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Die Mail an Nellie war nun schnell geschrieben. Sie tat das Richtige. Davon war Selma überzeugt, auch wenn die Reaktion ihrer Mutter etwas seltsam war. Seit jenen Tagen in Engelberg, als Selma, Elin und Charlotte die lebenslustige Nellie kennengelernt und sich versprochen hatten, die familiäre Vergangenheit aufzuarbeiten, war nicht viel passiert. Selma bekam regelmässig Nachrichten von Nellie, schrieb ihr auch zurück, aber meistens nur sehr oberflächlich. Charlotte hatte einmal mit Arvid Bengt telefoniert, sich danach aber nie mehr gemeldet. Und Elins Fragen nach dem Stand der Dinge kamen bei den beiden anderen Legrand-Hedlund-Frauen nicht gut an. Selma und Charlotte verhielten sich so, als könnte diese Geschichte durch Nichtbeachtung aus der Welt geschafft werden. Ein Muster, das in der Familie Tradition hatte.

Doch jetzt war Selma froh, dass ihre Nichte nicht lockergelassen hatte. Und sie war Marcel und Lea dankbar für ihre klaren Worte. Und ein bisschen stolz war sie auch auf sich selbst.

Keine Viertelstunde, nachdem Selma die Mail geschickt hatte, antwortete Nellie bereits. Sie würde sich sehr freuen, Selma und ihre Familie anfangs August endlich wiederzusehen. Sie würde gleich die Flüge buchen und ein Hotel reservieren. Selma schrieb zurück, dass sie sich nicht um ein Hotel bemühen müsste. Sie würde das organisieren.

Selma öffnete den Kalender in ihrem Smartphone und sah, dass auch Marcel zu dieser Zeit Ferien hätte. Das war gut. Das war sogar sehr gut. Selma und Marcel hatten sich vorgenommen, einige Tage gemeinsam und einige Tage getrennt zu verbringen. Warum eigentlich?, fragte sich Selma gerade. Weil sie es so gewollt hatte? Ja, so war es. Nun war sie aber froh, dass weder sie noch Marcel konkrete Ferienpläne hatten.

Selma hatte in dieser Zeit auch keine Aufträge. Der ganze Sommer war mau. Einige Werbeshootings gab es. Aber Selma hatte Lust, endlich wieder eine grosse Reportage zu machen. Doch die Verlage waren zurückhaltend mit der Auftragsvergabe. Waren Naturreportagen aus der Mode gekommen? Müsste sie sich wieder mehr auf Menschen konzentrieren?

Auf Menschen, die heiraten! Selma ärgerte sich erneut über den Auftrag, den ihr Jonas Haberer, ihr Hauptauftraggeber in Bern, zuschanzen wollte. Wie konnte er nur! Hatte er trotz seines politischen Netzwerks in der Schweizer Hauptstadt keine besseren Aufträge zur Hand?

Sie rief ihn gleich nochmals an.

«Selmeli!», schrie Jonas Haberer. «Ich wusste es. Du machst die Hochzeit. Weil bei dir sicher auch bald die Hochzeitsglocken bimmeln. Zwar bin nicht ich der Glückliche, aber …»

«Jonas!», unterbrach Selma. «Vergiss die Hochzeit. Kannst du mir wirklich nichts Besseres anbieten? Eine Reportage?»

«Nein. Tote Hose. Bei mir selbst sieht es schlecht aus. Wenn es so weitergeht, muss ich das Bier in der Ping-Pong-Bar anschreiben lassen.»

«Du willst nicht behaupten, dass du immer noch in dieser Spelunke in der Berner Matte verkehrst?»

«Nein, ich verkehre nicht, ich wohne mittlerweile dort», sagte Haberer und lachte kurz. «Ach, Selmeli», fuhr er fort, «all die Krisen, Nöte und Ängste auf der Welt. Es beelendet mich. Schliesslich kann ich nicht die ganze Welt retten.»

«Du hast also keinen Job für mich?», fragte sie nochmals.

«Selmeli, ich kann dir nicht helfen», sagte er mit weinerlicher Stimme. «Ich hoffe, du und deine Frau Maman müssen nicht am Hungertuch nagen. Da hat man es zu Reichtum und Ansehen gebracht, dann passiert irgendetwas auf der Welt, die Menschheit gerät durcheinander, man stürzt aus dem Hochadel ab, lebt plötzlich unter der Brücke und muss in einer Kloake baden. Wie ist die Welt doch unge…»

«Jonas, es reicht!», ging Selma genervt dazwischen. Sie mochte es nicht, wenn sich jemand darüber lustig machte, dass sie aus besserem Hause stammte und deswegen nicht unmittelbar mit Geldsorgen konfrontiert war. Gereizt sagte sie: «Ich komme für meinen Lebensunterhalt selbst auf.»

«Ach, Selmeli, so war es doch nicht gemeint. Ich dachte wirklich, ich könnte dich für eine schöne Hochzeitsreportage begeistern. Endlich wieder etwas Positives, etwas Schönes und Freudiges. Und dann erst noch im Engadin, in St. Moritz.»

«Engadin», sinnierte Selma leise.

«Ja, im Engadin, habe ich das nicht erwähnt? Eine magische Gegend», säuselte Jonas. «Die magischste Gegend der ganzen Welt. Deshalb kam ich ganz spontan auf dich. Ich dachte, vielleicht erledigst du diesen Job inklusive toller Bergwanderung mit dem Brautpaar, bleibst ein paar Tage länger und fotografierst diese wunderschöne Landschaft. Du könntest sogar die Staffelei mitnehmen und malen. Wie der grosse Giovanni Segantini selig. Vielleicht bekommst du dann auch ein eigenes Museum.»

«Du scheinst dich mittlerweile gut in der Kunstwelt auszukennen.»

«Dein riesiges Gemälde hängt über meinem Bett, Selmeli, seither schlafe ich wie ein Murmeltier und habe ein Sexleben wie Dschingis Khan.»

Selma musste schallend lachen. Dann meinte sie: «Es freut mich, dass du mein Bild von der Alp im Saanenland gekauft hast, mein Lieber. Aber dein Gesäusel ist übertrieben. Wo ist der Haken bei dieser Hochzeit?»

«Es gibt keinen. Mal abgesehen von einer kleinen Wanderung, die das Brautpaar unternehmen will. Ein bisschen Abenteuer. Kein Problem für dich.»

«Abenteuer? Aha. Und von wem hast du den Auftrag?»

«Von Chasper, meinem Politikerfreund aus dem Bündnerland. Ein lieber Kerl, aber politisch absolut talentfrei.» Haberer lachte laut, hustete und sagte schliesslich: «Er ist übrigens ganz begeistert von deinen Wolfsreportagen.»

«Jetzt lügst du, mein Lieber. Also nochmals, wo ist der Haken?»

«Selma, es gibt keinen.»

Selma überlegte. Nein, sie fantasierte bereits, sah wunderschöne Landschaftsfotografien vor sich. Stellte sich vor, wie sie in einem Arvenwald sass und Bäume malte.

«Selma?»

«Ja?»

«Selma, die Braut will wirklich dich. Nur dich. Ihr haben die verrückten Skibilder aus Engelberg so gut gefallen. Und dass du lawinen- und gletschertauglich bist. Und erst die Wolfsbilder. Sie ist begeistert von dir.»

«Habilein, du bist furchtbar.»

«Ich weiss. Also, was ist?»

«Wann soll die Hochzeit stattfinden?»

«Im August. Dort oben im Engadin ist es auch nicht so mörderisch heiss.»

«Im August, okay», sagte Selma und vergass, dass Nellie und ihre Familie ebenfalls im August in die Schweiz reisen wollten. «Und wie lauten die Konditionen?»

«Selmeli, du geldgieriges Mädchen», sagte Haberer frohlockend. «Wir machen einen Fixpreis. Fünfstellig im mittleren Bereich. Okay?»

«Fünfstellig im mittleren Bereich?», fragte Selma erstaunt nach. Das kam ihr doch etwas sehr hoch vor.

«Logisch! Plus ein paar Extras, die ich für dich raushaue. Du siehst es dann im Vertrag.»

Selma musste schlucken.

«Mäuschen, Myysli?»

«Bin noch da. Wo war der Haken nochmal?»

«Kein Haken. Also, was ist?»

«Ich überlege es mir.»

«Selmeli! Was ist los mit dir? Ich schicke dir den Vertrag per Mail, du unterschreibst, schickst ihn mir sofort zurück und alles ist gut. Musst mich nicht mal besuchen. Na los, ich habe Durst und brauche ein Bier. Und einen Wodka!»

«Wozu brauchen wir einen Vertrag?»

«In diesem Vertrag geht es neben dem Honorar um eine Verschwiegenheitsklausel.»

«Verschwiegenheitsklausel?»

«Genau. Weil das Management des Brautpaars es so will. Die Fotos sollen nicht an die Öffentlichkeit. Völlig normal bei stinkreichen Leuten.»

«Aha …»

«Selma, was ist los? Hat dich der alte Haberer schon mal verarscht?»

«Ja, zum Beispiel, als du mich …»

«Papperlapapp», sagte Haberer nur.

Doch, er hatte Selma schon mehrmals verarscht. Hatte sie tagelang über einen vermeintlichen Politskandal recherchieren lassen, von dem er genau wusste, dass nichts dran war. Hatte sie zu einem «organisierten» Fototermin mit einem Prominenten geschickt, der sich als Paparazziauftrag entpuppte – Selma musste tage- und nächtelang in Gstaad in einem Auto vor einem Chalet warten, bis sich der Hollywoodstar endlich kurz zeigte. Schliesslich hatte er sie für eine Reportage in ein Krisengebiet geschickt, die Geschichte aber nie veröffentlicht, weil er sie «langweilig» fand. Aber das war alles lange her.

«Deal? Selma, beim Augenlicht meiner verstorbenen Mutter, ich brauche dich.»

«Blödmann. Also: St. Moritz, Hochzeit, Kapelle, Bergwanderung, ein bisschen Abenteuer, Verschwiegenheit, gutes Honorar?»

«Ich hätte es nicht besser zusammenfassen können.»

«Okay.»

«Selmeli, ich liebe dich. Ich liebe dich.» Weg war er.

Selma zweifelte. Irgendetwas stimmte da nicht.

Gipfelkuss

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