehrfurcht. Ehrfurcht vor Gott. Vor der Natur. Bei jedem Gipfelerfolg hatte er sich bekreuzigt und Gott gedankt.
Carlo trank sein Bier aus. Er stand auf und ging zu den Liegen. Er humpelte. Das rechte Knie schmerzte. Fürchterlich. Tausend Nadelstiche. Dieses blöde Knie! Es war der wahre Grund, dass er es nicht mehr schaffte. Dass er weder den Palü noch den Bernina besteigen könnte. Besteigen vielleicht schon. Aber wie würde er wieder hinunterkommen? Mit dem Helikopter? Wie erbärmlich. Nein, nein und nochmals nein. Es war vorbei. Ein künstliches Kniegelenk? Das kam nicht in Frage. Carlo hatte Respekt vor dem Herrgott, vor den Bergen und vor Benedetta. Aber Angst – Angst hatte er vor dem Zahnarzt, dem Doktor und dem Krankenhaus.
Hinauf würde er es schaffen. Hinunter nicht. Es war vorbei.
Carlo machte es sich auf der Liege bequem, nahm die Sonnenbrille ab und schloss die Augen.
Er sah diese beiden Damen vor sich. Eine hatte braune, leicht gewellte Haare und grosse, dunkelbraune Augen. Wenn sie lachte, bekam sie ein Grübchen in ihrer rechten Wange. Sie war Fotografin und machte eine Reportage über die zweite Frau, wie sie den Piz Bernina eroberte. Eine zierliche Blondine mit hellgrünen Augen, die auf den ersten Blick etwas giftig wirkten.
Beide hatte er sie an seinem Seil. Er war ihr Bergführer. Die Frauen vertrauten ihm. Und er hatte alles im Griff. Die Sonne ging auf. Was für ein Schauspiel. Die Brünette fotografierte immer wieder die Blondine. Diese wollte auch unbedingt ein Selfie und ein Gruppenfoto machen. So stand er also mit den beiden Frauen Arm in Arm kurz vor Beginn des Biancograts, diesem weltbekannten, geschwungenen Firngrat aus Schnee und Eis, und hielt die beiden Damen in seinen Armen, schaute ins Handy, lächelte und liess seine weissen Zähne blitzen.
Dann drängte er darauf weiterzugehen. Unter ihnen kam bereits die nächste Seilschaft. Diese machte ihm aber keine Sorgen. Eher die Wolken am Südhimmel. Die Wetterprognosen waren zwar nicht schlecht, doch diese Wolken gefielen ihm nicht. Ganz und gar nicht, denn sie zogen über den Bernina hinweg Richtung Norden. Eine alte, rätoromanische Wetterregel besagte: «Cur cha’l nüvel vo vers Vuclina, schi mett’il chapè sün pigna; cur cha’l nüvel vo vers Tavo, schi mett’il chapè sül cho. – Zieht die Wolke gegen Veltlin, dann lass den Hut auf dem Ofen liegen; zieht die Wolke gegen Davos, dann setz den Hut auf den Kopf.» Gut möglich also, dass ein Sturm aufzog.
Carlo kannte die beiden Frauen nicht. Er wusste nur, dass die eine Reporterin war, die andere irgendeine Prominente. Nichts Aussergewöhnliches. Er hatte schon etliche Touren mit Fotoreportern gemacht. Auch mit Prominenten. Die Hintergründe dieser Menschen interessierten ihn nicht. Seine Aufgabe war es, sie sicher auf den Gipfel und ins Tal zurückzubringen. Ein ganz normaler Job. Aussergewöhnlich war lediglich, dass kein Mann dabei war. Wenn Benedetta das wüsste! Dass er mit zwei jungen Frauen unterwegs war, nein, das hatte er natürlich nicht gesagt. Offiziell war er mit einer Gruppe unterwegs. Zwei Personen waren eine Gruppe. Er hatte nicht gelogen.
Die Frauen schwächelten. Das spürte er. Er müsste Eisschrauben anbringen und so seine Seilschaft sichern. Unbedingt. Rechts und links des Grats gab es nur Abgründe. Tödliche Abgründe. Die Wolken kamen sehr schnell näher. Carlo und die Frauen mussten sich wirklich beeilen. Denn der Abstieg über den Spallagrat würde nicht einfach sein. Und einen Sturm konnte er jetzt nicht gebrauchen. Also Schritt für Schritt weiter. Blick zurück. Alles schien in Ordnung zu sein. Doch sie kamen nur langsam voran. Zu langsam. Die untere Seilschaft näherte sich schnell. Und überholte.
War das nicht Benedetta, die da an ihm vorbeiging? Benedetta schaute ihn gar nicht an. Sie hielt nur ihren Rosenkranz in der Hand.
Ein weiterer Blick zurück. Die beiden Frauen, für die er verantwortlich war, stiegen langsam zu ihm hoch. Schritt für Schritt. Stetig vorwärts. Weiter. Wieder ein kurzer Kontrollblick nach hinten …
Carlo zuckte zusammen.
Die beiden Frauen waren nicht mehr da. Er zog nur das lose Seil hinter sich her.
Die Frauen waren einfach nicht mehr da.
Er schreckte auf. Die Sonne blendete. Wo war er?
«Carlo, willst du nicht nach Hause gehen?»
Er öffnete die Augen und schaute in das rundliche Gesicht der polnischen Serviceangestellten des Berggasthauses Diavolezza, mit der er immer ein bisschen flirtete. «Wie spät ist es?», fragte Carlo mit seiner rauen, etwas krächzenden Stimme.
«Du hast geträumt, mein Lieber», sagte die Polin mit ihrem charmanten Akzent und strich ihm sanft über die weissen Haare. «Die letzte Seilbahn fährt bald.»
Carlo fiel ein Stein vom Herzen. Er hatte nur geträumt.
Würde er eine solch schwierige Bergtour noch einmal schaffen?
Vielleicht. Aber die Frage stellte sich nicht mehr. Sie war durch diesen Albtraum gerade beantwortet worden. Der Herrgott hatte sie für Carlo beantwortet.